
Von Cristina Siccardi*
Der 26. Juli ist der Festtag der heiligen Anna, der Mutter der Jungfrau Maria. In den kanonischen Evangelien wird nichts über sie berichtet, während einige Nachrichten in den apokryphen Evangelien zu finden sind. Dank der kirchlichen Tradition gibt es dennoch einiges zu erzählen.
Hagiographische Züge werden zuerst im apokryphen Jakobusprotoevangelium und im Pseudomatthäusevangelium berichtet, und im Laufe der Jahrhunderte wurden weitere Bereicherungen hinzugefügt, die in der Legenda Aurea des dominikanischen Erzbischofs Jacopo da Varazze (ca. 1230–1298) zusammengefaßt wurden. Es ist erwähnenswert, daß mehrere östliche Heilige über das Thema der Mutter der Jungfrau Maria gepredigt haben, wie der heilige Johannes von Damaskus (670/680–749), der heilige Epiphanius von Salamis (um 310–403) und der heilige Sophronius von Jerusalem (um 560–638). Die Geschichten der Heiligen wurden später in dem Traktat De Laudibus Sanctissimae Matris Annae von 1494 gesammelt, und 1584 dehnte Papst Gregor XIII. (1501/1502–1585) das Fest der Heiligen Anna auf die gesamte katholische Kirche aus.
Ihr Ehemann Joachim, ein tugendhafter und sehr wohlhabender Mann aus dem Stamm des Königreichs Juda und aus dem Geschlecht Davids, war unfruchtbar und wurde öffentlich gedemütigt, da ihm im Tempel Opfergaben verweigert wurden, weil er Israel keine Kinder geschenkt hatte. Als auch Annas Dienerin ihn beschimpfte, beschloß er, sich in die Wüste zurückzuziehen, wo er fastete und betete. Der Überlieferung nach erschien Anna und Joachim, während sie getrennt waren, ein Engel, der ihnen die bevorstehende Empfängnis eines Kindes ankündigte, und so trafen sie sich am Goldenen Tor in Jerusalem. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Giottos Darstellung der Begegnung von Anna und Joachim am Goldenen Tor in der Cappella degli Scrovegni in Padua, auf der ein keuscher Kuß zwischen Braut und Bräutigam abgebildet ist, der als unbefleckte Empfängnis Marias gilt.

Die wundersame Geburt eines Kindes erinnerte an zahlreiche unerwartete Geburten im Alten Testament: Sprößlinge der göttlichen Gnade und nicht des Fleisches. Wie Samuel wird auch die Jungfrau Maria im Tempel in Jerusalem vorgestellt und geweiht werden. Der Überlieferung nach lebten Anna und Joachim mit dem Kind in Jerusalem in der Nähe des heutigen Löwentors im nordöstlichen Teil der Altstadt, wo sich die Überreste des Teiches von Bethesda befinden. An der Stelle, an der Joachim, Anna und Maria lebten, steht heute die St.-Anna-Kirche, die von den Kreuzfahrern im 12. Jahrhundert errichtet wurde.
Nach kirchlicher Überlieferung wurden die sterblichen Überreste der heiligen Anna von den heiligen Geschwistern Lazarus, Martha und Maria in die Provence gebracht, nach anderen Quellen vom heiligen Auspicius, dem ersten Bischof von At1 in der Provence (okzitanisch Provença), der Ende des ersten Jahrhunderts hierher geschickt wurde und im Jahr 102 den Märtyrertod starb. Aus Angst vor arabischen Invasionen wurden die Reliquien der Mutter der Heiligen Jungfrau Maria später unter der Kathedrale vergraben. Karl der Große (742–814) begab sich nach seinem Sieg über die Sarazenen am Ostersonntag 792 zum Gebet in die Kathedrale Senta Anna d’At2. Auf Anraten eines jungen Mannes, der von Geburt an blind, taub und stumm war, grub er selbst an einer bestimmten Stelle in der Kathedrale, und es kam eine Krypta zum Vorschein, die von einer Lampe erhellt wurde, die vor dem Grab der heiligen Anna trotz des Mangels an Sauerstoff nie aufgehört hatte zu brennen. Der junge Mann, der dem künftigen Kaiser die Stelle angewiesen hatte, wurde sofort von seinen Gebrechen geheilt, und der Schrein wurde zu einem bedeutenden Pilgerziel und zu einem heiligen Ort, der mit zahlreichen von Papst Hadrian I. gewährten Ablässen verbunden wurde.
Einer anderen Überlieferung zufolge wurden die Reliquien der heiligen Anna von dem Centurius Longinus vor der Zerstörung bewahrt. Die Überreste wurden im Heiligen Land aufbewahrt, bis einige Mönche sie nach Frankreich brachten. Dort wurde der Leichnam aus Angst vor arabischen Überfällen in einem Zypressensarg eingeschlossen und vorsorglich in einer Kapelle eingemauert, die unter der im Bau befindlichen Kathedrale von At ausgehoben wurde. Viele Jahre später erfolgte die Entdeckung, der den Erzählungen zufolge mehrere Wunder vorausgingen, die zur Identifizierung des Leichnams führten, vor allem dank einer Inschrift in griechischer Sprache. Später wurden die Reliquien zwischen Adeligen und Geistlichen aufgeteilt. Durch die Adelsfamilie Ventimiglia mit Besitz in der Provence und in Ligurien, die sich im Hochmittelalter mit einer Nebenlinie des normannischen Königshauses von Sizilien versippt hatte, wird heute der Schädel der heiligen Anna auf Sizilien in der Kapelle des Schlosses dei Ventimiglia in Castelbuono in der Provinz Palermo aufbewahrt. In der Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Castelbuono befinden sich zwei wunderschön gearbeitete Statuen aus dem 18. Jahrhundert mit Gewändern aus Stoff, die die heilige Anna und den heiligen Joachim darstellen, und dazwischen ein Darstellung Mariens als Kind, die Miterlöserin, die, was nicht weiter verwunderlich ist, mit einer Krone auf dem Kopf sehr an das Jesuskind erinnert, aber zusätzlich von zwölf Sternen umgeben ist und zu deren Füßen sich eine Mondsichel befindet.

Die Wallfahrt nach Santez Anna-Wened3 in der Bretagne (bretonisch Breizh), dem zweitwichtigsten Wallfahrtsort Frankreichs nach dem Heiligtum in Lorda4, hat einen anderen Ursprung. Zwischen 1623 und 1625 hatte ein bretonischer Bauer, Iwan Nikolazig5 (1591–1645), der weder lesen noch schreiben konnte, aber sehr fromm war und in seiner Gemeinde hohes Ansehen genoß, Erscheinungen der heiligen Anna. Eines Nachts sahen er und sein Schwager auf dem Feld von Bossennoù6 eine weiße Frau mit einer Kerze in der Hand. Am 25. Juli 1624, am Vorabend des Festes der heiligen Anna, erschien ihm die Dame erneut: Es war Nacht und sie begleitete ihn mit einer Fackel in der Hand nach Hause. Sie sagte ihm deutlich: „Iwan Nikolazig, hab keine Angst. Ich bin Anna, die Mutter von Maria. Sage Deinem Priester, daß auf dem Stück Land, das Bossennoù heißt, einst eine Kapelle in meinem Namen stand. Ich möchte, daß sie so schnell wie möglich wiederaufgebaut wird und daß Du Dich um sie kümmerst, denn Gott möchte, daß ich dort geehrt werde“ (vgl. Geschichte des Heiligtums von Sainte Anne d’Auray). Die heilige Anna bat also um den Wiederaufbau einer ihr geweihten Kapelle an einem Ort, an dem eine bereits existiert hatte, aber um 700 zerstört worden war. Die Geschichte von Iwan Nikolazig und den Erscheinungen der heiligen Anna ist bekannt und gut bezeugt, insbesondere durch die Aussage, die er am 12. März 1625 im Pfarrhaus von Plunered7 in der Diözese Gwened8, seinem Geburtsort, vor dem Apostolischen Notar Jacques Bullion machte.
In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1625 erschien die heilige Anna erneut und riet dem Seher, seine Nachbarn mitzunehmen und dem Licht einer Fackel zu folgen. Am Ziel angekommen, fand er eine alte Holzfigur der heiligen Anna. Drei Tage später kamen die ersten Pilger, um vor der Darstellung zu beten. Trotz der Vorbehalte des Pfarrers wurde die erste offizielle Messe auf Entscheidung des Bischofs von Gwened am 26. Juli 1625 zelebriert, und nachdem der anfängliche Widerstand des Klerus überwunden war, wurde 1627 eine Kapelle errichtet. Der Diener Gottes Iwan Nikolazig – am 27. November 1937 wurde eine diözesane Voruntersuchung zu seiner Seligsprechung eröffnet – wurde von seinen Zeitgenossen „der Baumeister“ genannt, da er selbst die Arbeiten leitete und seine Kraft für den Bau des Heiligtums einsetzte, das 1633 den Karmelitern anvertraut und von den Päpsten mit zahlreichen Ablässen ausgestattet wurde. Während der Französischen Revolution wurde die Statue der heiligen Anna 1792 während der Jakobiner-Herrschaft in Stücke geschlagen und verbrannt. Eine barmherzige Hand rettete jedoch das Gesicht, das in den Sockel der heutigen Statue eingelassen ist.

Die heilige Anna ist die Schutzpatronin und das Vorbild der Familienmütter und aller Tätigkeiten, die mit dem häuslichen Bereich verbunden sind: Weberinnen, Näherinnen, Klöpplerinnen, Trödlerinnen… aber sie ist auch die Schutzpatronin der Seeleute. Tausende von Ex voto künden in Santez Anna-Wened von Gebetserhörungen. Sie, die ohne Schmerzen ihre unbefleckte Tochter gebar, wie die Tradition bezeugt, ist die Schutzpatronin der Schwangeren, der Wöchnerinnen und der Hebammen.
In Rom wurden die Kerzen der heiligen Anna gesegnet, die die Frauen während ihrer Entbindung anzündeten. Sie ist aber auch die Schutzpatronin der Erzieherinnen, denn sie wird oft dargestellt, wie sie ihrer Tochter Maria das Lesen beibringt. Die Tätigkeiten als Ehefrau, Mutter, Haushälterin und Erzieherin, die die heilige Anna auf ehrende Weise ausübte, sind diejenigen, derer sich viele Frauen unserer Zeit schämen oder deren es ihnen ermangelt, weil sie sich feministischen und antichristlichen Ideen unterworfen haben.
Und zu guter Letzt und als Krönung ihrer Verdienste ist die heilige Anna nach zutiefst theologischer Lesart auch die Schutzpatronin der Schreiner und Tischler, da sie in ihrer Tochter den ersten Tabernakel, der unseren Herrn Jesus Christus beherbergte, realisiert und geformt hat.

*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und erneuert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Wikicommons
1 In der Übersetzung werden für Personen und Orte die okzitanischen und bretonischen Namen verwendet, die durch die auf die Französische Revolution folgende Französisierung vielfach verdrängt oder in ihrer Geltung eingeschränkt wurden. Die Bischofsstadt At heißt auf französisch Apt.
2 frz. Sainte-Anne d’Apt
3 frz. Sainte Anne d’Auray.
4 frz. Lourdes.
5 Iwan Nikolazig ist heute vor allem unter seinem französisierten Namen Yvon (Yves) Nicolazic bekannt.
6 frz. Bocenno.
7 frz. Pluneret
8 frz. Vannes
Im Zusammenhang gesehen, ergibt sich folgendes logisches Bild:
Von der Erbünde wurde nur die allerseligste Jungfrau Maria um der Verdienste Christi willen bewahrt (Fest der unbefleckten Empfängnis Mariä, 8 Dez.) Die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias, die von jeher in der kirchlichen Überlieferung enthalten war, wurde im Jahre 1854 von Pius IX. feierlich zum Glaubenssatz erhoben. (Zitat aus ‚Großer Katholischer Katechismus’von 1948, S. 48, Punkt 77)
Belege aus der Hl. Schrift:
Die absolute Sündlosigkeit des Herrn Jesus wird an vielen Stellen der Schrift hervorgehoben. Sie ist auch das Thema von Paulus, Petrus und Johannes. Dabei betont jeder dieser Schreiber einen ganz bestimmten Aspekt.
Paulus, der eine besondere Erkenntnis in den Gedanken Gottes hatte (Eph 3,4; Phil 3,8), schreibt davon, dass der Herr Jesus keine Sünde kannte (2. Kor 5,21).
Petrus, der in seinen beiden Brief besonderen Wert auf den christlichen Wandel und das damit verbundene Zeugnis nach außen legt (1. Pet 1,15.17; 2,12: 2. Pet 3,11), hebt hervor, dass der Herr keine Sünde tat (1. Pet 2,22).
Johannes, der in seinen Schriften das ewige Leben vorstellt, das vom Himmel auf die Erde kam und nun in uns ist (1. Joh 1,2; 5,20), stellt klar, dass in Ihm keine Sünde ist (1. Joh 3,5). (Quelle: https://www.bibelstudium.de/articles/5896/die-suendlosigkeit-des-herrn-jesus.html)
Wenn der Messias Jesus, der Fleisch angenommen hat aus Maria der Jungfrau, sowohl frei war von der Erbsünde als auch von jedweder sonstigen Sünde, dann kann seine Mutter selbst unmöglich mit der Erbsünde oder einer sonstigen Sünde behaftet gewesen sein.
Logische Folgerung: Maria, die Jungfrau, war frei von Sünde. Also muss sie von ihren Eltern Joachim und Anna unbefleckt gezeugt worden sein!
Paulus berichtet im Brief an die Galater im griechischen Originaltext (Gal 4,4): „Als aber die Erfüllung der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn aus, geworden aus einem Weibe [= im Sinne von verheiratete Frau], gekommen unter das Gesetz.“
Paulus vermeidet die altgriechischen Wörter τίκτω bzw. γεννáw für den normalen Geburtsvorgang in auffälliger Weise!
Indem Paulus schreibt „geworden“ anstatt „geboren“, bestätigt er den Satz „Das Wort ist Fleisch geworden“ und bekräftigt die Realität des aus der Jungfrau gewordenen Fleisches des Messias Jesus.
Logische Schlussfolgerung: a) Jesus ist nicht auf herkömmliche Weise gezeugt worden. b) Jesus ist nicht auf herkömmliche Weise geboren worden. c) Da Maria nicht dem Lohn der Sünde unterworfen war, kann sie unmöglich dem Fluch in 1. Mose 3:16 unterworfen gewesen sein: „Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären.“
Weitergehende Schlussfolgerung: Als von Gott besonders auserwähltes und für die Mitwirkung an unserer Erlösung vorbereitetes Geschöpf war Maria nicht nur frei von Sünde, sondern auch vom Tod (wie wir ihn kennen).
Sie entsprach dem vollkommen Urbild eines Menschen vor dem Sündenfall. Somit ist Maria auch das Urbild der Kirche Jesu Christi.
Die Aufnahme Marias in den Himmel mit Leib und Seele am Ende ihres irdischen Lebens bedeutet, dass sie nicht dem Tod und der Verwesung unterworfen war.
„Seht, ich will euch ein Geheimnis sagen – nicht alle von uns werden sterben! (1. Kor 15,51)
Woher weiß der Hl. Paulus das so genau? Woher hat er dieses Geheimnis? Ist das ein Hinweis auf die Aufnahme Marias in den Himmel mit Leib und Seele? Bekanntlich sagt das Dogma Papst Pius XII. von 1950 nichts von einem Sterben Marias!
Entweder hat Paulus das Geheimnis von den Aposteln erfahren oder – was für mich wahrscheinlicher ist – auf direktem Wege durch eine der Offenbarungen des Herrn, von denen er im 2. Brief an die Korinther 12, 1–5 berichtet.
Im 1. Brief an die Thessalonicher 4,13–17 geht er auf das Geheimmnis, dass nicht alle sterben werden, näher ein.
Wie man sieht, gibt es nicht nur in der mündlichen Überlieferung, sondern auch in der Hl. Schrift sehr wohl eindeutige Belegstellen (zumindest in zuverlässigen Übersetzungen aus dem griechischen und hebräischen Urtext).
Danke für den Artikel, auch wenn ich die Schauungen der heiligen Anna Katharin Emmerick dazu vermisse.…