Sieben Phasen zur Diktatur

Michel Onfray und George Orwell in Coronazeiten


Onfray Orwell Theorie der Diktatur
Michel Onfrays „Theorie der Diktatur“, der George Orwells Roman „1984“ zugrundeliegt, wurde vor den staatlichen Coronamaßnahmen geschrieben. Gerade deshalb verdient diese Analyse besondere Aufmerksamkeit.

„Heu­te ver­lie­ren wir unse­re Frei­heit, doch wir erken­nen es nicht … Viel­leicht soll­ten wir, da Big Brot­her, die Anti­spra­che und die Psy­cho­po­li­zei unter uns sind, noch ein­mal 1984 lesen.“ 

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Mit die­ser Auf­for­de­rung beginnt der bekann­te ita­lie­ni­sche Jour­na­list Anto­nio Soc­ci sei­ne Gedan­ken zur aktu­el­len Situa­ti­on durch die Coro­na­maß­nah­men der Regie­run­gen. Dabei nimmt er das jüng­ste Buch von Michel Onfray zum Aus­gangs­punkt, um mit einem Plä­doy­er für einen „frei­en und nicht-kon­for­men“ Jour­na­lis­mus zu enden.
Onfrays Buch liegt noch nicht in deut­scher Über­set­zung vor und fand des­halb wenig Beach­tung im deut­schen Sprach­raum, wur­de aber von der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung und der Neu­en Zür­cher Zei­tung bespro­chen. Onfray schrieb sei­ne Ana­ly­se vor dem plötz­li­chen Auf­tre­ten des Coro­na­vi­rus, das die mei­sten Regie­run­gen zu bis­her für undenk­bar gehal­te­nen Restrik­tio­nen nütz­ten, von denen sie nicht mehr ablas­sen wol­len, obwohl der vira­le Höhe­punkt, wie leicht nach­prüf­bar ist, bereits im März über­schrit­ten wur­de und seit April fak­tisch nie­mand mehr erkenn­bar dar­an stirbt. Noch bedenk­li­cher ist, so Soc­ci und Onfray, daß die bis­her füh­ren­den, mei­nungs­bil­den­den Medi­en ihrem Auf­trag der aus­ge­wo­ge­nen Infor­ma­ti­on und des kri­ti­schen Hin­ter­fra­gens nicht nach­kom­men, son­dern fast durch­ge­hend eine ver­ord­ne­te, nicht zu hin­ter­fra­gen­de Ein­heits­mei­nung pro­pa­gie­ren. Dabei ver­langt eine gan­ze Fül­le von Fra­gen nach Ant­wor­ten. Wenn den­noch jemand hin­ter­fragt, wird er an den Pran­ger gestellt.

Die sieben Phasen von Georg Orwells „Theorie der Diktatur“

Von Anto­nio Socci

Wir sind in einer Zeit, in der die Glut einer Dis­kus­si­on über Mei­nungs- und Infor­ma­ti­ons­frei­heit ange­facht wird. Nicht nur in Euro­pa, sogar in den USA: Es genügt, das Mani­fest eini­ger (sehr ver­äng­stig­ter) Intel­lek­tu­el­ler gegen die neue poli­tisch kor­rek­te Inqui­si­ti­on zu lesen, die sich inzwi­schen sogar gegen den Prä­si­den­ten der USA richtet.

Sind wir auf dem Weg in eine „kon­trol­lier­te“ und stark ein­ge­schränk­te Freiheit? 

Es gibt sogar jene, die sagen, daß wir bereits in der Gesell­schaft von Orwells Big Brot­her ange­kom­men sind. Das schreibt – mit einer Fül­le von Argu­men­ten – nicht gera­de der Dümm­ste oder ein ver­schro­be­ner Kon­ser­va­ti­ver, son­dern ein Intel­lek­tu­el­ler, der seit Jah­ren einer der Stars der fran­zö­si­schen Gau­che ist und auch in den lin­ken Medi­en ande­rer Län­der ver­wöhnt wird: Michel Onfray.

Als Frei­den­ker stürzt Onfray vie­le der fort­schritt­li­chen Dog­men der „poli­ti­schen Kor­rekt­heit“ um, jener neu­en domi­nan­ten Reli­gi­on, die behaup­tet, unbe­streit­bar zu sein, und die mit Eifer exkom­mu­ni­ziert und mit dem Bann­fluch belegt. Onfray tut es mit der von ihm soeben neu­ge­grün­de­ten Zeit­schrift Front Popu­lai­re, um die sich nicht-lini­en­treue Den­ker von links und rechts sam­meln. Und er tut es mit Büchern wie der 2019, also noch vor dem Virus, ver­öf­fent­lich­ten Thé­o­rie de la dic­ta­tu­re (Theo­rie der Dik­ta­tur), die mit den Wor­ten beginnt:

„Ich betrach­te Geor­ge Orwells poli­ti­sches Den­ken als eines der größ­ten, das dem von Machia­vel­li in Il Prin­ci­pe entspricht.“

Onfrays The­se ist ein­fach und provokant:

„Der Roman 1984 bezieht sich oft auf den mar­xi­stisch-leni­ni­sti­schen Tota­li­ta­ris­mus“ und „eben­so oft auf den natio­nal­so­zia­li­sti­schen Tota­li­ta­ris­mus“, geht jedoch über den „Hori­zont die­ser Tota­li­ta­ris­men“ hin­aus und läßt „direkt an unse­re Zeit den­ken“, in der „eine neue Art von Tota­li­ta­ris­mus“ auf­tritt. Es mag über­trie­ben erschei­nen, weil wir uns im Grun­de genom­men frei füh­len, aber was wir in den zwei Mona­ten des Lock­down und seit­her erlebt haben, gab vie­len das Gefühl einer Orwell’schen Dystopie.

Han­delt es sich jetzt um einen Aus­nah­me­zu­stand, der sich nicht wie­der­holt? Oder – wie man­che glau­ben – nur um die „Gene­ral­pro­be“, bei der die kol­lek­ti­ve „Bereit­schaft“ gete­stet wird, sich der Frei­heit berau­ben zu lassen?

Am ver­nünf­tig­sten ist es, die Nor­ma­li­tät, die wir außer­halb des Aus­nah­me­zu­stands leben, kri­tisch zu betrach­ten. Das macht Onfray.

1984 ent­nimmt er „sie­ben Haupt­pha­sen“ einer „Theo­rie der Dik­ta­tur“, die er als sehr aktu­ell betrach­tet: Zer­stö­rung der Frei­heit, Ver­ar­mung der Spra­che, Abschaf­fung der Wahr­heit, Unter­drückung der Geschich­te, Leug­nung der Natur, Ver­brei­tung von Haß, Stre­ben nach dem Impe­ri­um. Die­se Ele­men­te, die Orwell in sei­nem Werk schil­dert, so Onfray, kön­nen wir auch in unse­rer Gegen­wart finden.

1. Phase: Zerstörung der Freiheit

Als erste The­se schil­dert er: „Die Frei­heit schrumpft wie Chag­rin-Haut. Wir sind eine Gesell­schaft, die Kon­trol­len aller Art unter­wor­fen ist. Eine Gesell­schaft, in der Spra­che, Anwe­sen­heit, Aus­druck, Den­ken, Ideen und Bewe­gun­gen voll­stän­dig ver­folgt und nach­voll­zieh­bar sind. Die gewon­ne­nen Infor­ma­tio­nen kön­nen ver­wen­det wer­den, um die Fall­ak­ten anzu­le­gen, die für das Gedan­ken­tri­bu­nal bestimmt sind.„
Und so ist es. Vie­le fügen der Liste auch die voll­stän­di­ge Kon­trol­le über unser Giro­kon­to hin­zu, ein­schließ­lich des Ver­suchs, das Bar­geld abzu­schaf­fen, und Geset­zen, die die Mei­nungs­frei­heit einschränken.

2. Phase: Verarmung der Sprache

Onfray fährt fort: „Zwei­te The­se: Der Angriff auf die Spra­che“. Die Poli­ti­sie­rung der Spra­che geht sogar so weit, Ver­bo­te für das Männ­li­che und Weib­li­che vor­zu­schrei­ben. Es gibt Sprach­ver­bo­te, die auch von den Medi­en ein­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Sie wer­den den Redak­tio­nen auf­ge­zwun­gen und von die­sen nach außen den Bür­gern wei­ter­ge­ge­ben und auf­er­legt. Vor allem aber ist die damit ver­bun­de­ne Ver­ar­mung der Spra­che durch Ste­reo­ty­pe, Kon­for­mis­men und Slo­gans das Grab des Denkens.

3. Phase: Abschaffung der Wahrheit

„Als neue und unüber­wind­li­che Wahr­heit wird eta­bliert, daß es kei­ne Wahr­hei­ten mehr gibt, son­dern nur mehr Sicht­wei­sen. Und wehe denen, die die neue Wahr­heit über die Nicht­exi­stenz der Wahr­heit ableh­nen! Die­ser Nihi­lis­mus der Wahr­heit ermög­licht es, jede Gewiss­heit aus dem Weg zu räu­men … Wenn es kei­ne Wahr­heit mehr gibt, son­dern nur mehr Sicht­wei­sen, dann wird alles mög­lich … Der Lüge steht dann eine gan­ze Pracht­stra­ße zur Verfügung.“

4. Phase: Unterdrückung der Geschichte

Die vier­te The­se von Onfray/​Orwell ist „die Instru­men­ta­li­sie­rung der Geschich­te“. Auf­grund der zahl­rei­chen Bei­spie­le dafür erüb­rigt es sich, die­se The­se näher erklä­ren zu müssen.

5. Phase: Leugnung der Natur

Fünf­te The­se: „Die Aus­lö­schung der Natur“, zum Bei­spiel mit der Gen­der-Theo­rie, die „postu­liert, daß wir weder männ­lich noch weib­lich gebo­ren wer­den, son­dern neu­tral sind, und daß wir nur auf­grund von Kul­tur, Zivi­li­sa­ti­on, Gesell­schaft und Indok­tri­na­ti­on von Ste­reo­ty­pen zu Jun­gen oder Mäd­chen wer­den“, wes­halb die­se „von der Schu­le abge­baut wer­den sollen“.

6. Phase: Verbreitung von Haß

Die sech­ste The­se, die Onfray/​Orwell ana­ly­sie­ren, ist „die Ermu­ti­gung des Has­ses“. Dazu schreibt der fran­zö­si­sche Autor: „Im Bereich der post­mo­der­nen Kul­tur rich­tet sich der Haß gegen jene, die nicht vor den offen­bar­ten Wahr­hei­ten der selbst­er­nann­ten fort­schritt­li­chen Reli­gi­on knien.“ Im gegen­wär­ti­gen Sturm des Has­ses, so Onfray iro­nisch, sei es also bes­ser, „unter dem soge­nann­ten pro­gres­si­ven Wind zu segeln, um davon zu pro­fi­tie­ren, als unter dem des Sou­ve­rä­nis­mus – um nur ein Bei­spiel zu nen­nen –, gegen den sich schran­ken­lo­ser Haß manifestiert“.

7. Phase: Streben nach dem Imperium

Die sieb­te The­se lau­tet: „Das Impe­ri­um ist auf dem Vor­marsch. Aber wel­ches Impe­ri­um ist das?“ Onfray fragt sich: „Das Ende der Natio­nen wur­de von den euro­päi­schen Maas­tricht-Akteu­ren gewünscht. Das Ver­schwin­den des letz­ten Rests der natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät Frank­reichs wur­de von einem Mit­glied der Prä­si­dent­schafts­mehr­heit als poli­ti­scher Hori­zont des Macro­nis­mus bezeich­net.“ Das gilt für die mei­sten euro­päi­schen Staa­ten genauso.

Das Merk­mal all die­ser Dog­men ist, daß sie mit dem Anspruch der Unbe­streit­bar­keit durch­ge­setzt wer­den sol­len. Allein die Tat­sa­che, sie kri­tisch zu ana­ly­sie­ren, stellt den Han­deln­den außer­halb des zivi­len „Kon­sen­ses“. Der gleich­ge­schal­te­te Chor der Medi­en beweist es.

Daher schreibt Onfray:

„In einer Welt, in der Pro­gres­si­ve die Wahr­heit aus­ge­löscht haben, bedeu­tet Fort­schritt, den Kate­chis­mus der Herr­scher zu unter­stüt­zen und alle Prin­zi­pi­en ihrer Ideo­lo­gie zu schlucken. Es bedeu­tet, nie­mals etwas in Fra­ge zu stel­len und alles, was sie in Schu­le, Zei­tun­gen, Fern­se­hen oder Inter­net erzäh­len, für bare Mün­ze zu nehmen.“

Fazit

Es mag über­trie­ben erschei­nen, die tota­li­tä­re Dys­to­pie von 1984 mit unse­rer Situa­ti­on zu ver­glei­chen, in der die Macht kei­nen Zwang anzu­wen­den scheint. Aber nach Ansicht eini­ger auf­merk­sa­mer Beob­ach­ter braucht nicht jeder Tota­li­ta­ris­mus im 21. Jahr­hun­dert immer Gewalt, um sich zu behaup­ten und an der Macht zu hal­ten. Das wur­de bereits von einem ande­ren dys­to­pi­schen Schrift­stel­ler, Aldous Hux­ley, dem Autor von „Schö­ne neue Welt“, fest­ge­stellt:

„Die in 1984 beschrie­be­ne Gesell­schaft ist eine Gesell­schaft, die fast aus­schließ­lich durch Bestra­fung und Angst kon­trol­liert wird. In der ima­gi­nä­ren Welt mei­ner Erzäh­lung ist die Bestra­fung sel­ten und nor­ma­ler­wei­se mild. Die Regie­rung erreicht ihre nahe­zu per­fek­te Kon­trol­le, indem sie syste­ma­tisch das gewünsch­te Ver­hal­ten indu­ziert, und greift dazu auf ver­schie­de­ne For­men fast gewalt­frei­er phy­si­scher und psy­chi­scher Mani­pu­la­tio­nen zurück.“

Dem fügt Hux­ley hin­zu, daß der „Welt­staat“ zur Ver­hin­de­rung von Tur­bu­len­zen – anders als 1984 – in sei­ner „schö­nen neu­en Welt“ vie­le Werk­zeu­ge zur Ver­fü­gung hat, wie ’sexu­el­le Frei­heit‘ (mög­lich nach der Abschaf­fung der Fami­lie)“ und „eine gro­ße Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­ons­bran­che, die der Öffent­lich­keit weder das Wah­re noch das Fal­sche lie­fert, son­dern das Unwirk­li­che“, ein „Volks­o­pi­um“, mit einem „stän­di­gen Fluß von Ablen­kun­gen“, um Ratio­na­li­tät, Frei­heit und demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen in einem „Oze­an der Ober­fläch­lich­kei­ten zu ertränken“.

Noch sind wir nicht in die­sem Sze­na­rio ange­kom­men. Um es zu ver­hin­dern, gewinnt die Exi­stenz eines frei­en und nicht-kon­for­men Jour­na­lis­mus eine enor­me Bedeutung.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Mon­ta­ge

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