
(Madrid) Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela wurde im vergangenen Jahr, erstmals in seiner Geschichte, seit es Aufzeichnungen gibt, von mehr als 300.000 Pilgern zurückgelegt, denen eine entsprechende Pilgerurkunde ausgestellt wurde. Von einem „außergewöhnlichen Phänomen“ spricht einer der bekanntesten, katholischen Kolumnisten Spaniens.
„Ich denke, das ist wirklich ein erstaunliches Phänomen“, so Francisco Fernandez de la Cigoña, der selbst aus Galicien stammt. Dorthin führt der Camino de Santiago, oder Camiño de Santiago, wie die Galicier sagen, die sprachlich mit den Portugiesen verwandt sind.
1200 Jahre Pilgerschaft

Laut Überlieferung war es der Apostel Jakobus der Ältere, der nach Pfingsten auf der Iberischen Halbinsel missionierte. Sie läßt sich bis in die Zeit um 600 zurückverfolgen. Damals regierten dort die Westgoten. Hundert Jahre nach der traumatischen Eroberung der Halbinsel durch die Muslime kam es um 820 zur Auffindung der sterblichen Überreste des Apostels im heutigen Santiago de Compostela, im äußersten Norden, der von den Christen gehalten werden konnte. Die Überlieferung berichtet, daß nach seiner Hinrichtung in Jerusalem im Jahr 44, aus Sicherheitsgründen die Überführung der sterblichen Überreste des Heiligen, verehrte Reliquien, in sein Missionsgebiet erfolgte. Jakobus wurde zum Schutzpatron des Königreiches Asturien, zu dem Galicien seit 758 gehörte.
Im Zuge der Reconquista der iberischen Halbinsel von den Muslimen gewann das Apostelgrab seit dem 10. Jahrhundert zunehmende Bedeutung als Pilgerziel. Die älteste bekannte Nennung des Jakobsweges stammt aus dem Jahr 1047. Im Hochmittelalter wurde Santiago de Compostela neben Rom und Jerusalem zu einem Hauptziel christlicher Pilger.

Um dieselbe Zeit wurde mit dem Bau der prächtigen Kathedrale begonnen, in der sich heute das Grab befindet. Sie wurde auf einem weit älteren Vorgängerbau aus dem 8. Jahrhundert errichtet. Santiago, nach dem Apostel benannt, ist seit 1120 wegen seiner Bedeutung Erzbischofssitz. Mit der Auffindung der Reliquien hatte bereits Bischof Theodemir von Iria Flavia (818–847), einen Bistum, das seit Beginn der Gotenzeit belegt ist, seinen Sitz zum Apostelgrab verlegt.
Ein Netz von Wegen und Pilgerhospizen, etwa im Abstand von 15 Kilometern, verband Santiago de Compostela mit der ganzen Iberischen Halbinsel und über den 800 Kilometer langen Französischen Weg über die Pyrenäen auch mit dem übrigen Europa. Santiago gehörte neben Rom, Köln und Canterbury auch zu den Orten, die Verurteilte zur Buße aufsuchen mußten.
Das Heilige Jahr von Santiago
Genaue Pilgerzahlen für das Mittelalter liegen nicht vor. Es gibt lediglich Berichte, daß in Heiligen Jahren bis zum Vierzehnfachen an Pilgern kamen. Seit dem Spätmittelalter werden in Santiago mit päpstlichem Indult eigene Heilige Jahre gefeiert, immer dann, wenn das Fest des Apostels, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt.

In der Neuzeit kam der klassische, internationale Pilgerstrom jedoch zunehmend zum Erliegen. 1985 wurden lediglich 690 traditionelle Pilger gezählt, denen eine Pilgerurkunde ausgestellt wurde. Die Zahl stieg dann aber unerwarteterweise wieder stetig an. 1992 waren es bereits 9.764. Dann kam das Heilige Compostelanische Jahr 1993, in dem sich die Pilgerzahl verzehnfachte (insgesamt kamen mehr als sieben Millionen Menschen in jenem Jahr nach Santiago).
Ein Xacobeo fand zuletzt 2010 statt. Das nächste Heilige Jahr von Santiago wird am am 31. Dezember 2020 mit der Öffnung der Heiligen Pforte beginnen und am Silvesterabend des folgenden Jahres enden.
Die Zunahme der Pilger, also nicht bloßen Besucher des Ortes, sei ein „außergewöhnliches“ und auch „seltsames Phänomen“, so Fernandez de la Cigoña. Der moderne Mensch könnte „zum Grab von Karl Marx, von Elvis Presley, von Lola Flores, Giuseppe Di Stefano, John F. Kennedy, Evita Peron oder Lady Diana ‚pilgern‘“. Stattdessen pilgern sie zum Grab eines Apostels und legen dafür, die meisten zu Fuß, manche mit dem Fahrrad, Hunderte von Kilometern zurück.
„Hier bewegt die Seele mit“
Ihre große Schar, besonders in den Monaten Juli und August, zu sehen, sei „beeindruckend“, so der Kolumnist.
„Einige sind schon sehr alt, andere noch ganz jung. Die allermeisten, die wirklichen Pilger, strömen am Ende zum Grab des Apostels. Nicht wenige beichten und nehmen an einer Heiligen Messe teil.“
Fernandez de la Cigoña fragt sich, ob sie es nur der Pilgerurkunde wegen tun, wie manche behaupten.
„Ich denke nicht. Wie klein auch immer der religiöse Ansporn sein mag, doch hier bewegt die Seele mit.“
Die Zahl der Beichtväter wurde in den vergangenen Jahren im Hochsommer stetig erhöht, weil die Nachfrage größer war als das Angebot.
„Ein Priester, der in der Kathedrale als Beichtvater aushilft, weil es dort nicht ausreichend gibt, sagte mir, daß er nirgends solche Lebensbeichten gehört hat wie dort.“
Es sei ganz ungewöhnlich, was echte Reue bewirke, so der Priester:
„Die Büßer erbauen mich. Sie reinigen ihre Seele von Jahren und Jahren der Sünde. Das ist ohne Zweifel ein Werk des Apostels.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/zivotnacestach.cz (Screenshot)