
Die gründlichen Studien von Jean Carmignac (1914–1986), Priester der Erzdiözese Paris, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu der Erkenntnis, daß die synoptischen Evangelien im Original auf hebräisch verfaßt wurden, und bestätigten damit, was schon einige Kirchenväter bezeugt hatten. Aber diese These wurde in der Kirche heftig bekämpft. Luisella Scrosati schrieb darüber 2022 für die Nuova Bussola Quotidiana folgenden Artikel, der nun eine Ergänzung fand. Doch dazu später.
Die Evangelien wurden auf hebräisch geschrieben
Von Luisella Scrosati
Die Frage nach der Originalsprache der Evangelien, insbesondere der Synoptiker, ist ein altes, aber immer wieder furchtbar unbequemes Thema. Abbé Jean Carmignac hat das am eigenen Leib erfahren. Nachdem er die Sprache der sogenannten „Schriftrollen von Qumran“ – gefunden von 1947 bis 1956 im Dorf Qumran, am nordwestlichen Ufer des Toten Meeres – in jeder denkbaren Hinsicht analysiert hatte, gründete Carmignac, der über eine hervorragende Kenntnis des Hebräischen und Aramäischen verfügte, im Jahr 1958 die internationale wissenschaftliche Zeitschrift Revue de Qumran.
Carmignac setzte sich eines Tages in den Kopf, das Markus-Evangelium in die Hand zu nehmen und es ins Hebräische zu übersetzen. Längst nicht jeder kann sich einen solchen Schritt leisten, Carmignac konnte es aber. Und zu seiner Überraschung stellte er fest, daß diese Übersetzung gar nicht so kompliziert war; im Gegenteil. Umständliche und unklare Passagen des griechischen Textes lösten sich in der hebräischen Sprache des 1. Jahrhunderts v. Chr. wunderbar auf. Es gibt im griechischen Text Seltsamkeiten, die nicht dadurch erklärt werden können, indem man einfach darauf verweist, daß das Griechisch des Neuen Testaments nicht das klassische Griechisch sei, sondern das der Koinè, das Griechisch also, das sich seit den Eroberungen von Alexander dem Großen im 4. Jahrhundert verbreitet hatte. Es handelt sich vielmehr um ein Griechisch, das der semitischen Syntax folgt. Dieses semitische Substrat in den griechischen Evangelien kann, nach Carmignacs Schlußfolgerung, dadurch erklärt werden, daß es sich in Wirklichkeit um eine wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische handelt. Und hier begann sein Martyrium.
Seiner These wurde entgegengehalten, daß es genügen würde, anzunehmen, daß die Evangelien, vor allem die Synoptiker, von Juden geschrieben wurden, die die griechische Sprache gut beherrschten; oder von Autoren, die versucht hatten, das Griechisch der Septuaginta zu imitieren. Das semitische Substrat ist laut Carmignac jedoch so beschaffen, daß beide Hypothesen nicht zutreffen. Kein mittelmäßiger Griechisch-Kenner hätte Sätze in einem problematischen Griechisch neben andere in gutem Griechisch gestellt. Aber es gibt noch einen anderen, noch wichtigeren Aspekt: Die Rückübersetzung ins Hebräische offenbart Alliterationen, die das semitische Original belegen und im Griechischen keinen Sinn ergeben.
In Lukas 22,15 finden wir zum Beispiel die Aussage: „Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen“, die mit der Wiederholung von „sehnen“ wiedergegeben ist. Auch die lateinische Vulgata behält diese Alliteration als „desiderio desideravi“ bei, die der Syntax der lateinischen Sprache an sich fremd ist. Ähnlich verhält es sich in Matthäus 2,10, wo die Freude der Heiligen Drei Könige mit einem Ausdruck wiedergegeben wird, der wörtlich wie „sie freuten sich vor Freude“ klingt: absolut normal im Hebräischen, aber nicht im Griechischen (und auch nicht in den meisten modernen Sprachen). Dann gibt es auch hebräische Redewendungen, die im Griechischen wörtlich wiedergegeben werden, aber in dieser Sprache keine Bedeutung haben. Ein eklatanter Fall ist die Stelle Lukas 9,51, die wörtlich wie folgt zu übersetzen ist: „Jesus fixierte sein Gesicht, um nach Jerusalem zu gehen“, wobei „sein Gesicht fixieren“ bedeutet, sich entschlossen für etwas zu entscheiden.
Auch die Hypothese, daß es sich um einen Versuch handelt, das Griechische der Septuaginta zu imitieren, ist nicht haltbar. Wie Prof. Paolo Sacchi, emeritierter Professor für Aramäisch und Hebräisch und für Biblische Philologie an der Universität Turin, vor dreißig Jahren in der Wochenzeitung Il Sabato erklärte, „daß es eine solche Sprache gab, griechisch in der Form, aber hebräisch in der Struktur, ist eine Idee, für die es keinen Beweis gibt […]. Die Septuaginta ist eine Bequemlichkeitserklärung, die am Schreibtisch konstruiert wurde, ohne Beweise, um das Ganze zu erklären. Eine logische Fiktion. […] der eindeutige Beweis dafür, daß das Griechische der Evangelien eine Übersetzung ist, besteht darin, daß es eine Struktur hat, die dem Hebräischen folgt.“
Tatsache ist, daß Carmignac weniger widerlegt, sondern vor allem beleidigt wurde und seine Schriften vom Institut Catholique in „Geiselhaft“ gehalten werden, das sowohl die Einsichtnahme als auch ihre Veröffentlichung verhindert. Es ist bekannt, daß die Unnachgiebigste von allen „die Wissenschaft“ ist.
Doch neben den internen Argumenten, die Carmignac vorbrachte, und nicht nur er, gibt es auch ganz wichtige externe Beweise. Origenes, der von Eusebius von Cäsarea überliefert wird, und Hieronymus bestätigen übereinstimmend die Existenz eines jüdischen Matthäus-Evangeliums. Ersterer bekennt sich zu der „Überlieferung über die vier Evangelien“, die besagt, daß „das Evangelium nach Matthäus zuerst geschrieben wurde, der einst ein Zöllner und dann ein Apostel Jesu Christi war. Er veröffentlichte es für die Gläubigen, die aus dem Judentum kamen, und verfaßte es in hebräischer Sprache“ (Historia Ecclesiastica, VI, 25. 4).
Hieronymus fügt ein sehr wichtiges Detail hinzu: Der hebräische Text des Matthäus „wird noch in der Bibliothek von Cäsarea aufbewahrt, die der Märtyrer Pamphilos mit großer Sorgfalt zusammengestellt hat. Auch die Nazarener, die in Beröa, einer Stadt in Syrien, von diesem Werk Gebrauch machen, haben mir Gelegenheit gegeben, es abzuschreiben“ (De Viris Illustribus, 3.2). Kurzum, er ist ein Augenzeuge des hebräischen „Originals“ von Matthäus. Irenäus von Lyon wiederum bestätigt die Abfassung dessen, was traditionell als erstes Evangelium gilt, in hebräischer Sprache, und er fügt eine brisante Klarstellung hinzu: „So veröffentlichte Matthäus unter den Juden eine schriftliche Form des Evangeliums in ihrer eigenen Sprache, während in Rom Petrus und Paulus das Evangelium predigten und die Kirche gründeten“ (Adversus haereses III, 1.1). Matthäus ist nicht nur der erste, der das Evangelium geschrieben hat, sondern es wird auch deutlich gemacht, daß es bereits in den Jahren verfügbar war, als Petrus und Paulus in Rom predigten.
Was Markus betrifft, so ist es wiederum Eusebius von Cäsarea, der ein wichtiges Zitat von Papias von Hierapolis wiedergibt: „Markus, der Dolmetscher des Petrus, berichtete genau, aber ungeordnet, was er von den Reden und Taten des Herrn in Erinnerung hatte. Denn er hatte ihn nicht persönlich gehört und war nicht sein Jünger gewesen, sondern […] der des Petrus; dieser lehrte nach Bedarf, ohne die Reden des Herrn zu ordnen. Markus hat sich also in nichts geirrt, als er einige von ihnen so wiedergab, wie er sie in Erinnerung hatte. Denn er war nur auf eines bedacht: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen und nichts Falsches zu berichten“ (Historia Ecclesiastica, III, 39. 15). Markus wird hier als „Dolmetscher“ des Petrus bezeichnet, was auf Griechisch hermeneutes, also Übersetzer, bedeutet. Es handelt sich also um eine Übersetzung der Predigt des Petrus aus dem Hebräischen (schriftlich oder mündlich?) ins Griechische.
Abbé Carmignac findet in den antiken Zeugnissen mehr Unterstützung als bei den modernen Katechisten. Wie wir sehen, wird seine These, die in der französischen Welt begraben wurde, in der britischen Welt mit Nachdruck wiederbelebt.
Soweit der Scrosati-Artikel von 2022. Der Blogger Investigatore Biblico (Biblischer Ermittler) schrieb heute dazu, daß er „einen alten Freund“ beim Institut Catholique in Paris kontaktierte, um Aufklärung darüber zu erhalten, ob es stimmt, was Scrosati berichtete, daß Carmignacs Werk dort unter Verschluß gehalten wird. Und tatsächlich wurde ihm dies Punkt für Punkt bestätigt. Der Blogger deckt zweifelhafte Stellen oder offenkundige Fälschungen in modernen Bibelübersetzungen auf, inbesondere in der neuen Übersetzung der Italienischen Bischofskonferenz. Über die „Bibelfälscher“ schrieb bereits der 2020 verstorbene Neutestamentler Klaus Berger. Hier der Bericht des Investigatore Biblico:
Die Bestätigung aus dem Institut Catholique
„Verrückte Sachen gib es. Also bat ich diesen alten Freund (dem ich von ganzem Herzen danken möchte), mir (vertraulich) zumindest Auszüge einiger von Abbé Jean studierten Verse zu schicken. Und er hat mir einige sehr interessante Dinge geschickt. Diese bestätigen, daß Abbé Carmignac Recht hatte. Und daß vielleicht die pseudoprotestantischen Lobbys, die sich in das katholische Bibelstudium eingemischt haben, immer noch die Veröffentlichung und Verbreitung seiner Studien verhindern.
Ich mache diese Dinge öffentlich, weil es richtig ist, daß die Gläubigen die Wahrheit kennen. Dieser Bibelwissenschaftler hat eine kolossale Entdeckung gemacht, die von der zeitgenössischen theologisch-biblischen ‚Intelligenz‘ noch immer ignoriert wird. Wenn sie wenigstens imstande wären, übersetzen zu können…
Carmignac hat nachgewiesen, daß die Originalevangelien nur in hebräischer Sprache verfaßt worden sein können. Sehen Sie, was er entdeckt hat. Ich zitiere die gleichen Verse, die Scrosati in dem oben zitierten Artikel wiedergibt.
Lk 22:15: „Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen“.
Abbé Jean argumentierte (indem er vom Griechischen ins Hebräische übersetzte – eine immense Arbeit), daß das Griechische des Lukas nichts anderes als eine Übersetzung aus dem Hebräischen ist. In der Tat, wie Scrosati schrieb, „ist es ein Griechisch, das einer semitischen Syntax folgt. Dieses semitische Substrat im Griechischen der Evangelien läßt sich nach Carmignac dadurch erklären, daß es sich um wörtliche Übersetzungen hebräischer Texte ins Griechische handelt“.
Im Griechischen lautet der Ausdruck in Lk 22,15 wie folgt:
„ἐπιθυμίᾳ ἐπεθύμησα“ (ich sehnte mit Sehnen).
Aus Dokumenten, die mir mein „Maulwurf“ am Institut Catholique geschickt, hat Carmignac den Ausdruck wie folgt ins Hebräische übersetzt (transliteriert):
„NIKSOF NIKSAFETI“ (ich sehnte mit Sehnen).
Und die Vulgata des heiligen Hieronymus übersetzt ebenfalls „desiderio desideravi“. Das Griechische gibt nichts anderes als einen Semitismus wieder, d. h. eine hebräische Redewendung. Und schon hier wird deutlich, daß derjenige, der ins Griechische übersetzt hat, aus einem älteren, in Hebräisch geschriebenen Text übersetzt hat.
Ein anderer Semitismus findet sich in Matthäus 2,10 (die Freude der heiligen Drei Könige):
Aus dem Griechischen „ἐχάρησαν χαρὰν“ (sie freuten sich vor Freude).
Im Hebräischen übersetzt Abbé Jean wie folgt:
„VAISMECHU SIMCHAH“ (sie freuten sich vor Freude).
Auch hier hat Carmignac also einen Semitismus (eine typisch hebräische Schreib- oder Ausdrucksweise) entdeckt. Damit ist zweifelsfrei bewiesen, daß das Evangelium zuerst auf Hebräisch geschrieben und später ins Griechische übersetzt wurde.
Die griechischen Texte des Neuen Testaments in den verschiedenen Bibelkodizes sind eine Übersetzung aus dem Hebräischen.
Diese beiden Verse, die ich nun im folgenden veröffentliche, sind unveröffentlicht. Sie stammen aus den vom Institut Catholique unter Verschluß gehaltenen Carmignac-Unterlagen.
Der Semitismus im Markusevangelium (Mk 10,38): aus dem Griechischen βαπτίζομαι.
Die Vulgata übersetzt: ‚baptizor, baptizari‘.
Die Anmerkung meines Maulwurfs zur hebräischen Übersetzung von Abbé Carmignac gibt denselben Vers wieder:
„ULKITTAVEL BATVILAH“ von der gleichen Wurzel ‚TAVAL‘ (baden, untertauchen)
Der Semitismus im Johannesevangelium:
- Joh 4,23: „προσκυνηταὶ προσκυνήσουσιν“ (die Anbeter sollen anbeten)
- Vulgata: „adoratores adorabunt“.
- In Joh 1,51 bis Joh 13,21 (nur zwei Beispiele) haben wir stattdessen: ἀμὴν ἀμὴν (klassischer semitischer Ausdruck Jesu: „Wahrlich, in Wahrheit sage ich euch…“).
- Vulgata: ‚Amen, amen‘
- Abbé Carmignac übersetzt ins Hebräische (transliteriert, weil AMEN ein hebräisches Wort ist): ‚AMEN – AMEN‘.
Anmerkung: Und ich öffne und schließe schnell eine Klammer: Für Carmignac gab es keinen Zweifel, daß der Autor des Johannes-Evangeliums auch tatsächlich der heilige Johannes Evangelist ist.
Ich behalte mir das Recht vor, weiteres unveröffentlichtes Material über diesen großen, von der Lobby der zeitgenössischen Bibelwissenschaftler brüskierten Bibelgelehrten zu veröffentlichen, das mir von meiner Quelle am Institut Catholique zugesandt wird. Denn um eine Lobby geht es.
Objektiv betrachtet, hat Abbé Carmignac eine große Entdeckung gemacht. Ich verstehe nicht, warum seine Studien über die Evangelien nicht veröffentlicht werden. Stören sie vielleicht jemanden? Vielleicht ‚vernebeln‘ oder ’stören‘ sie die neoprotestantischen Theorien der verschiedenen zeitgenössischen Übersetzer, die die Bibelübersetzungen verunreinigen.
Wie Scrosati zu Recht schreibt, hatte Carmignac als Stütze für seine Studien keinen Geringeren als den heiligen Hieronymus. Wir wissen, daß Hieronymus im Jahr 420 in Bethlehem starb. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es also offensichtlich noch einen Evangelientext in hebräischer Sprache, denn Hieronymus ist sein Augenzeuge und berichtet darüber.
Kurzum, es gibt noch viel zu studieren und zu erforschen zu diesem Thema. Und genau das habe ich vor zu tun – mit Hilfe meines ‚Maulwurfs‘.
Einleitung/Übersetzungen: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ