
Sie war ein Belle-Époque-Star, Tänzerin, Kurtisane, Schriftstellerin, geschieden, bisexuell, dann sogar Prinzessin, aber schließlich fand sie auf ihrem Weg Gott. Rino Cammilleri erinnert an Liane de Pougy (1869–1950), die als Anne-Marie Chassaigne an einem 1. April als Tochter eines französischen Kavallerieoffiziers und einer spanischen Mutter in La Flèche geboren wurde. Doch hören wir Cammilleri.
La plus belle femme du siècle…
Von Rino Cammilleri*
Eine Tugend, die der heilige Thomas bewunderte, war die Hochherzigkeit. Das ist nicht zu verwechseln mit Liberalität. Magnanimitas – wörtlich: große Seele – haben wohlgemerkt auch schlechte Menschen. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Hühnerdieb und einem bewaffneten Serien-Bankräuber. Das heißt, man kann auch im Bösen kleinlich sein, aber ein großer Schurke, der sich bekehrt, wird ein großer Heiliger. Man denke an den heiligen Paulus oder den heiligen Augustinus sowie an eine ganze Reihe von Heiligen, die, von den „sieben Dämonen“ befreit, zur Magdalena werden. Manzoni hat dies gut verstanden und zwei große Konvertiten (Bruder Christoph und den Ungenannten) in sein Meisterwerk aufgenommen. Apropos Magdalena: Diese Heilige hatte ihre Nachahmerinnen auch in der Belle Époque, dem puritanischen viktorianischen Zeitalter, als der Skandal real und planetarisch war. Und eine Frau, die sich dieser Aufgabe widmete, hatte hundertmal mehr Mut und Entschlossenheit als die heutigen TikTok-Starlets. An dieser Stelle, die ich seit mehr als zwanzig Jahren besetze, habe ich über einige von ihnen berichtet; Sie brauchen nur in der Sammlung von The Kattolic zu stöbern. Hier finden Sie Ève Lavallière, die Königin der Comédie Française, die sich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen hat. Oder die Baronin Alessandra Di Rudinì, Tochter eines Ministerpräsidenten, verheiratet, mit Kindern, die ohne Rücksicht auf ihr Ansehen zur Geliebten von Gabriele D’Annunzio wurde, aber ihre Tage in einem Kloster beendete. Oder Ida Rubinstein, eine umschwärmte Tänzerin, die sich nicht scheute, nackt aufzutreten, und auch eine Nymphe des Dichters war, auch sie bekehrte sich und ließ ihre Spuren in einem Kloster verlieren.
Die erste Scheidung

Heute werde ich über eine dieser fatalen Frauen sprechen, eine von denen, die damals die Köpfe von Staatsoberhäuptern, Tycoons und Mitgliedern des Hochadels verdrehten, von denen nicht wenige so weit gingen, sich das Hirn wegzupusten, weil sie ihre Gunst nicht erlangen konnten oder weil sie, nachdem sie sie erlangt hatten, merkten, daß sie sie teilen mußten. Die Figur, über die wir heute sprechen werden, wurde von den Zeitgenossen als „plus jolie femme du siècle“ bezeichnet, als „die schönste Frau des Jahrhunderts“. Im Mittelpunkt stand dabei ihre Rivalität mit der berühmten Bella Otero, der anderen Miss Universe, die mit ihren betörenden Tänzen Heerscharen von Männern aller Ränge den Schlaf raubte. Ihr Name war Liane de Pougy, und ihr Skandal war, wenn überhaupt, der skandalöseste von allen, denn sie schlief nicht nur mit Männern, sondern auch mit Frauen. Und unter freiem Himmel. Ihr richtiger Name war Anne-Marie-Olympe Chassaigne, eine Französin, die 1869 in La Flèche an der Loire geboren wurde. Ihr Vater war Offizier in der Armée und ihre Mutter eine Adelige spanischer Herkunft. Sie wurde in das Internat der Jesuiten in Ste-Anne-d’Auray geschickt, einem Ort, der dem Glauben sehr kostbar ist, weil dort zwei Jahrhunderte zuvor die einzige anerkannte Erscheinung der heiligen Anna, der Mutter der Gottesmutter, stattfand. Im Alter von sechzehn Jahren heiratete sie den Leutnant Henri Pourpre, mit dem sie einen einzigen Sohn, Marc, hatte. Letzterer wurde Jagdflieger und fiel im ersten Jahr des Ersten Weltkriegs. Ihr Mann entpuppte sich als gewalttätig. Es scheint, daß sie ihm schnell Hörner aufsetzte und sich dafür sogar einen Pistolenschuß einhandelte, als er sie mit ihrem Liebhaber erwischte. Die unglückliche Ehe dauerte nur zwei Jahre. Sie ging nach Paris und reichte die Scheidung ein, was ihre katholischen Eltern in Aufruhr versetzte. Dabei wußten sie gar nicht, was ihre Tochter alles tat.
Herzschmerz und Erfolg
In der Hauptstadt war sie bald von Henri Meilhac fasziniert, einem etablierten Dramatiker, der ihr sogar eine Stelle in den Folies Bergère verschaffte, dem berühmten und grenzüberschreitenden Varieté, das noch heute existiert. Er bezahlte ihr Schauspiel- und Tanzunterricht bei der berühmten Madame Mariquita, eigentlich Marie-Thérèse Gamalery, einer Choreografin, die in der Nähe von Algier geboren wurde und als Findelkind, das von einer Familie aus Spanien angenommen wurde, nur unter ihrem Künstlernamen (‚mariquita‘: ‚Marienkäfer‘ auf spanisch) bekannt war. So wurde aus der jungen Anne-Marie die Kabarettänzerin Liane de Pougy. Es dauerte nicht lange, bis Émilie-Louise Delabigne, eigentlich Gräfin Valtesse de La Bigne, eine Edelkurtisane, auf sie aufmerksam wurde und sie in die Pariser High Society einführte und ihr alle Tricks beibrachte, um ihren Preis zu erhöhen. Liane konnte bald Namen wie Maurice de Rothschild, aus dem französischen Zweig der berühmten Bankiersfamilie, der das Erbe des neapolitanischen Zweigs erhielt und den Schweizer Zweig begründete, den Engländer George Herbert, fünfter Earl of Carnarvon, der die Ausgrabung des Grabes von Pharao Tutanchamun finanzierte, und den polnischen Grafen Roman Potocki, Sohn eines österreichischen Ministerpräsidenten und Urenkel des Romanciers und Diplomaten Jan Potocki, zu ihren Bewunderern zählen (was als Untertreibung zu verstehen ist). Es war der berühmte Edmond de Goncourt, der den Begriff „die schönste Frau des Jahrhunderts“ einführte. Liane wurde durch Geschenke sehr reich, nicht zuletzt, weil sie, wie erwartet, beide Geschlechter verwöhnte. Sie besaß einen ganzen Palast im Zentrum von Paris, eine Sommerresidenz in der Bretagne und eine Privatsuite im Carlton in Lausanne in der Schweiz. Auch die Kulturwelt buhlte um sie. Max Jacob zum Beispiel verbrachte seine Ferien bei ihr.
Sapphische Geschichten und Skandale
Ja, denn Liane de Pougy hatte auch ein Talent zum Schreiben und schrieb Romane und Theaterstücke. Schamlose. Hier sind ein paar Titel: Sapphisches Idyll und Die Empfindungen des Fräulein de La Bringue. Im Jahr 1899 lernte sie die amerikanische Schriftstellerin Natalie Clifford Barney kennen, und die beiden wurden coram populo ein Liebespaar. Ihre Affäre füllte eine Zeitlang die Chroniken, doch dann langweilte sich die Amerikanerin. Liane hat ihre Geschichte in dem oben genannten Roman niedergeschrieben, der ein Bestseller wurde. 1910, auf dem Höhepunkt ihres zweifelhaften Ruhms, heiratete sie den rumänischen Prinzen Gheorghe Ghika aus einem albanischen Geschlecht orthodoxen Glaubens, das von 1658 bis 1856 mehrfach im Fürstentum Walachei und auch im Fürstentum Moldau herrschte. Liane wurde zur Prinzessin. Die Verbindung hielt gut sechzehn Jahre, dann brannte der Prinz mit der viel jüngeren Manon Thiebaut durch, die eine Geliebte von Liane gewesen war.
Wiederentdeckung des Glaubens
Die wiederverheiratete Geschiedene, Schauspielerin, Tänzerin, bisexuelle Kurtisane, Schriftstellerin und jetzt sogar Prinzessin hatte dem Prinzen versprochen, keine Liebschaften mit anderen Männer mehr einzugehen, woran sie sich trotz seiner Untreue hielt. Nach einigen Monaten kehrte er zurück, vielleicht weil Manon es überdrüssig geworden war, neben einem Mann aufzuwachen, der ihr Großvater hätte sein können. Aber es war etwas zerbrochen, und die Fortsetzung der Ehe war praktisch eine Katastrophe. Inzwischen hatte etwas anderes in ihr zu brodeln begonnen.
Die Zeit war vergangen, und das Alter hatte die Wallungen abgekühlt, sodaß sie der Besinnung wichen. Die Sehnsucht nach den Tagen ihrer Unschuld, nach der warmen Geborgenheit der Religion ihres Vaters, nach ihrem Studium in Ste-Anne-d’Auray, nach dem, was aus ihrem Leben hätte werden können, wenn sie den richtigen Weg eingeschlagen hätte: All diese Gedanken schwirrten in Anne-Maries Kopf herum. Den endgültigen Ausschlag gab ein Waisenhaus für Behinderte in Grenoble. Die großen Damen leisteten, wie es Gewohnheit war, Wohltätigkeit, und sie war eine Prinzessin. Als sie das Waisenhaus einmal persönlich besuchte, brachen die Kleinen, die niemand wollte, ihr das Herz. Es war eine Ordensfrau dieses Waisenhauses, die ihrem befreienden Schrei in diesem Moment eine Schulter bot. Im Jahr 1945 fiel die Entscheidung. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie Dominikanerinnen-Terziarin und arbeitete genau in diesem Waisenhaus Sainte-Agnès für die behinderten Kinder. Sie wurde Schwester Anne-Marie-Madeleine de la Pénitence (Anna Maria Magdalena von der Buße). Beachten Sie die beiden Namen: Magdalena und Buße. Und in der Tat war es Buße, wenn Gott ihren Wunsch erfüllte, in der Weihnachtsnacht 1950 zu sterben. Sie war 82 Jahre alt. Diejenigen, die sie sahen, sagten, daß man auf ihrem Gesicht noch die Spuren der einstigen Schönheit der „schönsten Frau des vorigen Jahrhunderts“ sehen konnte.
*Rino Cammilleri, 1950 auf Sizilien geboren, Studium der Politikwissenschaften, militanter Aktivist der außerparlamentarischen Linken, Bekehrung zum katholischen Glauben, akademische Laufbahn, Dozent für Diplomatisches und Konsularisches Recht und Soziologie an der Universität Pisa, lebt heute als freier Publizist in Mailand.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
Gibt es ein Foto von ihr als Ordensfrau?