Vor 45 Jahren verstarb in der französischen Benediktinerabtei Solesmes Dom Joseph Gajard OSB.
Geboren in 1885 in Sonzay im Département Indre et Loire (Zentralfrankreich) in einer frommen, katholischen und kinderreichen Familie, begabt mit einer schönen Singstimme, sehr musikalisch und sehr intelligent, besuchte er das lokale bischöfliche Kolleg und trat in das Priesterseminar ein.
Wie wichtig die harmonische und katholisch gelebte Familie war, erkennt man nicht zuletzt daran, daß zwei seiner Brüder ebenfalls in den geistlichen Stand eintraten. Sein Leben lang erinnerte sich Dom Gajard, daß seine Mutter die schönste Sopranstimme besaß, die er je gehört hatte. Sie sang dabei nur zu Hause und in der Kirche.
Nach einem Jahr im Priesterseminar trat Joseph Gajard in die Benediktinerabtei Saint-Pierre in Solesmes ein zu einer Zeit, in der die Orden sehr starken Bedrängungen durch den laizistischen französischen Staat ausgesetzt waren. Seine Profeß legte er am 15. August 1911 ab.
Die Abtei Solesmes war zu diesem Zeitpunkt der zentrale Hort für das Studium und die Praxis des Gregorianischen Chorals, der in den Jahren davor durch den heiligen Papst Pius X. u.a. mit dem Motu proprio Tra le sollicitudine speziell unterstützt wurde.
Dom Gajard wurde fast sofort Assistent von Dom André Moquereau OSB, Leiter der Abteilung Gregorianik und großer Musikwissenschaftler, besonders was die Theorie der Gregorianik betraf.
1914, 29 Jahre alt, wurde Dom Gajard Chormeister der Schola in Solesmes, die damals aus fünf Sängern bestand, und führte diese alsbald zu Höchstleistungen.
Kennzeichnend für Dom Gajard war seine tiefste Verknüpfung der Liturgie mit der Choralmelodie, das Primat des Textes, der atmende Gesang und sein Respekt für die Tradition.
Er war sehr didaktisch und organisatorisch begabt und unterrichtete die Gregorianik in unzählbaren Kursen und Vorträgen. So brachte er sie in Frankreich zur größten Blüte und half wesentlich mit, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg erschütterten französische Katholizität zu stabilisieren und wieder aufblühen zu lassen.
Wesentlich waren dabei die über 30 Schallplatten mit gregorianischem Choral, die er aufnehmen ließ, erst als „La voix de son Maître“ (Die Stimme seines Meisters) bei der Plattenfirma Victor, ab 1951 dann bei Decca mit gewaltiger Resonanz beim Publikum.
Ab 1930 war Dom Gajard verantwortlich für die Paléographie musicale (Textausgaben von alten Musikhandschriften), ab 1946 für die Revue Grégorienne (Allgemeine Zeitschrift für Gregorianischen Gesang im Alltag) und ab 1954 auch für die Études Grégoriennes (Spezialzeitschrift für Gregorianische Studien).
Die revolutionären Bestrebungen in kirchlichen Milieus, und nicht zuletzt auch im Klerus, waren Dom Gajard nicht verborgen geblieben.
Gut vernetzt in der katholischen Welt, im Benediktinerorden und mit guten Verbindungen nach Rom, nahm er unheildrohende Tendenzen in der Kirche wahr.
1955 erschien in der kirchenmusikalischen Zeitschrift der USA Cecilia ein Artikel aus seiner Feder, ein Brief an die zuständige Kongregation in Rom, in dem er mit sehr viel Nachdruck vor etwaigen Veränderungen an den liturgischen Texten und an der Liturgie im Allgemeinen warnte und die nicht absehbaren Folgen davon skizzierte.
Selten wurde ein so weitsichtiger Artikel geschrieben, breit publiziert, bestritten, aber durch den weiteren desaströsen Verlauf über Jahrzehnte bestätigt wie dieser.
Kennzeichnend für das schlechte Gewissen des kirchlichen Establishments und seine Betroffenheit ist, daß dieser Brief mehr als fünfzig Jahre konsequent negiert wurde. Erst vor wenigen Jahren wurde er entdeckt und erneut publiziert (im Web auf ccwatershed.org).
Dann kam das Zweite Vatikanische Konzil.
1963 wurde als einer der ersten Texte Sacrosanctum Concilium publiziert u.a. mit einer speziellen Würdigung des Gregorianischen Chorals und einer Hervorhebung des Lateins als fundamentaler liturgischer Sprache (sic).
Innerhalb der darauffolgenden zwei Jahre wurde dann trotz gut fundierter und breiter Proteste die Liturgie in der Volkssprache durchgeboxt und die Gregorianik der Demolierung preisgegeben.
Solesmes ging 1966 zu neuen liturgischen Formen und zur Volkssprache über und zwang auch die Töchterabteien und andere Klöster dazu.
1967 kehrte die größte Tochterabtei Fontgombault nach einem Jahr des Sich-Quälens und des Herumprobierens mit neuen Texten und krummen Melodien wieder zur alten Liturgie mit dem Gesangsstil von Dom Gajard zurück. Sie wurde dafür vom kirchlichen Establishment beschimpft, bedroht und mit Isolierung und Herabstufung zur Paria bestraft.
1968 wurde in Solesmes das Graduel Neumé von Dom Eugène Cardine OSB aus Rom eingeführt.
Dom Cardine, Mönch von Solesmes, Spezialist für die alte Neumennotation gregorianischer Handschriften (kleine Striche, Pünktchen und Häkchen aus dem 11. und 12. Jahrhundert mit wahrscheinlich rhythmischer Bedeutung), hatte in vielen Jahren des Studiums und der Dozentur in Rom viele der gregorianischen Gesänge für die Heilige Messe verglichen und mit den bekannten Neumen versehen.
Einerseits leistete er damit eine quasi archäologische Arbeit, anderseits erwarteten sich viele Personen eine Neugestaltung der Musik und mehr noch der liturgischen Wirkung und des Glaubenslebens.
Ab 1967 brach die Gregorianik in der Liturgie weltweit fast komplett zusammen.
1971 wurde Dom Gajard als Leiter der Schola von Solesmes abgelöst durch Dom Jean Claire (1920–2006). In dessen Nachruf hieß es 2006 dazu:
„Dom Gajard war sicher eine gregorianische Koryphäe, aber sein hohes Alter erlaubte ihm nicht mehr, sich wie erwünscht für die Schola einzusetzen. Die Schola hatte noch immer einen guten Ruf, der aber auf die guten Stimmen zurückging“.
Noch 34 Jahre nach dem Tode von Dom Gajard wurde seine Amtsenthebung mit hämischem Nachtreten kommentiert.
1972 starb Dom Joseph Gajard in Solesmes, 87 Jahre alt, von denen er 68 Jahre dort als Mönch verbracht hatte und 57 Jahre als Chormeister der Schola Gregoriana.
Das französische Kirchenestablishment und die modern eingestellte kirchenmusikalische Welt haben, sehr undankbar, Dom Gajard fast völlig vergessen.
Noch trauriger: Seine eigene Abtei Solesmes erinnert sich kaum noch an ihn und jene ruhmreiche Zeit.
Epilog
Während in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Westen eine gewaltige Kulturrevolution durch die katholische Landschaft stürmt, überlebte die Tradition in kleinen Nischen.
Die Abtei Fontgombault pflegt den Gregorianischen Choral und singt noch heute nach den Vorgaben und dem Stil von Dom Gajard wie auch andere traditionelle Bewegungen.
Fontgombault erlebt ein kontinuierliches Wachstum und gründet Tochterabteien. Der gregorianische Gesang ist daran an erster Stelle beteiligt („… Man muß natürlich dazu sagen, daß sie formidabele Stimmen hatten...“). Viele CD’s wurden produziert, auch mit den in der modernen Kirche vernachlässigten Stundengebeten, Antiphonen und Marienhymnen.
Mit dem Motu proprio Ecclesia Dei Adflicta wurde Fontgombault mit seinen vielen Tochterabteien 1988 von Papst Johannes Paul II. wieder einigermaßen in der Kirche toleriert.
2016 übernahm Fontgombault die uralte Abtei von Wisques (bei St. Omer in Nordfrankreich), die aus Mangel an Berufungen von Auflösung bedroht war. Fontgombault trat damit an die Stelle von Solesmes, das inzwischen selbst schwer abgeschlankt und überaltetert ist.
Der Gregorianische Choral im alten Ritus wurde so auch in Wisques wieder eingeführt.
Die Tochterabtei Triors singt ebenfalls hervorragend. Sie hat sehr viele Stücke gesungen, welche auf ccwatershed.org in der Abteilung René Goupil Gregorian Chant veröffentlicht sind (Meßgesänge für das gesamte Kirchenjahr und die großen Feste).
Der gregorianische Gesangsstil von Dom Gajard dominiert inzwischen weltweit.
Auf Youtube findet sich die Plattenaufnahme von 1930 mit für damalige Zeiten erstaunlicher Klangaufnahmequalität: mehr als vierzig Minuten Hörgenuß und Evangelisierung pur – inzwischen über 457.000 Mal angeschaut. (Damit in einer Größenordnung mit der meistverbreiteten gregorianischen Aufnahme von den Mönchen von Silos, aus der Zeit von 1968–1971, mit über 3 Millionen).
Qualität verleugnet sich nie.
Besonders rührend ist die sehr lebendige Tradition von Dom Gajard in den USA:
als 1947 Schwester Benedicta (Soeur Benoît) von Frankreich (Abbaye de Jouars) in die USA zurückkehrte (mit nur einem Gebetbuch und 20$ in der Tasche), traf sie auf der Fähre freundliche Spender für ihre Abtei und den damaligen Abt von Solesmes, der ihr sein kontinuierliches Gebet und – richtig nüchtern-benediktinisch – die Hilfe seines Scholaleiters versprach.
Ab 1948 reiste Dom Gajard jedes Jahr für mehrere Wochen in die Abtei Regina Laudis in Connecticut und unterrichtete dort den gregorianischen Gesang.
Die Abtei wuchs kontinuierlich und blüht noch heute.
1970 überquerte Dom Gajard mit 85 Jahren (!) unter großen Strapazen zum letzten Mal den Atlantik.
Ab 1971 wurden dort die Gregorianikkurse von seinem Schüler Dr. Theodore Marier, mit sehr interessanten Filmaufnahmen und mit großer Resonanz bei den Sängerinnen, übernommen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die klangliche Seele des benediktinischen Mönchtums, das wie nichts anderes Westeuropa geprägt hat, nun gerade auf dem nordamerikanischen Kontinent blüht und gewürdigt wird; und daß die Erinnerung an Dom Gajard, zu Unrecht zu Hause vergessen, dort hochgehalten wird.
Recordare Virgo Mater
Text: Ferdinand Boischot
Bild: Wikicommons/Abtei Regina Laudis
Das Schwarzweißfoto zeigt Dom Joseph Gajard OSB mit Dr. Theodore Marier (1912–2001) in 1965.
Bemerkenswert in den Händen von Dom Gajard das Liber Usualis mit starken Gebrauchsspuren (1962 zum lezten Mal gedruckt).
Erst 2010 wurde in den USA von der De Ecclesiagemeinschaft The Canons of St. John Cantius (in Chicago) einen Facsimilé-Wiederdruck durchgeführt, in einem um ca. 1/3‑kleineren Format.
Trotzdem eine gewaltige Leistung.
Dr. Theodore Marier spendete übrigens die Rechte an seinem letzten, postüm erschienen Buch zum Gregorianischem Gesang an die Abtei Regina Laudis (noch immer lieferbar: A gregorian Chant Master Class).
R.I.P.