
Der amerikanische Religionssoziologe und hervorragende Apologet der Rolle der katholischen Kirche in der Geschichte des Westens ist vor einem Monat, kurz nach seinem 88. Geburtstag, verstorben. Aus diesem Anlaß veröffentlichen wir ein Interview mit ihm, das er 2016 der italienischen Monatszeitschrift Tempi zur Veröffentlichung seines Buches „Bearing False Witness“ („Falsches Zeugnis geben“) gewährte, der Anklage des „Nicht-Katholiken“ gegen die „illustren Fanatiker“, die bestimmte Lügen über die Kirche als Geschichte ausgeben. Hier der Beitrag aus dem Jahr 2016:
So verteidigte Rodney Stark die Kirche gegen Geschichtsfälschungen
Paradoxerweise ist der Mann, der vielleicht der wirksamste lebende Apologet der Rolle der römischen Kirche in der Geschichte des Westens ist, nicht einmal katholisch. Im Gegenteil, wie er selbst in seinem jüngsten Buch erklärt, ist er „im Glanz der Reformation aufgewachsen“ und wurde „wie alle Lutheraner“ jeden Sonntag im Gottesdienst „über die Perversion der Katholiken aufgeklärt“. Wenn Rodney Stark sich dazu entschlossen hat, „Bearing False Witness: Debunking Centuries of Anti-Catholic History“ („Falsches Zeugnis geben. Die Entlarvung jahrhundertealter anti-katholischer Geschichte) zu schreiben, dann nicht aus einem parteiischen Impuls heraus, um eine Flagge zu verteidigen, die nie die seine war.
„Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Geschichte zu verteidigen.“

Der Religionssoziologe und Professor an der Baylor University, einer Baptistenuniversität in Texas, wo er das Institut für Religionswissenschaften leitet, ist Autor Dutzender Titel, die in vielen Ländern der Welt erfolgreich sind [von denen nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden: Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit und Gottes Krieger. Die Kreuzzüge in neuem Licht], hoch gelobt werden und der „vernachlässigten Geschichte“ gewidmet sind, die zeigt, wie gerade das verachtete Christentum die Freiheit, den Fortschritt und den Reichtum unserer Zivilisation hervorgebracht hat. In „Bearing False Witness“ hat er die zehn „antikatholischen Mythen“ gesammelt, auf die er im Laufe seiner unzähligen Studien am häufigsten gestoßen ist. Zehn Lügen und falsche Anschuldigungen, die laut Stark im allgemeinen Denken „zu weitreichende Folgen hatten und haben, als daß man sie nur vereinzelter Widerlegung überlassen sollte“.
- Der Antisemitismus, der theologisch durch den Vorwurf des Gottesmordes motiviert war;
- die Existenz „erleuchteter“ Evangelien, die von einem bornierten Klerus vertuscht und verfälscht wurden;
- die Ausrottung der Heiden nach der christlichen „Eroberung“ Roms;
- die „dunklen Jahrhunderte“ des Mittelalters, die durch die rationale Revolution der Aufklärung endlich durchbrochen wurden;
- die Kreuzzüge als erster blutiger Akt des europäischen Kolonialismus;
- die Verbrechen der spanischen Inquisition und die Hexenverfolgung;
- der Fall Galileo als Beweis für die Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche;
- die Rechtfertigung der Sklaverei;
- die Unterstützung der Diktaturen gegen die Demokratie;
- die soziale und zivilisierte Überlegenheit der protestantischen Reformation.
Mit der Nennung von Namen und Dutzenden von Zitaten zerlegt Stark in dem Buch der Reihe nach jene „illustren Fanatiker“, wie er sie nennt, und die Gelehrtenkollegen, die, anstatt sich als solche zu verhalten, sich „begierig“ antikatholische Schwindeleien zu eigen machten, da sie „so überzeugt von der Verderbtheit und Dummheit der römisch-katholischen Kirche waren, daß sie keine weitere Bestätigung zu suchen brauchten“, schon gar keine Belege, obwohl einige von ihnen erkannt haben müssen, daß so viele dieser Geschichten „aus dem Nichts kamen“.
Siehe z. B. die Legende, daß Christoph Kolumbus Amerika beim Versuch entdeckt habe, mit Hilfe der Schiffahrt zu beweisen, daß die Erde rund und nicht flach ist, wie die spanischen Kardinäle, die sich seinem Vorhaben widersetzten, angeblich „immer noch“ glaubten. Ein reines Märchen, das 1828 von dem Schriftsteller Washington Irving erfunden wurde, der vor allem für die Erfindung des kopflosen Reiters von Sleepy Hollow bekannt ist. Dennoch blieb es „jahrzehntelang in Schulbüchern und in der Populärkultur erhalten, selbst nachdem Wissenschaftler seine betrügerischen Ursprünge aufgespürt hatten“ (in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland war es 2009 immer noch in den Schulen zu hören).
Der Papst, der nicht mehr katholisch sein soll
Die Feindseligkeit der „illustren Fanatiker“ gegenüber der Kirche, so Stark, reiche weit zurück.
„Die Reformation und die darauf folgenden Religionskriege haben bitteren Haß und falsche Anschuldigungen hervorgebracht, die sich über die Jahrhunderte gehalten haben. Zu viel davon ist noch im kollektiven Gedächtnis der protestantischen Länder vorhanden. Im Gegensatz dazu sind mir keine vergleichbaren bösartigen anti-protestantischen Mythen in den katholischen Ländern bekannt.“
Und wenn im alten Rom, so die im Buch aufgegriffene These von E. Mary Smallwood, die angebliche „Exklusivität“ von Juden und Christen zu Unbeliebtheit und Verfolgung führte, so ist in den vergangenen Jahrhunderten „der Antagonismus des Polytheismus gegenüber dem Monotheismus, der den Antisemitismus und das Antichristentum motivierte, durch einen laizistischen Antagonismus gegen alle Religionen ersetzt worden, die traditionelle Lehren und einen Wahrheitsanspruch beinhalten“. Daher rühre auch „die Forderung, daß der Papst in jeder Hinsicht aufhören soll, katholisch zu sein“.
Laut Stark „haben Voltaire und seine Kollegen das finstere Mittelalter erfunden, um verkünden zu können, daß sie die Zivilisation von religiöser Rückständigkeit befreien“.
In Wirklichkeit hat es aber nie ein obskurantistisches Mittelalter gegeben. Im Gegenteil:
„Der wichtigste Schlüssel zum Aufstieg der westlichen Zivilisation war die Hingabe so vieler brillanter Köpfe an das Streben nach Wissen. Nicht nach Illuminierung. Nicht nach Aufklärung. Nicht nach Weisheit. Nach Wissen!“

Für Stark macht es absolut Sinn, daß viele dieser „brillanten Köpfe“ mittelalterliche Christen waren, denn, „das Christentum ist eine theologische Religion (die auf dem Denken um Gott herum gründet), die nicht nur mit den wissenschaftlichen Bemühungen um eine Erklärung der Welt übereinstimmt, sondern auch die Wissenschaft hervorgebracht hat: Die Wissenschaft hat sich nicht anderswo entwickelt, weil Religionen, die das Universum als ein undurchdringliches Mysterium betrachteten, jede wissenschaftliche Bemühung absurd erscheinen ließen“. Doch im Laufe der Zeit wurden die Ansichten Voltaires und der Aufklärung „von einigen Intellektuellen, die alle Religionen ablehnten, und von vielen anderen, die fälschlicherweise glaubten, daß diese Philosophen nur die Sünden des Katholizismus aufdecken würden, übernommen.“
Es gibt einen Grund, warum „heutzutage sogar populäre Enzyklopädien anerkennen, daß das finstere Mittelalter ein Mythos war“. Das bedeutet, daß zumindest bei diesem Mythos die Geschichtswissenschaft über die Ideologie gesiegt hat. Das passiert ständig, nur merkt es keiner. Um die zehn antikatholischen Geschichtsfälschungen zu entlarven, stützt sich Stark auf die „vorherrschenden Meinungen unter qualifizierten Fachleuten“. Es sei schade, daß diese „immer nur füreinander schreiben und sich nicht bemühen, ihr Wissen mit der Allgemeinheit zu teilen“, während umgekehrt die „illustren Fanatiker“ zumindest in den Medien weiterhin eine erstaunliche Glaubwürdigkeit genießen. Selbst wenn ihre unredlichen Thesen bereits widerlegt sind und sie selbst ihre Kirchenfeindlichkeit zugegeben haben. Dies ist der im Buch rekonstruierte Fall von John Cornwell, dem berühmten Autor von „Hitler’s Pope“ (deutsche Ausgabe: „Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat“), einem Meilenstein der Propaganda gegen Pius XII., der zwar vielfach widerlegt und dennoch von der Presse immer neu aufgelegt oder in anderen Texten wiederverwertet wurde, alle Fehler inklusive. Tatsache ist, und das sei bitter, daß „die Presse Skandale und negative Nachrichten immer mag“.
Und: „Die Medien sind wirklich voreingenommen gegenüber der Religion“.
Wenn es stimmt, daß die „illustren Fanatiker“ einen „ ‚informierten‘ Anti-Katholizismus“ schüren, der sich einer unverdienten Berichterstattung in den Medien erfreut, wie kann dann die Wahrheit im Kampf der Ideen siegen? Stark hat keine Zweifel:
„Warum sollte ich ‚meinen‘ Experten mehr vertrauen als jenen mit antikatholischen Ansichten? Ganz einfach: Weil meine Meinung auf dem Konsens maßgeblicher und qualifizierter Historiker beruht, die ich sorgfältig zitiere, während der antikatholische Unsinn keine qualifizierten Befürworter hat.“
Starks Bücher werden von der Fachwelt sehr gut rezipiert und finden in der Leserschaft ein außergewöhnlich positives Echo. Den Weg in den Mainstream finden sie naheliegenderweise nicht. Dazu wäre ein Umdenken notwendig. Er will mit seinen Büchern zu diesem Umdenken beitragen.
Sicherlich erfordert es Mut, die Thesen von „Bearing False Witness“ zu vertreten. Der Autor bemüht sich gleich im ersten Kapitel, die Vorstellung zu widerlegen, daß „die Judenverfolgung jahrhundertelang im Namen Gottes gerechtfertigt wurde“. Ein Vorurteil, das so tief in der kollektiven Vorstellung eingewurzelt ist, daß es selbst Katholiken kaum zu hinterfragen scheinen. Der Professor der Baylor University erklärt dagegen auf der Grundlage historischer Dokumente und nicht vorgefaßter „papistischer“ Positionen, daß er schon vor langer Zeit herausgefunden hat, daß in Wirklichkeit „Christen, die den Juden die Schuld an der Kreuzigung gaben, auch dazu neigten, weltliche Formen des Antisemitismus zu akzeptieren“, woraus folgt, daß der Judenhaß keineswegs eine katholische „Erfindung“ ist. Im Gegenteil, so Stark, „was ich später, in einem nächsten Schritt erfuhr, war das breite Ausmaß, in dem die Kirche die Juden vor Gewalt geschützt hatte“.
Ansichten wie jene Obamas werden sich diskreditieren
Selbst wenn es um aktuelle Ereignisse geht, hat Stark wenig Mühe, sich über den Mainstream hinwegzusetzen. In seinem Buch schreibt er, daß die ersten bewaffneten Offensiven der katholischen Zivilisation (nicht der Kirche) gegen andere Religionen und Häresien im 11. Jahrhundert stattfanden, als die christliche Vorherrschaft durch die Ausbreitung des Islams bedroht war. Es sei jedoch falsch daraus zu folgern, daß heute im Westen etwas Ähnliches geschieht.
„Der ‚Kampf der Kulturen‘ ist keine faule Frucht unserer ‚Islamfeindlichkeit‘. Ich glaube nicht, daß das christliche Abendland dabei ist, intolerant zu werden. Ich glaube vielmehr, daß der nichtchristliche Westen intolerant wird.“
In dem Buch findet sich auch ein polemischer Verweis auf Barack Obama, der im Jahr 2015 dazu beitrug, die antikatholische Lesart der Kreuzzüge (Starks Paradethema) zu verbreiten, indem er erklärte, daß nicht alle religiöse Gewalt in der Geschichte vom Islam ausgehe und daß auch Christen „im Namen Christi schreckliche Taten begangen haben“. Starks Kommentar fällt trocken aus:
„Wenn der Terrorismus weitergeht, und das wird er, werden Ansichten wie jene Obamas diskreditiert werden: Ich bin überzeugt, daß wir ein Wiederaufleben der Unterstützung für den christlichen Einsatz erleben werden.“
Und an was glaubt Stark, der nicht katholisch, nicht baptistisch und nicht mehr lutherisch ist?
„Ich habe meinen lutherischen Glauben verloren, als ich in meinen Zwanzigern war, und blieb bis zu meinen Sechzigern ungläubig, war aber nie ein Atheist, bis ich nach Jahren des Schreibens über Religion zu dem Schluß kam, daß das Christentum die plausibelste Erklärung für das Leben bietet.“
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube (Screenshot)
Leider sind seine Bücher, die auf deutsch übersetzt wurden nicht mehr erhältlich. Antiquarisch nur ganz vereinzelt uns sehr teuer? Warum nur? Ein Schelm der Böses denkt!
Vielen Dank für diesen Beitrag.
Prof. Rodney Stark möge in Frieden ruhen.
Seine Abhandlung „Gottes Krieger“ kann ich weiterempfehlen. Dort stellt er das Handeln der Kreuzfahrer bei der Eroberung Kontantinopels 1204 in Zusammenhang mit dem verwerflichen Vorgehen der Byzantiner, die den ausgemachten finanziellen Beitrag nicht auszahlen wollten. Überhaupt kommt Byzanz ziemlich schlecht weg. Stark beschreibt die Schaukelpolitik der Byzantiner zwischen Kreuzfahrern und Seldschuken. Da hat man dann schon einmal „Franken“ geopfert. Sehr verläßlich scheinen die oströmischen Kaiser nicht gewesen zu sein.
Stark arbeitet die Motivation der Kreuzfahrer heraus und widerlegt den Mythos, daß es denen primär ums Geld gegangen wäre (wie man ja immer wieder hört). Insofern sollten wir einer „fränkischen“ Stimme unser Ohr leihen:
Nu alrest lebe ich mir werde,
sit min sündic ouge siht
daz reine land und ouch die erde,
den man so vil eren giht.
mirst geschehen des ich ie bat,
ich bin komen an die statt,
da got mennischlichen trat.(Palästinalied, Walther von der Vogelweide)
Das deutsche Volk hat eine ganz besondere Beziehung zum Menschen Jesus. Ausdruck findet dies in dem Weihnachslied „Stille Nacht heilige Nacht“. Dieses Lied, gesungen in der Christmette, kann in einer deutschen Seele so viel auslösen als wäre man in der heiligen Nacht dabei gewesen. Damals, als für einen Moment alles stillstand. Aus diesem Bereich kommt die Motivation für die Kreuzzüge. Auch der Weihnachtsbaum kommt als Symbol aus dem Seelenerleben Mitteleuropas.