(Rom) Nach 300 Jahren zeigt sich die Scala Santa, die Heilige Treppe in Rom, erstmals wieder in ihrer ursprünglichen Form. Die schützenden Holzverkleidungen, 1723 angebracht, wurden für 60 Tage entfernt. In dieser Zeit, vom 11. April bis zum Pfingstfest am 9. Juni, können die Pilger die Heilige Treppe auf den Knien direkt auf dem Marmor besteigen, über den Jesus Christus, der Überlieferung nach, im Pilatuspalast in Jerusalem am Tag seiner Kreuzigung mehrfach gegangen ist. Wem eine Rom-Reise in dieser Zeit möglich ist, sollte die Gelegenheit zum Anlaß nehmen.
Die Marmortreppe wurde von der heiligen Helena, der Mutter von Kaiser Konstantin dem Großen, im Jahr 326 nach Rom gebracht. Dort führten die 28 Stufen einst zum Lateranpalast hinauf, in dem die Päpste bis zum Avignoner Exil im 14. Jahrhundert residierten.
Der einstige, ausgedehnte Papstpalast war durch das Exil und den darauf folgenden Umzug in den Vatikan, aber auch durch Natureinflüsse, stark baufällig geworden. Er wurde großteils abgetragen und an seiner Stelle 1589 ein neuer, kleinerer Palast errichtet. Reste des ursprünglichen, aus der Antike und dem Mittelalter stammenden Palastes sind noch darin erhalten. Einen dieser ältesten Teile bildet die päpstliche Kapelle Sancta Sanctorum. Zu ihr führt die Heilige Treppe hinauf.
Da die Scala Santa seit alters nur auf den Knien erklommen werden kann, befinden sich zu ihren Seiten jeweils zwei weitere, also insgesamt noch vier Treppen, die den Zugang zum einstigen Palast bzw. zur Sancta Sanctorum ermöglichen. Die Kapelle heißt offiziell Capella Sancti Laurentii in Palatio quae Sancta Sanctorum dicitur. Sie ist dem heiligen Laurentius geweiht, der 258 unter Kaiser Valerian das Martyrium erlitt.
Die geläufigere Bezeichnung für die Papstkapelle als Sancta Sanctorum, „die Allerheiligste“, bezieht sich auf den Reliquienschatz, der darin aufbewahrt wird, an dessen erster Stelle die Salvator-Ikone steht. Wörtlich heißt sie im Plural Kapelle der heiligsten unter den heiligen Dingen. Gemeint ist die ursprüngliche Vielzahl von Reliquien, die sich hier befand. Papst Johannes X., er regierte von 915–928, ließ deshalb die noch heute sichtbare Inschrift anbringen:
„Non est in toto sanctior orbe locus“.
„Kein Ort ist heiliger auf dem ganzen Erdkreis als dieser.“
Die Salvator-Ikone ist ein fast lebensgroßes Christusbild, das sich auf dem Altar befindet. Christus ist auf einem Thron sitzend dargestellt. Ursprünglich wurde es zur Verehrung und zum Schutz mit Tüchern bedeckt. Teilweise war die Darstellung darauf abgebildet, um nicht die Originalreliquie exponieren zu müssen. Papst Innozenz III. (1198–1216) ließ die Ikone mit einer großen Silberplatte und kostbaren Edelsteinen bedecken. So zeigt sie sich auch heute noch. Nur das Gesicht ist seither zu sehen. Über den Wundmalen sind in der Silberplatte kleine Platten eingelassen, die geöffnet werden können.
Die erste überlieferte Nachricht der Ikone stammt aus dem Liber Pontificalis über das Leben von Papst Stephanus II. (752–757). Auf ihn geht die Pippinische Schenkung zurück, mit der Pippin III., der erste karolingische Frankenkönig, dem Papst den Besitz des Kirchenstaates bestätigte. Dieser ging zwar nicht auf eine Schenkung Konstantins (Konstantinische Schenkung) zurück, war den Päpsten aber aus dem zusammenbrechenden byzantinischen Erbe im Laufe der Zeit regelrecht zugefallen, weil sie die einzige Autorität waren, die für die Kaiser und schließlich anstelle der Kaiser Ostroms eine staatstragende Funktion wahrnehmen und die Rechtsordnung aufrechterhalten konnten. Die sogenannte „Konstantinische Schenkung“ war zwar eine Fälschung, wahrscheinlich der Kanzlei dieses Papstes. Falsch war aber nicht, was damit ausgesagt wurde, nämlich, daß die Päpste die weltliche Autorität im Patrimonium Petri innehatten. Mit der Fälschung sollte offenbar der Mangel eines schriftlichen Rechtsaktes beseitigt werden. Falsch ist daher die von Kirchenfeinden gerne wiederholte Behauptung, die Kirche habe sich den Besitz des Kirchenstaates betrügerisch erschlichen. Pippin III. bestätigte mit seiner Schenkung nur, was ohnehin ein Faktum war. Die „Schwarze Legende“ einer betrügerischen Kirche würde voraussetzen, daß der Frankenkönig und Vater Karls des Großen ein tumber Ignorant gewesen sei. Nichts dergleichen war er, weshalb der mächtige Herrscher auch mitnichten „Opfer“ einer plumpen Fälschung irgendwelcher Kleriker wurde.
Wie aus der Vita von Papst Stephanus II. hervorgeht, muß sich die Ikone damals bereits seit langer Zeit in Rom befunden und außergewöhnliche Verehrung genossen haben, denn dieser Papst – so der älteste, bekannte Hinweis – trug sie 753 in Prozession durch Rom, um einen Angriff der Langobarden abzuwenden. Sie wird als Acheiropoieton angesehen, als eine nicht von Menschenhand gemachte Darstellung. Der Evangelist Lukas habe sie zu malen begonnen, sei aber nicht damit fertig geworden. Engel hätten sie dann vollendet.
Die Frage nach der genauen Herkunft und der Entstehungszeit der Ikone läßt sich mangels Dokumenten und genauer Untersuchungen nicht beantworten. Die frühe, hohe Verehrung und die Bezeichnung legen zumindest nahe, daß sie nach dem wahren Antlitz Jesu gemalt wurde. Auch eine solche von Menschenhand gemachte Darstellung wurde Acheiropoieton genannt, weil sich diese Bezeichnung nicht auf die Herstellung bezog, sondern auf das Dargestellte. Dargestellt wurde das wahre Antlitz Jesu, das authentische Urbild des auferstandenen Christus. Nur eine gründliche, wissenschaftliche Untersuchung könnte bis zum ursprünglichen Bild vordringen, das wohl bei den verschiedenen Restaurierungen überdeckt wurde, wie die sichtbare Gesichtsdarstellung veranschaulicht.
Der schlesische Priester und Archäologe Joseph Wilpert, der Kaplan am Campo Santo Teutonico, einer der beiden deutschen Nationalstiftungen in Rom war, schrieb nach Untersuchungen, die er 1907 durchführen konnte:
„In sehr frischen Farben und in bester Ausführung war der Heiland auf einem reichen, mit Edelsteinen besetzten Thron sitzend dargestellt gewesen, eine Rolle in der gestützten Linken und die Rechte vor der Brust zum Sprechen erhoben. Das Haupt war von einem Nimbus mit Kreuz umgeben, ein Umstand der zeigt, daß das Gemälde nach der Mitte des 5. Jahrhunderts entstanden ist.“
Bei den derzeit von den Vatikanischen Museen an der Heiligen Treppe durchgeführten Renovierungsarbeiten wurden im Marmor die Markierungen in Kreuzesform wiederentdeckt, die direkt mit der Passion Christi in Verbindung gebracht werden. Der Marmor unter der Holzverkleidung wurde gereinigt, von Erde und Ablagerungen befreit und erstrahlt wieder in prächtigem Glanz. An der zweiten und der elften Stufe wurden in den Marmor eingelassene Kreuze aus rotem Porphyr gefunden. Wegen seiner purpurnen Farbe galt der rote Porphyr in der Antike als Farbe des Kaisers, der höchsten Autorität. Entsprechend ging sie auf Christus und seinen Stellvertreter auf Erden über. Daher trägt der Papst – das derzeit regierenden Kirchenoberhaupt ausgenommen – rote Schuhe.
Die elfte Stufe ist am stärksten abgenutzt. Hier soll der Herr gestürzt sein und dort, wo er mit dem Knie aufkam, den Marmor gesprengt haben. Die Stelle wurde durch sein Blut gekennzeichnet und später durch ein Gitter abgesichert.
Ein drittes Kreuz, dieses ist aus Bronze, ist in die letzte Stufe eingefügt.
Bereits zuvor waren die Wandfresken restauriert worden, die auf gut 2.500 Quadratmetern die Heilige Treppe säumen und überwölben. Papst Sixtus V. ließ sie im 16. Jahrhundert anbringen. Er stellte im neuen Palast die Heilige Treppe und das „heiligste Bild“ des Herrn, wie es zu Papst Stephanus II. für 753 im Liber Pontificalis heißt, räumlich in einen direkten Zusammenhang und schuf damit in unmittelbarer Nähe zur Lateranbasilika ein einzigartiges Heiligtum.
Mit dem Besuch ist zu den üblichen Bedingungen (sakramentale Beichte, fester Vorsatz zur Abkehr von jeder Sünde, Kommunionempfang, Gebet nach der Meinung des Papstes) ein vollkommener Ablaß (Indulgenza plenaria perpetua) verbunden, was in früheren Zeiten eine ausgesprochene Seltenheit war. Er gilt nicht dem knienden Besteigen der Heiligen Treppe, sondern dem Besuch der „allerheiligsten“ Kapelle. Um den Besuch aber in der nötigen Bußhaltung zu erleichtern, wurde daran der kniende Aufstieg gekoppelt. Es sind damit keine besonderen Gebete verbunden. Die Betrachtung der Passion Christi wird empfohlen, eventuell ein Vaterunser oder ein Ave Maria je Stufe. Es gibt auch eigene, kurz formulierte, die Leiden des Herrn betrachtende Gebete. Solche finden sich in deutscher Sprache beispielsweise im Rom-Führer „Heiliges Rom – Auf den Spuren der Apostelfürsten Petrus und Paulus“ von Pater Martin Ramm FSSP. Von alters werden die Gläubigen angehalten, nicht zu lange zu verharren, um die nachfolgenden Pilger nicht zu behindern.
Da es sich um die Hauskapelle des Papstes handelte, in der nur er zelebrieren durfte, war der Zugang zur Kapelle selbst ursprünglich wahrscheinlich nur Klerikern erlaubt. Frauen („in qua mulieres non intrant“) und wohl insgesamt Laien war nur der Blick durch große, vergitterte Öffnungen gestattet. Von dort war der direkte Anblick des Papstaltares mit der Salvator-Ikone möglich.
Wer heute die heilige Treppe bewältigt, dem öffnet sich genau derselbe Blick durch die vergitterten Öffnungen. Heute kann die Kapelle allerdings zusätzlich auch durch eine mit „schweren, eisernen Riegeln“ gesicherte Tür betreten werden, die ein deutscher Rom-Reisender 1832 zu seinem Bedauern verschlossen fand. Während die Heilige Treppe allen frei zugänglich ist, muß für den Besuch der Sancta Sanctorum am Eingang zum Gesamtheiligtum um eine vergleichsweise bescheidene Summe von Euro 3,50 eine Eintrittskarte gelöst werden.
Überraschend für die meisten Betrachter werden an der „enthüllten“ Treppe die Abnutzungserscheinungen sein. Millionen von Gläubigen, von denen im Laufe der Jahrhunderte die Treppe im Gedenken an die Passion Christi erklommen wurde, haben tiefe Furchen an den Trittflächen hinterlassen.
Derzeit nützen täglich Tausende von Pilgern die „außerordentliche Gelegenheit, die gleichen Stufen zu berühren wie Jesus und den von vielen Menschen vor uns bezeugten Glauben zu sehen“, so der Passionistenpater Francesco Guerra, der Rektor des Päpstlichen Heiligtums der Heiligen Treppe ist. Pater Guerra schilderte die starken Emotionen, die alle Beteiligten empfanden, als die Schutzverkleidungen aus Holz entfernt wurden. „Zu unserem Erstaunen, wiesen alle Stufen starke Abnutzungserscheinungen auf, ausgenommen die letzte.“ Dies erklärt sich dadurch, daß die Pilger sich mit den Fingern abstützten und damit den Marmor ganz langsam abtrugen. Auf der Trittfläche der obersten Stufe fehlt diese furchenähnliche Vertiefung, weil dort ein Abstützen nicht mehr notwendig war.
Pater Guerra erinnert daran, wie wichtig es für die Gläubigen aller Zeiten war, „den Ort berühren zu können, über den Jesus gegangen ist. Es ist eine Art, Gott zu berühren. Indem die 28 Stufen auf den Knien erklommen werden, treten die Gläubigen in Kontakt mit dem physischen, mehr noch aber mit dem moralischen Schmerz, der zermürbt“ und erst wirklich vorbereitet auf die Begegnung mit Christus.
Dreimal bezeugte Pilatus hier gegenüber den Anklägern aus dem Sanhedrin, daß er an Jesus keine Schuld finden könne. Um die aufgebrachte jüdische Elite und den aufgewiegelten Mob zufriedenzustellen, die eine sofortige Hinrichtung Jesu forderten, verhängte der Statthalter Roms dennoch die Todesstrafe.
Die Restaurierung der gesamten Anlage war von den Passionisten bereits in den 90er Jahren beschlossen worden. Ihnen hatte Papst Pius IX. im 19. Jahrhundert das Heiligtum anvertraut. In den vergangenen zwei Jahren galten die Renovierungsarbeiten direkt der Heiligen Treppe.
Für 46 Tage ist die Scala Santa noch unverhüllt in ihrer ursprünglichen Form sichtbar und zugänglich.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Giuseppe Nardi