Das Leben eines unnachgiebigen Philosophen und Theologen: Pater Réginald Garrigou-Lagrange (1877–1964)

Der Gegenspieler der Nouvelle Théologie


Zwei Dominikaner: der hl. Thomas von Aquin und Pater Réginald Garrigou-Lagrange
Zwei Dominikaner: der hl. Thomas von Aquin und Pater Réginald Garrigou-Lagrange

Von Abbé Chri­sto­phe Vignaux*

Nur weni­ge wis­sen, daß der berühm­te Phi­lo­soph und Theo­lo­ge aus dem Domi­ni­ka­ner­or­den Régi­nald Gar­ri­gou-Lagran­ge (1877–1964) aus der Gas­co­gne stammt, obwohl kei­ne Stra­ße in Auch, sei­ner Hei­mat­stadt, sei­nen Namen trägt. Wir geben hier die Grund­zü­ge die­ses Lebens wie­der, das an den Ufern des Gers begann und sich dann größ­ten­teils an den Ufern des Tibers in Rom abspiel­te, wo es ende­te. Wir haben es den­noch nicht gewagt, die eigent­lich zutref­fen­de Über­schrift: „Der Gers mün­det in den Tiber“ zu wählen.

Ein Gascogner

Marie-Aubin-Gon­tran Gar­ri­gou-Lagran­ge wur­de am 21. Febru­ar 1877 in Auch gebo­ren. Aus dem Per­so­nen­stands­re­gi­ster geht her­vor, daß sei­ne Eltern zu die­sem Zeit­punkt in der Rue de l’Ora­to­rio (der heu­ti­gen Rue Vic­tor Hugo) wohn­ten1. Sein Vater, Fran­çois-Léo­nard-Juni­en Gar­ri­gou-Lagran­ge, war Beam­ter im Finanz­amt. Er wur­de 1844 in Mar­val im Limou­sin in Frank­reich gebo­ren. Sein Onkel väter­li­cher­seits, Don Mau­rice Gar­ri­gou (1766–1852), war Kano­ni­ker in Tou­lou­se gewe­sen. Wäh­rend der Revo­lu­ti­on zeich­ne­te er sich durch sei­nen Mut wäh­rend der Ver­fol­gun­gen aus, denen er selbst nur knapp ent­kam. Spä­ter grün­de­te er einen Frau­en­or­den und starb im Ruf der Hei­lig­keit. Sein Selig­spre­chungs­pro­zeß ist in Rom im Gan­ge, und Papst Fran­zis­kus hat ihn 2013 zum ehr­wür­di­gen Die­ner Got­tes ernannt.2

Die Mut­ter unse­res Theo­lo­gen, Jean­ne-Marie-Clé­mence Las­ser­re, stamm­te aus Auch. Sie wur­de hier am 8. Sep­tem­ber 1854 als Toch­ter von Tho­mas-Augu­ste Las­ser­re, eben­falls Finanz­be­am­ter, und Thé­rè­se Fau­qué gebo­ren. Ihre Ehe mit dem zehn Jah­re älte­ren Fran­çois Gar­ri­gou wur­de 1874 in Auch geschlos­sen.3 Eini­gen Quel­len4 zufol­ge war sie mit Hen­ri Las­ser­re (1829–1900) ver­wandt, einem Lite­ra­ten und schar­fen katho­li­schen Pole­mi­ker der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts, der als erster Histo­ri­ker der Erschei­nun­gen von Lour­des bekannt wur­de.5 Am 27. Febru­ar wur­de der klei­ne Gon­tran in der Kathe­dra­le Sain­te-Marie von den Hän­den des Vikars Saint-André getauft.6

Die Fami­lie blieb eini­ge Jah­re lang in Auch. Im Jahr 1878 bekam das Paar ein wei­te­res Kind, dies­mal ein Mäd­chen namens Ali­ce (die im Alter von fünf­zig Jah­ren starb, nach­dem ihr Bru­der ihr die Letz­te Ölung gespen­det hat­te).7 Bald wur­de Fran­çois Gar­ri­gou-Lagran­ge nach La Roche-sur-Yon, dann nach Nan­tes und schließ­lich nach Tar­bes ver­setzt. Hier besuch­te Gon­tran die Sekun­dar­schu­le und mach­te das Abitur. Er war ein ziem­lich bril­lan­ter Schü­ler, aber auch ziem­lich arro­gant. Eine Anek­do­te, die von meh­re­ren Zeu­gen berich­tet wird, besagt, daß er sei­ne münd­li­che Fran­zö­sisch­prü­fung wegen einer fre­chen Bemer­kung, die dem Prü­fer nicht gefiel, nicht bestand:

Der Prü­fer frag­te ihn nach der Ana­ly­se von Cin­na. Der jun­ge Mann ant­wor­te­te: „Ich habe Cin­na seit dem ver­gan­ge­nen Jahr nicht mehr gele­sen, aber wenn Sie mich nach all­ge­mei­nen Über­le­gun­gen zu Corn­eil­le fra­gen wür­den, könn­te ich Ihnen ant­wor­ten.“ Eine sym­bo­li­sche Bege­ben­heit: Pater Gar­ri­gou-Lagran­ge zog stets gro­ße Syn­the­sen den gelehr­ten Details vor.8

Konversion und Eintritt bei den Dominikanern

Nach dem Abitur ging Gon­tran Gar­ri­gou-Lagran­ge nach Bor­deaux, um sein Medi­zin­stu­di­um zu begin­nen. Die Reli­gi­on, in der er erzo­gen wor­den war, war ihm zu die­sem Zeit­punkt völ­lig gleich­gül­tig. Eine Lek­tü­re, die er 1897 las, beun­ru­hig­te ihn jedoch zutiefst. Es war das Werk von Ernest Hel­lo (1828–1885) mit dem Titel „L’Hom­me“ [„Der Mensch“]. Die­se Auf­satz­samm­lung stellt das christ­li­che Bild dem moder­nen, alles anzwei­feln­den Men­schen gegen­über. Der jun­ge Mann war davon stark beein­druckt und ent­wickel­te sich vom Agno­sti­ker oder Skep­ti­ker zum glü­hen­den Katholiken:

„In einem Augen­blick“, gestand er spä­ter, „sah ich, daß die Leh­re der katho­li­schen Kir­che die abso­lu­te Wahr­heit über Gott, sein inne­res Leben, den Men­schen, sei­nen Ursprung und sei­ne über­na­tür­li­che Bestim­mung war. Ich sah, wie in einem Augen­blick, daß es sich nicht um eine Wahr­heit han­del­te, die rela­tiv zum gegen­wär­ti­gen Stand unse­res Wis­sens war, son­dern um eine abso­lu­te Wahr­heit, die nicht ver­ge­hen wird, son­dern immer mehr in ihrem Glanz erschei­nen wird, bis wir Gott facie ad faciem sehen“9.

Die­se plötz­li­che Bekeh­rung ist ver­gleich­bar mit ande­ren Erfah­run­gen die­ser Art, die ver­schie­de­ne Intel­lek­tu­el­le oder Schrift­stel­ler an der Wen­de vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert gemacht haben: Paul Clau­del, Charles Péguy, Jac­ques Mari­tain und vie­le ande­re.10

Unser Medi­zin­stu­dent beschloß dar­auf­hin, alles hin­ter sich zu las­sen und Ordens­mann zu wer­den. Nach eini­gem Zögern zwi­schen Trap­pi­sten und Kar­täu­sern ent­schied er sich schließ­lich für die Domi­ni­ka­ner. Die­ser ehr­wür­di­ge Orden, der 1838 von Pater Lacord­ai­re in Frank­reich wie­der­her­ge­stellt wor­den war, erleb­te zu die­ser Zeit einen neu­en Auf­schwung. Der Kon­text der Zeit war in der Tat gün­stig: Leo XIII. hat­te gera­de 1879 die Enzy­kli­ka Aeter­ni Patris ver­öf­fent­licht, die die phi­lo­so­phi­schen Stu­di­en auf­wer­te­te und ins­be­son­de­re eine ernst­haf­te und gründ­li­che Rück­kehr zu den Wer­ken des hei­li­gen Tho­mas von Aquin ankündigte.

1898 trat Gar­ri­gou-Lagran­ge in das Novi­zi­at in Ami­ens ein. Hier nahm er den wei­ßen Habit und den schwar­zen Umhang des Ordens und erhielt den Namen Régi­nald zu Ehren des seli­gen Régi­nald d’Or­lé­ans, eines der ersten fran­zö­si­schen Domi­ni­ka­ner und Gefähr­ten des hei­li­gen Domi­ni­kus. Er ging dann in das klei­ne bur­gun­di­sche Dorf Fla­vi­gny-sur-Ozerain, wo die Domi­ni­ka­ner ihr Stu­di­en­haus hat­ten. Die Staats­ge­set­ze gegen katho­li­sche Orden zwan­gen ihn 1902 zur Abrei­se. Er muß­te nach Bel­gi­en gehen, wo er sei­ne Stu­di­en abschloß und zum Prie­ster geweiht wurde.

Um sei­ne Aus­bil­dung zu ver­voll­komm­nen, schick­ten ihn sei­ne Obe­ren nach Paris, wo er an der Sor­bon­ne sein Lizen­ti­at in Phi­lo­so­phie und Lite­ra­tur erwarb. Zahl­rei­che Brie­fe, die er in die­ser Zeit an sei­nen Leh­rer, Pater Ambroi­se Gar­de­il, schrieb, sind erhal­ten geblie­ben und sogar ver­öf­fent­licht wor­den.11 Man kann sehen, wie der jun­ge Prie­ster hier den Weg der größ­ten Den­ker der Bel­le Épo­que, ins­be­son­de­re Hen­ri Berg­son12, ver­folgt, aber man kann auch eine gewis­se Müdig­keit in ihm spüren:

„Seit zwei Tagen bin ich defi­ni­tiv nicht mehr fröh­lich. Es sind die Vor­le­sun­gen, in denen latei­ni­sche und grie­chi­sche Autoren erklärt wer­den, und vor allem das latei­ni­sche Refe­rat, die mich den gan­zen Tag über trau­rig machen. Ich füh­le mich in die Rhe­to­rik zurück­ver­setzt. Unin­ter­es­san­te Stu­di­en über Anek­do­ten, die am Ende lang­wei­lig sind, und die­ser gan­ze Druck für eine Prü­fung. Mit 27 Jah­ren ist es furcht­bar schwer, die­se Auf­ga­be wie­der anzu­fan­gen“.13

Kurz dar­auf, mit knapp 30 Jah­ren, wur­de er zum Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor sei­ner Domi­ni­ka­ner­brü­der ernannt. Er lehr­te zunächst in Bel­gi­en, wo sei­ne Gemein­schaft im Exil leb­te, dann in der Schweiz und schließ­lich in Rom.

Professor in Rom

Als Pater Gar­ri­gou sei­ne Lauf­bahn als Pro­fes­sor begann, befand sich die katho­li­sche Welt in einem schwe­ren Umbruch, der als „Kri­se der Moder­ne“ bezeich­net wur­de. Die­se Ereig­nis­se hat­ten einen so ent­schei­den­den Ein­fluß auf sein gan­zes Leben und Den­ken, daß man sagen kann, daß „sein gan­zes Werk nichts ande­res ist als ihre Erklä­rung [der päpst­li­chen Leh­ren] und ihre Ver­tei­di­gung gegen die moder­ni­sti­sche Theo­lo­gie“14.

Pius X. zähl­te auf die Domi­ni­ka­ner, um das zu wider­le­gen, was er „das Sam­mel­becken aller Häre­si­en“ nann­te. Aus die­sem Grund grün­de­te der Gene­ral­mei­ster des Ordens, Pater Hya­c­in­the-Marie Cor­mier, 1919 eine Uni­ver­si­tät in Rom. Die­se Uni­ver­si­tät, die gemein­hin Ange­li­cum genannt wird, wur­de unter das Patro­nat des hei­li­gen Tho­mas von Aquin gestellt. Ursprüng­lich in der Via San Vita­le gele­gen, zog sie 1932 an die Hän­ge des Qui­ri­nals ober­halb des Tra­jan­fo­rums, wo sie sich noch heu­te befin­det. Pater Gar­ri­gou-Lagran­ge lehr­te dort über fünf­zig Jah­re lang: zunächst Theo­lo­gie, begin­nend mit Apo­loge­tik bis 1918, dann, von 1918 bis 1959, alle ande­ren Abhand­lun­gen der monu­men­ta­len Sum­ma theo­lo­giae.15 Im Jahr 1915 erhielt er auch einen Lehr­stuhl für Phi­lo­so­phie, wo er die Meta­phy­sik des Ari­sto­te­les kom­men­tie­ren konn­te. Im Jahr 1917 erhielt er einen drit­ten Lehr­stuhl, der gera­de ein­ge­rich­tet wor­den war: die Spi­ri­tu­el­le Theologie.

Die bei­den Welt­krie­ge mar­kie­ren kur­ze Unter­bre­chun­gen in sei­nem Stu­di­en­le­ben. Wäh­rend des ersten geht er nach Niz­za, um sich, wie es das Staats­ge­setz ver­lang­te, in der fran­zö­si­schen Armee zu mel­den, aber die Ein­be­ru­fungs­kom­mis­si­on hält ihn für untaug­lich und schickt ihn zu sei­nen gelieb­ten Büchern zurück.16 Wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs, kurz bevor Mus­so­li­ni an der Sei­te den Deut­schen Reichs in den Krieg gegen Frank­reich ein­trat, muß­te er Ita­li­en ver­las­sen und sich in Cou­ble­vie in der Nähe von Gre­no­ble nie­der­las­sen, wo es ein Stu­di­um sei­nes Ordens gab. Erst im Okto­ber 1941 konn­te er nach Rom zurück­keh­ren.17

Wäh­rend sei­ner Jah­re in der Ewi­gen Stadt war er ein aus­ge­zeich­ne­ter Pro­fes­sor. Sei­ne Kur­se wur­den nicht nur von sei­nen Domi­ni­ka­ner­brü­dern, son­dern auch von zahl­rei­chen Prie­stern, Prä­la­ten und Ordens­obe­ren sehr geschätzt (ins­be­son­de­re sein Kurs über die spi­ri­tu­el­le Theo­lo­gie des Sab­bats).18 Er zeich­ne­te sich sowohl durch sein außer­ge­wöhn­li­ches Wis­sen als auch durch sei­ne bewun­derns­wer­ten Qua­li­tä­ten als Päd­ago­ge aus. „Sei­ne Kur­se“, so wur­de gesagt, „sind kei­ne gespro­che­nen Mono­lo­ge, son­dern gespiel­te Dra­men“.19 Er hat­te auch einen Sinn für Humor, was bei der Ver­mitt­lung solch ern­ster The­men sehr zu schät­zen ist:

„Ich will sein Andenken nicht ver­let­zen“, bezeugt einer sei­ner ehe­ma­li­gen Schü­ler, „aber er hat­te einen Sinn für Komik. Es war sel­ten, daß es in einer Unter­richts­stun­de nicht einen Moment der Hei­ter­keit gab. Dabei hal­fen ihm gewis­se Eigen­hei­ten sei­nes Gesichts: klei­ne, schlaue, schel­mi­sche, extrem beweg­li­che Augen, eine fast voll­stän­di­ge Glat­ze, ein Gesicht, das Schrecken, Wut, Iro­nie, Empö­rung, Ver­wun­de­rung mimen konn­te. Der Kurs war von uner­müd­lich wie­der­hol­ten, mit Span­nung erwar­te­ten Sät­zen durch­setzt. Ich habe Prie­ster gese­hen, die Trä­nen lach­ten und sich herz­haft amü­sier­ten. Dann kehr­te wie­der Ruhe oder ern­ster Schwung ein“.20

Er lehr­te auf Latein, wie es an den römi­schen Uni­ver­si­tä­ten damals noch üblich war. Dabei war sein Latein „dem Fran­zö­si­schen nach­emp­fun­den“21 und er misch­te ger­ne Wör­ter aus sei­ner Mut­ter­spra­che oder dem Ita­lie­ni­schen ein, „ohne jemals den Akzent sei­ner Gas­co­gner Hei­mat zu ver­än­dern“.22

Wenn er nicht unter­rich­te­te, rei­ste er in den Feri­en durch ganz Ita­li­en und Frank­reich, manch­mal auch durch ande­re Län­der Euro­pas oder Ame­ri­kas, um in Klö­stern und Stif­ten zu pre­di­gen. Ende August war er oft in Meu­don, im Hau­se Mari­tain, um der intel­lek­tu­el­len Eli­te der Haupt­stadt geist­li­che Vor­trä­ge zu hal­ten. Vor allem das Ehe­paar Mari­tain, Hen­ri Ghé­on, Charles du Bos, Fürst Vla­di­mir Ghi­ka, Jean Dau­jat und vie­le ande­re, dar­un­ter auch Pro­te­stan­ten und Ungläu­bi­ge, wur­den dort wahr­ge­nom­men.23

Ein immenses und engagiertes Werk

Neben sei­ner Lehr­tä­tig­keit ver­faß­te der Pater zahl­rei­che Wer­ke in latei­ni­scher und fran­zö­si­scher Spra­che. Ins­ge­samt erschie­nen zwi­schen 1909 und 1951 etwa drei­ßig Titel. Eini­ge davon wur­den mehr­fach neu auf­ge­legt und ins Eng­li­sche, Deut­sche, Ita­lie­ni­sche, Spa­ni­sche, Por­tu­gie­si­sche, Nie­der­län­di­sche und sogar Pol­ni­sche über­setzt. Außer­dem ver­öf­fent­lich­te er zahl­rei­che Arti­kel in Zeit­schrif­ten, vor allem in La Revue tho­mi­ste und La Vie spi­ri­tu­el­le der Ordens­pro­vinz Tou­lou­se, und in Wör­ter­bü­chern, vor allem im Dic­tion­n­aire de théo­lo­gie catho­li­que.24

Die gro­ße Kon­tro­ver­se, in der er sich her­vor­tat, war die der Nou­vel­le Théo­lo­gie [Neue Theo­lo­gie]. Seit der Zwi­schen­kriegs­zeit hat­ten ver­schie­de­ne katho­li­sche Den­ker, vor allem Jesui­ten, ver­sucht, sich von der mit­tel­al­ter­li­chen Scho­la­stik zu lösen, um die kirch­li­che Leh­re in einer Spra­che neu zu for­mu­lie­ren, die sowohl den moder­nen Kon­zep­ten näher stand als auch von den Autoren der ersten Jahr­hun­der­te der Kir­che inspi­riert war, die ihnen inter­es­san­ter erschie­nen als der hei­li­ge Tho­mas. Die­se Strö­mung hat­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg gro­ßen Ein­fluß auf den Kle­rus, da ihre Haupt­ver­tre­ter wie Hen­ri de Lubac und Gaston Fes­sard durch ihr Enga­ge­ment in der Rési­stance viel Anse­hen erlangt hat­ten. Pater Gar­ri­gou reagier­te ener­gisch auf die­se Theo­rien in einem Arti­kel mit dem Titel „La nou­vel­le théo­lo­gie, où va-t-elle?“ („Die neue Theo­lo­gie, wohin geht sie?“), der in der Zeit­schrift sei­ner Uni­ver­si­tät erschien.25 Sei­ner Mei­nung nach ging es um nichts Gerin­ge­res als die Zer­stö­rung des katho­li­schen Glau­bens. Die­se Leu­te zer­stör­ten die Auto­ri­tät der Kon­zi­li­en und Päp­ste und lie­ßen den gefürch­te­ten Moder­nis­mus wie­der auf­er­ste­hen. Er kri­ti­sier­te sie ins­be­son­de­re dafür, daß sie die Begrif­fe des Ari­sto­te­les nicht in der Theo­lo­gie ver­wen­de­ten. Er blieb auch der tra­di­tio­nel­len Auf­fas­sung von der Erb­sün­de treu, die von Adam und Eva im Gar­ten Eden began­gen wur­de, und wand­te sich gegen jeden Ver­such, das Dog­ma im Lich­te des Dar­win­schen Evo­lu­tio­nis­mus neu zu interpretieren.

Sei­ne Hal­tung gegen sol­che Neue­run­gen führ­te dazu, daß er in der Nach­kriegs­zeit als kon­ser­va­ti­ver und stren­ger Theo­lo­ge, als Ver­kör­pe­rung einer rigi­den, zur Zen­sur nei­gen­den Theo­lo­gie ange­se­hen wur­de. Unter die­sem Ruf lei­det er noch heu­te. Sein Bio­graph, der Ame­ri­ka­ner Richard Pedd­icord, schrieb sogar, daß sein Name heu­te mit „theo­lo­gi­scher Starr­heit und kirch­li­cher Repres­si­on“26 in Ver­bin­dung gebracht werde.

So galt er als einer der Inspi­ra­to­ren der Enzy­kli­ka Huma­ni gene­ris, die 1950 die Nou­vel­le Théo­lo­gie ver­ur­teil­te. Spä­ter, im Jahr 1955, wur­de er zum Bera­ter des Hei­li­gen Offi­zi­ums ernannt und gab in die­ser Eigen­schaft sei­ne Mei­nung dar­über ab, wel­che Bücher zuge­las­sen oder ver­bo­ten wer­den soll­ten. Sei­ne dog­ma­ti­sche Unnach­gie­big­keit hin­der­te ihn jedoch nicht dar­an, sich dar­um zu bemü­hen, von mög­lichst vie­len Men­schen ver­stan­den zu wer­den. In eini­gen sei­ner Wer­ke kann man den päd­ago­gi­schen Sinn erken­nen, den sei­ne Schü­ler an ihm so sehr schätz­ten. Neben schwie­ri­gen Wer­ken ver­faß­te er auch zugäng­li­che Bücher, von denen Pater Loew, ein Prie­ster in Mar­seil­le, berich­te­te, daß er sie selbst bei den beschei­den­sten Leu­ten ver­wen­den konnte:

„… wenn ich, ohne vor­ge­faß­te Mei­nun­gen, ein­fach nur mei­ne klei­nen Nach­barn oder einen Arbeits­kol­le­gen dazu brin­gen woll­te, das Geheim­nis Got­tes und das ihres eige­nen Lebens zu ent­decken, ging ich zur Quel­le der Theo­lo­gie zurück und sah, daß dort die sub­stan­ti­el­le­ren Pro­ble­me gegen­über den unmit­tel­ba­re­ren her­vor­tra­ten. Auf die Gefahr hin, daß eini­ge Leu­te dar­über lächeln, war die Theo­lo­gie, die sich als am geeig­net­sten und inno­va­tiv­sten erwies, die des hei­li­gen Tho­mas und sei­ner Schü­ler bis zum heu­ti­gen Tag, eines Pater Gar­ri­gou-Lagran­ge, Msgr. Jour­net, Gil­son oder Mari­tain“.27

Das ist nicht ver­wun­der­lich, denn Pater Gar­ri­gou war ein zutiefst guter Mensch gegen­über den Armen:

„Er hat­te tie­fes Mit­leid mit dem Elend der Bedürf­ti­gen. Man konn­te sehen, wie er von den Schwie­rig­kei­ten über­wäl­tigt wur­de, deren Ver­trau­en er im Sprech­zim­mer emp­fing. Er fürch­te­te sich nicht davor, aus­ge­nützt zu wer­den (und das wur­de er oft), aber er hat­te gro­ße Angst davor, gegen­über den wirk­lich Armen zu ver­sa­gen. Und die­se waren in Rom zahl­reich“.28

Es muß gesagt wer­den, daß er selbst in der erbau­lich­sten Armut leb­te und eine sehr ein­fa­che Zel­le ohne über­flüs­si­ge Möbel und flie­ßen­des Was­ser bewohn­te. Er war auch sehr beschei­den, eine Eigen­schaft, die lei­der unter gro­ßen Intel­lek­tu­el­len, selbst unter Katho­li­ken, nicht sehr ver­brei­tet war, und er unter­warf sich in allem der Regel sei­nes Ordens: „Ein vor­bild­li­cher Ordens­mann“, schrieb einer sei­ner Mit­schü­ler, „wid­me­te sein gan­zes Leben der Erbau­ung sei­ner Obe­ren und sei­ner Mit­brü­der durch sei­nen Gehor­sam, der so ein­fach war wie der eines Kin­des, sei­ne Genau­ig­keit, sei­nen Fleiß im Chor, sein Gebet und in allen gemein­sa­men Übun­gen“.29 Pedd­icord schrieb, er sei „der Inbe­griff der Treue zum domi­ni­ka­ni­schen Ide­al“.30

Seine letzten Jahre

Pater Gar­ri­gou-Lagran­ge fei­er­te sei­nen acht­zig­sten Geburts­tag im Jahr 1957. Er war von sei­ner gesam­ten Gemein­schaft umge­ben, und Papst Pius XII. selbst schrieb ihm ein Glück­wunsch­schrei­ben auf Latein. Er wünsch­te ihm neue Kraft, um „neue her­vor­ra­gen­de Wer­ke zu voll­brin­gen“.31 Die letz­ten Jah­re des Theo­lo­gen waren jedoch ein lan­ger Kreuz­weg, ein schreck­li­cher und unauf­halt­sa­mer kör­per­li­cher und gei­sti­ger Verfall.

In den Jah­ren 1959 und 1960 wur­de er nach und nach von sei­nen Lehr­ver­an­stal­tun­gen befreit, um sich end­lich zu erho­len. Doch schon bald erkrank­te er an dem, was wir heu­te Alz­hei­mer nen­nen, eine Krank­heit, die noch schreck­li­cher ist, wenn sie eine Intel­li­genz wie die sei­ne befällt. Im Juli 1960 begab er sich in eine Kli­nik. Er durch­lief ver­schie­de­ne Pfle­ge­hei­me und lan­de­te schließ­lich in einem Non­nen­klo­ster, das auf die Betreu­ung ster­ben­der Prie­ster spe­zia­li­siert war: die kana­di­sche Prie­ster­bru­der­schaft in der Via del­la Cam­il­luc­cia am Stadt­rand von Rom. Dort starb er am 15. Febru­ar 1964.

Nach sei­nem Tod wür­dig­te ihn Papst Paul VI. in einem Brief, der im Osser­va­to­re Roma­no, der offi­ziö­sen Zei­tung des Vati­kans, ver­öf­fent­licht wur­de.32

*Der Auf­satz wur­de in der von Abbé Clau­de Bar­the her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift Res Novae ver­öf­fent­licht und liegt neben dem fran­zö­si­schen Ori­gi­nal bereits in eng­li­scher und ita­lie­ni­scher Über­set­zung vor.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL


1 Depar­te­ments­ar­chiv von Gers (A. D. 32), 5 E 17842, Gebur­ten, 9. Blatt r, Nr. 39.

2 Über ihn, der der hei­li­ge Vin­zenz von Tou­lou­se genannt wird, sie­he MEYER (Jean-Clau­de): La Vie de Mau­rice Gar­ri­gou, Baziè­ge, Pélé-Jeu­nes, 2002.

3 A. D. 32, 5 E 17839, Hei­ra­ten, 23. folio v., Nr. 43.

4 Vgl. GAGNEBET (M.-R.): L’œu­vre du P. Gar­ri­gou-Lagran­ge: itin­é­rai­re intellec­tuel et spi­ri­tuel vers Dieu (Vor­trag gehal­ten in Rom am 27. Mai 1964), Arti­kel in: Ange­li­cum, Bd. 42, Rom, 1965, S. 8.

5 Über das Leben die­ser erstaun­li­chen Per­sön­lich­keit vgl. GARREAU (Albert): Hen­ri Las­ser­re, l’hi­sto­ri­en de Lour­des, Paris, Let­hiel­leux, 1948.

6 Die Tauf­ur­kun­de befin­det sich im Diö­ze­san­ar­chiv (Katho­li­sche Urkun­den, Jahr 1877, Nr. 41).

7 LAVAUD (Marie-Benoît): Le Père Gar­ri­gou-Lagran­ge. In Memo­ri­am, Arti­kel in: La Revue tho­mi­ste, Nr. 64/​2, Tou­lou­se, 1964, S. 195, Nr. 1.

8 Anek­do­te berich­tet von LAVAUD (Marie-Benoît), ebd., S. 182f.

9 Rede von GAGNEBET (M.-R.), op. cit., S. 9–10.

10 Vgl. GUGELOT (Fré­dé­ric): La Con­ver­si­on des intellec­tuels au catho­li­cis­me (1885–1935), Paris, Edi­ti­ons du CNRS, 2010.

11 Lett­res de jeu­nesse au P. Ambroi­se Gar­de­il (1903–1909), ver­öf­fent­licht in: Ange­li­cum, Bd. 42, Rom, 1965, S. 137–194.

12 Mit ihm blieb er lan­ge Zeit in Kon­takt. Er schick­te ihm sei­ne Bücher, ins­be­son­de­re La Pro­vi­dence et la con­fi­ance en Dieu (1932) und Le Sau­veur et son amour pour Dieu (1934), die eine gro­ße Rol­le bei Berg­sons end­gül­ti­ger Kon­ver­si­on zum Katho­li­zis­mus spielten.

13 Brief vom 28. Novem­ber 1903, ebd., S. 142–143.

14 GAGNEBET (M.-R.), a.a.O., S. 17.

15 CONGAR (Yves): Jour­nal d’un théo­lo­gien, 1946–1956, Paris, Le Cerf, 2000, S. 35f: „Er galt unter den fran­zö­si­schen Domi­ni­ka­nern als voll­kom­me­ne, rein­ste Tho­mas-Treue, als hät­te er eine inte­gra­le tho­mi­sti­sche Gnade“.

16 LAVAUD (Marie-Benoît), op. cit., S. 186.

17 Ebd.

18 Ebd., S. 185.

19 GAGNEBET (M.-R.), a.a.O., S. 13.

20 EMONET (P.-M.): Un Maît­re pre­sti­gieux. Zeug­nis ver­öf­fent­licht in: Ange­li­cum, Bd. 42, Rom, 1965, S. 197. Pater Gar­ri­gou war zu die­sem Zeit­punkt etwa sech­zig Jah­re alt.

21 LAVAUD (Benoît-Marie), op. cit., S. 187.

22 GAGNEBET (M.-R.), a.a.O., S. 14.

23 Raïs­sa Mari­tain schrieb den Bericht über die­se Exer­zi­ti­en in ihrem Jour­nal, publi­ziert von Jac­ques Mari­tain, Paris, 1964.

24 Für eine voll­stän­di­ge Biblio­gra­phie sie­he Zor­co­lo (B.): Biblio­gra­phy of Father Gar­ri­gou-Lagran­ge, in: Ange­li­cum, Bd. 42 (1965), S. 200–272 (in chro­no­lo­gi­scher und the­ma­ti­scher Rei­hen­fol­ge). Für eine kür­ze­re Biblio­gra­phie mit einer Zusam­men­fas­sung der ein­zel­nen Bücher sie­he MADIRAN (Jean) und LOUIS (Eugè­ne) in: Itin­é­rai­res, Nr. 86, Paris, Sep­tem­ber-Okto­ber 1964, S. 88–94.

25 GARRIGOU-LAGRANGE (Régi­nald): La nou­vel­le théo­lo­gie, où va-t-elle?, in: Ange­li­cum, Bd. 23, Rom, 1946, S. 126–145. Nach­ge­druckt im Anhang in: La Syn­thè­se tho­mi­ste, Paris, Des­clée de Brou­wer, 1947, S. 699–725.

26 PEDDICORD (Richard): The sacred Mon­ster of Tho­mism, an intro­duc­tion of the life and lega­cy of Regi­nald Gar­ri­gou-Lagran­ge, South Bend, Saint Augustine’s Press, 2005, S. 2: „Für vie­le sym­bo­li­siert Gar­ri­gou-Lagran­ge eine theo­lo­gi­sche Ethik, die durch das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil völ­lig dis­kre­di­tiert wur­de. (…) Gar­ri­gou-Lagran­ge wur­de effek­tiv mit theo­lo­gi­scher Starr­heit und kirch­li­cher Unter­drückung identifiziert“.

27 LOEW (Jac­ques): Jour­nal d’u­ne mis­si­on ouvriè­re, Paris, Le Cerf, 1959, Sei­te 370.

28 LAVAUD (Benoît-Marie), a.a.O., S. 196.

29 Ebd., S. 195.

30 PEDDICORD (Richard), a.a.O., S. XII: „Gar­ri­gou war die Inkar­na­ti­on der Treue zum domi­ni­ka­ni­schen Ideal“.

31 Die­ser Brief wur­de ins Fran­zö­si­sche über­setzt und in Itin­é­rai­res, Nr. 86, a.a.O., S. 1f veröffentlicht.

32 Osser­va­to­re Roma­no, 17./18 Febru­ar 1964, zitiert in: Itin­é­rai­res, Nr. 82, April 1964, S. 127.

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