„KI kann die Tür zum Zeitalter des Antichristen öffnen“

Rede von Kyrill I., Patriarch von Moskau


Heiliger Synod der russisch-orthodoxen Kirche mit Patriarch Kyrill I.
Heiliger Synod der russisch-orthodoxen Kirche mit Patriarch Kyrill I.

Zur Eröff­nung der jüng­sten Sit­zung des Hei­li­gen Syn­od der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che hielt der Patri­arch von Mos­kau Kyrill I. am 25. Juni eine Rede zur Künst­li­chen Intel­li­genz (KI) und ihren Her­aus­for­de­run­gen. Im Patri­ar­chen­saal der Chri­stus-Erlö­ser-Kathe­dra­le in Mos­kau beleuch­te­te der Patri­arch den rapi­den Aus­bau und die schnel­le tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung der KI aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln, vor allem aber aus anthro­po­lo­gi­scher, ethi­scher und geist­li­cher Sicht.

Anzei­ge

Kyrill beton­te, daß die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che dem wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt nie fremd oder feind­lich gegen­über gestan­den habe. Im Gegen­teil, sie habe mit Inter­es­se ech­te Fort­schrit­te in der Wis­sen­schaft ver­folgt und ver­sucht, sie aus einer mora­li­schen Per­spek­ti­ve zu bewer­ten. Er warn­te jedoch, daß gegen­wär­tig sowohl in Ruß­land als auch in der übri­gen Welt die – ratio­na­len oder nicht ratio­na­len – Äng­ste vor der Zukunft zuneh­men. Der besorg­nis­er­re­gend­ste Aspekt für die Kir­che ist das Phä­no­men der Ent­per­sön­li­chung der mensch­li­chen Bezie­hun­gen, das durch den zuneh­men­den Ein­satz von KI-Syste­men noch ver­stärkt wird. Der Patri­arch äußer­te sich besorgt über das Erset­zen der mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on durch die Inter­ak­ti­on mit Maschi­nen: Es gebe bereits nicht weni­ge Men­schen, „die es vor­zie­hen, Künst­li­che Intel­li­genz zu kon­sul­tie­ren, als wäre sie eine Art per­sön­li­cher Psy­cho­lo­ge. Und auch wenn die­se Kom­mu­ni­ka­ti­on schnel­ler oder sogar inhalts­rei­cher erschei­nen mag, dür­fen wir nicht ver­ges­sen, daß das Wesen des Men­schen in der Bezie­hung zum ande­ren liegt“.

Kyrill warn­te, wenn die Fähig­keit zur Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Men­schen ver­lo­ren­ge­he, wer­de auch die Fähig­keit zu lie­ben, zu ver­zei­hen, zu sym­pa­thi­sie­ren und sich zu soli­da­ri­sie­ren geschwächt. Und das sei nicht nur eine anthro­po­lo­gi­sche, son­dern auch eine theo­lo­gi­sche Fra­ge: Die Ver­schlech­te­rung die­ser Eigen­schaf­ten bedeu­te den Ver­lust der Unter­schei­dung zwi­schen Gut und Böse. Und wenn die Men­schen nicht mehr zwi­schen bei­den unter­schei­den kön­nen, öff­nen sie die Tür zum Zeit­al­ter des Antichristen.

Er for­der­te die kirch­li­che und die aka­de­mi­sche Gemein­schaft auf, sich dar­auf vor­zu­be­rei­ten, die­sen Her­aus­for­de­run­gen mit rigo­ro­ser Ernst­haf­tig­keit zu begeg­nen. Er beton­te, wie wich­tig es sei, theo­lo­gi­sche Stu­di­en über Künst­li­che Intel­li­genz zu för­dern und die Früch­te des wis­sen­schaft­li­chen Den­kens anzu­neh­men, ohne in irra­tio­na­le Angst zu ver­fal­len, aber mit einer wach­sa­men und reflek­tier­ten Haltung.

Was vor kur­zem noch Fik­ti­on schien, ist schnell zur Wirk­lich­keit gewor­den. Die Kir­che müs­se sich der Her­aus­for­de­rung stel­len und klu­ge Ant­wor­ten geben, um die Men­schen­wür­de zu verteidigen.

Papst Leo XIV. erklär­te gleich am Beginn sei­nes Pon­ti­fi­kats, daß er das The­ma des ethi­schen Umgangs mit Künst­li­cher Intel­li­genz zu einer Prio­ri­tät sei­ner Amts­zeit machen wol­le. Dar­in trifft er sich offen­sicht­lich mit dem rus­sisch-ortho­do­xen Patriarchen.

Wir doku­men­tie­ren die voll­stän­di­ge Anspra­che von Patri­arch Kyrill I. in deut­scher Sprache:

Rede von Patriarch Kyrill I. von Moskau über die Künstliche Intelligenz

Heu­te haben wir ein wich­ti­ges The­ma vor uns, das zwar nicht direkt mit der tra­di­tio­nel­len Theo­lo­gie ver­bun­den ist, aber unmit­tel­bar mit den aktu­el­len Ent­wick­lun­gen in der Welt zu tun hat – Ent­wick­lun­gen, die poten­zi­ell eine ern­ste Bedro­hung für den Men­schen und sein geist­li­ches Leben dar­stel­len. Die Umset­zung von Ideen, die der­zeit auf der gesell­schaft­li­chen Agen­da ste­hen, kann tief­grei­fen­de Aus­wir­kun­gen auf das Welt­bild der Men­schen haben – und genau das ist ein Bereich, mit dem sich die Kir­che auf­merk­sam befas­sen muß.

Ich möch­te eini­ge Gedan­ken dazu mit Ihnen tei­len. Wir wen­den uns einem der bedeu­tend­sten The­men unse­rer Zeit zu – den Her­aus­for­de­run­gen im Zusam­men­hang mit der Ent­wick­lung von Künst­li­cher Intel­li­genz. Die­se sich rasant ent­wickeln­de Tech­no­lo­gie beein­flußt bereits heu­te vie­le Berei­che des mensch­li­chen Lebens und der Gesell­schaft­und erfor­dert daher eine durch­dach­te und ver­ant­wor­tungs­vol­le Refle­xi­on sei­tens der Kirche.

Zunächst möch­te ich beto­nen, daß die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che den wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Fort­schritt als sol­chen nie abge­lehnt hat – das ist all­ge­mein bekannt. Wir ste­hen den ech­ten Errun­gen­schaf­ten des wis­sen­schaft­li­chen Den­kens stets mit Inter­es­se und Auf­merk­sam­keit gegen­über und bemü­hen uns, die sich dar­aus erge­ben­den Mög­lich­kei­ten einer ethisch-mora­li­schen Bewer­tung zu unter­zie­hen. Die kirch­li­che Tra­di­ti­on kennt kei­ne irra­tio­na­len Äng­ste vor der Zukunft. In der Gesell­schaft hin­ge­gen – nicht nur in unse­rer, son­dern welt­weit – neh­men Äng­ste zu, sei­en sie ratio­nal oder irra­tio­nal, was noch zu klä­ren wäre. Des­halb ist es not­wen­dig, daß wir eige­ne theo­lo­gi­sche For­schun­gen wei­ter­ent­wickeln und eine theo­lo­gi­sche Posi­ti­on zu jenen Fra­gen for­mu­lie­ren, die die Men­schen heu­te bewe­gen und deren Lösun­gen maß­geb­lich die Zukunft der Mensch­heit beein­flus­sen wer­den. Es ist aus­drück­lich zu begrü­ßen, wenn wis­sen­schaft­li­che Arbei­ten ent­ste­hen, die sich mit die­sen The­men befas­sen und deren Ergeb­nis­se auch für die Theo­lo­gie nutz­bar gemacht werden.

Es ist offen­sicht­lich, daß Künst­li­che Intel­li­genz in abseh­ba­rer Zeit noch tief­grei­fen­de­re Aus­wir­kun­gen auf alle Lebens­be­rei­che haben wird: Wirt­schaft, staat­li­che Ver­wal­tung, Bil­dung, Medi­zin, Kul­tur und All­tags­le­ben. Fach­leu­te sind sich einig, daß die bevor­ste­hen­den Umwäl­zun­gen umfas­send sein wer­den. Wir aber sind beru­fen, zu bezeu­gen, daß die­se Ver­än­de­run­gen nicht die grund­le­gen­den Wer­te mensch­li­cher Exi­stenz unter­gra­ben dür­fen. Glau­be, Lie­be, Frei­heit, Ver­ant­wor­tung, fami­liä­re Wer­te – das sind die Grund­la­gen des Mensch­seins, die durch kei­nen tech­no­lo­gi­schen Wan­del ersetzt oder gar auf­ge­ho­ben wer­den dürfen.

Die ent­schei­den­de Fra­ge lau­tet: Wer­den wir fähig sein, die­se unver­äu­ßer­li­chen, gott­ge­ge­be­nen Wer­te gegen den gewal­ti­gen Druck der moder­nen Ein­flüs­se zu schüt­zen? Gegen die Mas­sen­psy­cho­lo­gie, die – oft gestützt auf wis­sen­schaft­li­che oder pseu­do­wis­sen­schaft­li­che Ideen – die­se Ent­wick­lun­gen in eine gefähr­li­che, aus kirch­li­cher Sicht sünd­haf­te Lebens­pra­xis verwandelt?

Beson­de­re Sor­ge berei­tet die mög­li­che Ent­mensch­li­chung der zwi­schen­mensch­li­chen und sozia­len Kom­mu­ni­ka­ti­on. Schon heu­te bevor­zu­gen vie­le die Inter­ak­ti­on mit Maschi­nen gegen­über dem Gespräch mit einem Men­schen. Das ist ver­ständ­lich: Der Ein­satz von Maschi­nen zur Kom­mu­ni­ka­ti­on kann effek­ti­ver, zwei­fel­los schnel­ler und mit­un­ter auch inhalt­lich dich­ter erschei­nen als der mensch­li­che Aus­tausch. Es ist bekannt, daß Men­schen Künst­li­che Intel­li­genz als per­sön­li­chen Psy­cho­lo­gen nut­zen, sie um Rat und Mei­nung fra­gen. Doch wir dür­fen nicht ver­ges­sen: Die mensch­li­che Natur und die Natur des gesell­schaft­li­chen Lebens set­zen in erster Linie die Ver­bin­dung von Mensch zu Mensch vor­aus. Wenn die­se Ver­bin­dung unter­bro­chen wird, beginnt die Gesell­schaft zu ver­fal­len oder gar zu ver­schwin­den – denn das Wort „Gesell­schaft“ ist vom glei­chen Ursprung wie „Gemein­schaft“ und „Kom­mu­ni­ka­ti­on“. Was wird aus einer Welt, in der Men­schen die Fähig­keit ver­lie­ren, mit­ein­an­der zu spre­chen – und damit auch die Fähig­keit zu lie­ben, zu ver­ge­ben, mitzufühlen?

Genau hier beginnt das theo­lo­gi­sche Nach­den­ken. Denn wenn die­se mensch­li­chen Eigen­schaf­ten und Fähig­kei­ten ver­schwin­den, über­schrei­tet die Mensch­heit jene Gren­ze, jen­seits derer Gut und Böse nicht mehr unter­schie­den wer­den kön­nen. Und genau das bedeu­tet das Her­auf­zie­hen der Zeit des Anti­chri­sten. Wie kann der Anti­christ – die Ver­kör­pe­rung des Bösen – kom­men? Nur, wenn die Men­schen die Fähig­keit ver­lie­ren, das Gute vom Bösen zu unter­schei­den, und das Böse als gro­ßen Füh­rer und Men­tor anneh­men. Des­halb sind wir als Chri­sten heu­te auf­ge­ru­fen, die­se her­auf­zie­hen­de Gefahr zu erken­nen und in der Spra­che der Theo­lo­gie, in der Spra­che der Kir­che, eine Ant­wort auf die­se Her­aus­for­de­rung zu formulieren.

Noch ein­mal möch­te ich beto­nen: Was gestern wie Fan­ta­sie und Fik­ti­on erschien, wird heu­te zur Rea­li­tät, zum Bestand­teil unse­res All­tags. Und die Kir­che, die Ver­ant­wor­tung für den geist­li­chen Zustand des Men­schen und der Gesell­schaft trägt, ist in vol­lem Sin­ne dazu beru­fen, sich mit die­ser The­ma­tik zu befas­sen und den Men­schen einen kla­ren, ver­nünf­ti­gen und über­zeu­gen­den Rat zu geben: Wie soll der Mensch leben, um unter den völ­lig neu­en Bedin­gun­gen gesell­schaft­li­cher Exi­stenz Mensch im voll­sten Sin­ne des Wor­tes zu bleiben?

Die­se Gedan­ken möch­te ich Ihnen heu­te als Ein­füh­rung in unse­re Dis­kus­si­on mitgeben.

Text/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: tat​mitro​po​lia​.ru (Screen­shot)

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