Die Rede von J. D. Vance und die Soziallehre der Kirche

Eine epochale Wende: Was er sagte und was er nicht sagte


JD Vance, der neue US-Vizepräsident, las bei der Münchner Sicherheitskonferenz gehörig die Leviten. Es weht ein neuer Wind.
JD Vance, der neue US-Vizepräsident, las bei der Münchner Sicherheitskonferenz gehörig die Leviten. Es weht ein neuer Wind.

Von Ste­fa­no Fontana*

Was wür­de die Sozi­al­leh­re der Kir­che zu der Rede von US-Vize­prä­si­dent James David Van­ce am Sams­tag, dem 14. Febru­ar, in Mün­chen sagen? Die­se Rede wird für lan­ge Zeit in Erin­ne­rung blei­ben, sowohl wegen der Din­ge, die gesagt wur­den, als auch wegen der Din­ge, die gesagt wer­den soll­ten, um die Argu­men­ta­ti­on zu ver­voll­stän­di­gen. Sie wird lan­ge in Erin­ne­rung blei­ben, nicht nur wegen ihrer Aus­wir­kun­gen auf aktu­el­le poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und mili­tä­ri­sche Fra­gen, son­dern vor allem wegen ihres Ver­suchs, einen umfas­sen­den Vor­schlag zu machen, der bei den Wur­zeln der poli­ti­schen Koexi­stenz ansetzt.

Im Mit­tel­punkt der Rede stand die Erkennt­nis, daß der Feind nicht außer­halb steht, son­dern in Euro­pa und den USA selbst zu suchen ist, und daß er in einem Rück­zug von den eige­nen Grund­wer­ten besteht. Eine Krank­heit der See­le, eine Erschöp­fung der eige­nen mora­li­schen und gei­sti­gen Kraft. Der Leser der Rede mag gedacht haben, daß die­se Kri­tik von Van­ce nur an Euro­pa gerich­tet war. Statt­des­sen war sie auch an Ame­ri­ka gerich­tet, nur mit dem Unter­schied, daß man dort auf­ge­wacht ist, wäh­rend Euro­pa noch im Tief­schlaf einer rea­li­täts­ver­ach­ten­den Künst­lich­keit lebt.

Ein Bei­spiel: In Euro­pa kommt eine erzwun­ge­ne Päd­ago­gik der Mas­sen zum Ein­satz, um den euro­päi­schen Men­schen zu erzie­hen, aber dafür wer­den Tech­ni­ken ver­wen­det, die in den USA ent­wickelt wur­den, wo die Erzie­hung der Mas­sen eine lan­ge wis­sen­schaft­li­che und prak­ti­sche Geschich­te hat.

Die Ame­ri­ka­ner haben jedoch begon­nen, ihren Kurs zu ändern, und die neue Regie­rung hat bei­spiels­wei­se USAID abge­schafft, das ideo­lo­gi­sche Zwangs­for­men der staats­bür­ger­li­chen Erzie­hung finan­zier­te, die dem gesun­den Men­schen­ver­stand zuwi­der­lie­fen. Van­ce spricht daher sowohl von einer euro­päi­sti­schen als auch von einer ame­ri­ka­ni­sti­schen Ideo­lo­gie. Er pran­gert vor allem die erste­re an, aber nur, weil er sich im US-Wahl­kampf bereits aus­führ­lich über letz­te­re geäu­ßert hat­te und weil er der Ver­tre­ter einer Regie­rung ist, die davon los­ge­kom­men ist. Sei­ne har­schen Wor­te an Euro­pa, sei­ne Par­r­he­sie, die trotz des diplo­ma­ti­schen Rah­mens dem poli­ti­schen guten Ton nicht viel zuge­steht, ent­sprin­gen dem Bewußt­sein, daß er ein Ame­ri­ka ver­tritt, das ein pseu­do­to­ta­li­tä­res System, in das die Euro­pä­er noch ver­strickt sind, abge­schüt­telt hat oder dabei ist, es abzuschütteln.

Aus der Sicht der kirch­li­chen Sozi­al­leh­re ist die­se „Rück­kehr zur Rea­li­tät“ zur Ver­tei­di­gung einer ech­ten Frei­heit, die nie bei sich selbst beginnt, son­dern von der Rea­li­tät und dem „gesun­den Men­schen­ver­stand“ genährt wird, posi­tiv zu bewer­ten. Johan­nes Paul II., den Van­ce im übri­gen am Ende sei­ner Rede zitiert, hat­te in Evan­ge­li­um vitae geschrie­ben, daß „der Wert der Demo­kra­tie mit den Wer­ten steht und fällt, die sie ver­kör­pert und fördert“.

Lei­der hat sich die Kir­che in Euro­pa, wie kürz­lich in einem ihr gewid­me­ten Bericht gezeigt wur­de, nicht dar­um bemüht, die Men­schen von der euro­päi­sti­schen Ideo­lo­gie zu befrei­en, sie hat viel­mehr alle Poli­ti­ken mit­ge­macht, die sich als wert­los her­aus­stell­ten, und sie hat auf ihre eige­ne Rol­le der Erzie­hung zur Wahr­heit im Lich­te der Ver­nunft und des Glau­bens ver­zich­tet. Man kann also sagen, daß die Rede von Van­ce impli­zit auch einen Vor­wurf an die Hal­tung der katho­li­schen Kir­che ent­hält, die zu einem „Seel­sor­ger“ des herr­schen­den poli­ti­schen Kur­ses gewor­den ist. Bezieht man sich auf die Sozi­al­leh­re der Kir­che und nicht auf ihre aktu­el­le Pra­xis, kann das Urteil über die­se Aspek­te der Rede nur posi­tiv ausfallen.

Dann gibt es einen Bereich der Van­ce-Rede, in dem inter­es­san­te Per­spek­ti­ven ange­deu­tet wer­den. Als er auf die Kri­se der Demo­kra­tie in Euro­pa zu spre­chen kam, sag­te er, daß die wah­re Demo­kra­tie die­je­ni­ge ist, die auf das Volk hört, die Stim­men, Mei­nun­gen und Gewis­sen nicht unter­schlägt (die Hin­wei­se auf Zwangs­maß­nah­men im Abtrei­bungs­be­reich in Eng­land und Schwe­den waren sehr beredt), die auf dem Grund­satz beruht, daß das Volk zählt, die den Wil­len des Vol­kes akzep­tiert, auch wenn sie nicht mit ihm über­ein­stimmt, die ein ech­tes demo­kra­ti­sches Man­dat anstrebt, um die not­wen­di­gen schwie­ri­gen Ent­schei­dun­gen zu treffen.

Dies war und ist in Euro­pa nicht der Fall, wie die ver­schie­de­nen von ihm ange­führ­ten Fäl­le zei­gen. Damit scheint er das Volk nicht als eine unver­bun­de­ne Ansamm­lung von Indi­vi­du­en im Sin­ne des libe­ra­len Indi­vi­dua­lis­mus zu ver­ste­hen, son­dern als einen Orga­nis­mus, der über ein „gemein­sa­mes Gefühl“ ver­fügt, das nicht von ihm aus­geht, son­dern ihm vor­aus­geht. Das ist es, was Van­ce andeu­tet, eine Dimen­si­on, auf die er in bezug auf den „gesun­den Men­schen­ver­stand“ anzu­spie­len scheint, den auch Trump in sei­ner Ein­füh­rungs­re­de beschwor. Die Demo­kra­tie, so scheint er zu sagen, darf nicht dar­in bestehen, daß die Mehr­heit gegen den gesun­den Men­schen­ver­stand kämpft, den das Volk in sich trägt, denn das wür­de des­sen Selbst­mord bedeu­ten. Das sind Andeu­tun­gen und Hin­wei­se, die, wei­ter aus­ge­führt, den vol­len Kon­sens der Sozi­al­leh­re der Kir­che fin­den würden.

Und schließ­lich kom­men wir zu dem, was Van­ce nicht gesagt hat, weil er vor­her auf­ge­hört hat, was die Sozi­al­leh­re aber für wich­tig hält. Wor­auf grün­det sich die Demo­kra­tie letzt­lich? Zu sagen, sie beru­he auf dem Man­dat des Vol­kes, ist trotz der viel­ver­spre­chen­den Anspie­lun­gen auf die Natur des Vol­kes, von denen ich gera­de gespro­chen habe, unzu­rei­chend. Die Auf­for­de­rung an Euro­pa, das Man­dat des Vol­kes nicht zu dome­sti­zie­ren oder gar zu ver­leug­nen, wie in dem von ihm zitier­ten Fall der Wahl­an­nul­lie­rung in Rumä­ni­en, reicht nicht aus, denn auf die­se Wei­se könn­te eine „Volks­sou­ve­rä­ni­tät“ begrün­det wer­den, die eben­so poten­ti­ell tota­li­tär ist. Hier wür­de die Sozi­al­leh­re der Kir­che ein­grei­fen, um Van­ce auf­zu­for­dern, den Weg des „gemein­sa­men Gefühls“, auf den er anspiel­te, wei­ter­zu­ge­hen, um zu jener sozia­len und end­gül­ti­gen Ord­nung zu gelan­gen, die der Demo­kra­tie die zu ver­tei­di­gen­den Wer­te gibt. Mehr­hei­ten schaf­fen kei­ne Wer­te, sie ach­ten und ver­tei­di­gen sie.

*Ste­fa­no Fon­ta­na, Direk­tor des Inter­na­tio­nal Obser­va­to­ry Car­di­nal Van Thu­an for the Social Doc­tri­ne of the Church; zu sei­nen jüng­sten Publi­ka­tio­nen gehö­ren „La nuo­va Chie­sa di Karl Rah­ner“ („Die neue Kir­che von Karl Rah­ner. Der Theo­lo­ge, der die Kapi­tu­la­ti­on vor der Welt lehr­te“, 2017), gemein­sam mit Erz­bi­schof Pao­lo Cre­pal­di „Le chia­vi del­la que­stio­ne socia­le“ („Die Schlüs­sel der sozia­len Fra­ge. Gemein­wohl und Sub­si­dia­ri­tät: Die Geschich­te eines Miß­ver­ständ­nis­ses“, 2019), „La filoso­fia cri­stia­na“ („Die christ­li­che Phi­lo­so­phie. Eine Gesamt­schau auf die Berei­che des Den­kens“, 2021); alle erschie­nen im Ver­lag Fede & Cul­tu­ra, Verona.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL

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