Der heilige Pater Pio von Pietrelcina, ein Kapuziner, der von 1887 bis 1968 lebte, war ein Vorbild an Respekt und Unterwerfung gegenüber seinen Ordens- und Kirchenoberen. Das galt besonders in der langen Zeit, in der er durch allerlei Zweifler, Neider und Kurzsichtige in der Kirche verfolgt wurde. Dennoch, und gerade das macht ihn auch zum Heiligen, schwieg er nicht zu Abweichungen, die der Kirche schadeten.
Noch vor dem Abschluß des Zweiten Vatikanischen Konzils im Dezember 1965 wurde ihm mitgeteilt, daß die Heilige Messe bald nach einem neuen Ritus ad experimentum weitgehend in der Volkssprache gefeiert werden würde. Die Rede ist noch nicht von der radikalen Liturgiereform von 1969, sondern von der Zwischenstufe, die Papst Paul VI. 1965 als „Experiment“ einführte, die den Wortgottesdienst in der Volkssprache vorsah und in der die Zelebrationsrichtung dem Volk zugewandt war, Gott aber der Rücken zugedreht wurde. 420 Jahre nachdem im Protestantismus dieser revolutionäre Paradigmenwechsel erfolgt war, kopierte die katholische Kirche diesen Bruch hin zur Anthropozentrik. Dieser experimentelle Ritus war von einer von Paul VI. eingesetzten Liturgiekommission entwickelt worden, um auf die Anregungen und Bedürfnisse des „modernen Menschen“ zu antworten, wie es hieß.
Pater Pio schrieb sofort an Paul VI. und bat ihn, von dieser „neuen liturgischen Erfahrung“ befreit, sprich entbunden zu werden. Der Kapuziner bat darum, weiterhin das heilige Meßopfer des heiligen Pius V. zelebrieren zu dürfen, in dem die ganze Fülle des überlieferten Ritus seit Jahrhunderten gebündelt war.
Als Kardinal Antonio Bacci nach Apulien reiste und den Kapuziner in San Giovanni Rotondo auf dem Gargano aufsuchte, um ihm die erbetene Genehmigung zu überbringen, äußerte Pater Pio gegenüber dem päpstlichen Gesandten eine Klage und unmißverständliche Aufforderung:
„Um Himmels willen, setzt dem Konzil ein schnelles Ende.“
Im selben Jahr, inmitten der allgemeinen Konzilseuphorie – Papst Johannes XXIII. hatte bereits in seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanum a priori jede Kritik getadelt und Klerus und Laien aufgefordert, nicht auf die „Unglückspropheten“ zu hören – wurde der Kirche ein „neuer Frühling“ versprochen und eine glorreiche Zukunft vorhergesagt. Nichts davon bewahrheitete sich. Es war ein offensichtlicher Trugschluß blinder „Seher“ und ein Trugbild, von „falschen Propheten“ vorgegaukelt. In diese Stimmung hinein mahnte Pater Pio einem seiner geistlichen Kinder gegenüber wegen jener, die in der Kirche Verantwortung trugen:
„In dieser Zeit der Dunkelheit laßt uns beten. Laßt uns für die Erwählten Buße tun.“
Weitere Szenen aus dem Leben des einfachen Kapuziners sind sehr aussagekräftig. Nur eine sei noch genannt, nämlich seine Reaktion auf die vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestrebte Erneuerung der Ordensgemeinschaften. Die folgenden Zitate stammen aus einem Buch mit dem Imprimatur:
„1966 kam der Vater General der Franziskaner kurz vor dem Sonderkapitel, das sich mit den Konstitutionen befassen sollte, nach Rom, um Pater Pio um Gebet und Segen zu bitten. Er traf Pater Pio im Kreuzgang. ‚Pater, ich bin gekommen, um das Sonderkapitel für die neuen Konstitutionen Euren Gebeten zu empfehlen.…‘ Kaum hatte er die Worte ‚Sonderkapitel‘ und ‚neue Konstitutionen‘ ausgesprochen, machte Pater Pio eine heftige Geste und rief aus: ‚Das ist doch alles nur destruktiver Unsinn‘. ‚Aber, Pater, man muß doch die jüngeren Generationen berücksichtigen… die jungen Leute entwickeln sich nach ihrer Mode… es gibt Bedürfnisse, neue Forderungen.…‘ ‚Das einzige, was fehlt‘, antwortete Pater Pio, ‚sind Seele und Herz, sie sind alles, Intelligenz und Liebe.‘ Und er ging in seine Zelle, drehte sich um und sagte mit dem Finger mahnend: ‚Wir dürfen uns nicht entstellen, wir dürfen uns nicht entstellen! Beim Gericht des Herrn wird der heilige Franziskus uns nicht als seine Kinder aufnehmen!‘ Ein Jahr später wiederholte sich die gleiche Szene, als es um das Aggiornamento [die „Aktualisierung“] der Kapuziner ging.
Eines Tages diskutierten einige Kollegen mit dem Generaldefinitor, dem Berater des Ordensgenerals, als Pater Pio, der eine empörte Haltung einnahm, mit strengem Blick ausrief: ‚Was wollt Ihr in Rom? Was intrigiert Ihr? Wollt Ihr auch die Regel des heiligen Franziskus ändern?‘ Der Definitor antwortete: ‘Pater, man möchte Änderungen vorschlagen, weil die jungen Leute nichts mehr von der Tonsur, dem Habit, den nackten Füßen wissen wollen…‘ ‚Treibt sie hinaus! Treibt sie hinaus! Was soll man dazu sagen? Tun sie dem heiligen Franziskus einen Gefallen, indem sie den Habit annehmen und seine Lebensregel befolgen, oder ist es nicht vielmehr der heilige Franziskus, der ihnen dieses große Geschenk macht?‘“
Pater Pio, eine der großen heiligen Gestalten des 20. Jahrhunderts, zelebrierte die Heilige Messe bis an sein Lebensende in der überlieferten Form des Römischen Ritus. Er feierte nie den experimentellen Ritus von 1965. Die radikale Liturgiereform von 1969 mußte er nicht mehr miterleben, da er von Gott, wenige Monate vor deren Einführung, im 82. Lebensjahr aus dieser Welt abberufen wurde.
Obwohl die Grundprämissen, unter denen Johannes XXIII. das Zweite Vatikanum einberufen hatte, offensichtlich falsch waren, weshalb man sich von Anfang an auf Treibsand bewegte, ist die nötige Überprüfung dieser Weichenstellungen bis heute ausgeblieben. Obwohl das Scheitern vor aller Augen ist, werden die Augen davor verschlossen. Stattdessen wird durch sinnloses Schönreden an dem ungesunden „Tabu“ des angeblich „sakrosankten“ Pastoralkonzils festgehalten. Kein Wirtschaftsunternehmen und keine Regierung kann sich eine solche Fehlleistung erlauben – auch die Kirche nicht. Sie bezahlt sie mit dem Niedergang. Man wollte die „Zeichen der Zeit“ erkennen, doch in Wirklichkeit wollte man die eigenen Egoismen durchsetzen. Jemand wollte schließlich den falschen Weg und ist deshalb auch verantwortlich dafür – und deshalb bis heute an einer Verifizierung nicht interessiert. Dieser Egoismus der Akteure verhindert die notwendige Tat einer ebenso nüchternen wie konsequenten Evaluierung. Pater Pio hatte schon gemahnt, als es noch möglich gewesen wäre, die Weichen anders zu stellen, wurde aber von den Euphorikern in ihrem Rausch nicht gehört. Um genau zu sein: Sie wollten ihn nicht hören.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL