Tom Hollands Sinneswandel in Sachen Christentum und seine Abrechnung mit der Aufklärung.
(London) Am 14. September 2016 veröffentlichte der New Statesman, eine linksgerichtete britische Wochenzeitung, einen Aufsatz von Tom Holland, einem nicht nur in Großbritannien beachteten Historiker und Romanautor. Seine Bücher werden von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenso besprochen wie von der Neuen Zürcher Zeitung. 2012 hatte Holland für den Sender Channel 4 den Dokumentarfilm Islam: The Untold Story gestaltet, der die Entstehungsgeschichte des Islams bezweifelt und zu teils heftigen Protesten islamischer Organisationen und zu Kritik liberaler Medien führte, die Holland vorwarfen, dem „Verständnis“ für den Islam geschadet zu haben. Seinen bemerkenswerten Text im New Statesman leitete Holland mit den Worten ein: „Ich habe viel Zeit gebraucht, um zu begreifen, daß meine Einstellungen und Sitten nicht griechisch oder römisch, sondern im Grund und mit Stolz christlich sind.“
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Als ich ein Junge war, wurde meine christliche Erziehung zum Spielball meiner Begeisterungen. In erster Linie waren da die Dinosaurier. Ich erinnere mich noch lebhaft an meinen Schock, als ich während des Religionsunterrichts die Bibel für Kinder aufschlug und eine Illustration von Adam und Eva mit einem Brachiosaurus sah. Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber einer Sache war ich mir sicher: Kein Mensch hatte je einen Sauropoden gesehen. Der Umstand, daß dieser Irrtum den Lehrer nicht kümmerte, verstärkte nur noch meine Empörung und Erschütterung. Zum ersten Mal hatte ein schwacher Zweifel meinen christlichen Glauben überschattet.
Im Laufe der Zeit nahm diese Verdunkelung zu. Mein Interesse für die Dinosaurier wurde zum Interesse für die antiken Reiche. Als ich die Bibel las, wurde meine Aufmerksamkeit nicht von den Söhnen Israels oder von Jesus und seinen Jüngern angezogen, sondern von ihren Gegnern: die Ägypter, die Assyrer, die Römer. Parallel dazu, obwohl ich auch weiterhin vage an Gott glaubte, schwand meine Begeisterung für ihn, den ich für weit weniger charismatisch als die Götter des Olymps hielt, die ich nun bevorzugte: Apollo, Athene, Dionysos. Anstatt Gesetze zu erlassen, zogen sie es vor, sich zu amüsieren. Und obwohl sie unnütz, egoistisch und grausam waren, verlieh ihnen genau das jenen Charme von Rockstars.
Tom Holland
Mit der Zeit las ich Edward Gibbon und andere große Schriftsteller der Aufklärung und war nur zu bereit, ihre Geschichtsdeutung zu übernehmen: der Triumph des Christentums habe zu einer „Epoche des Aberglaubens und der Leichtgläubigkeit“ geführt. Die Moderne hingegen gründe sich auf der Wiederherstellung der lange vergessenen klassischen Ideale. Mein kindlicher Instinkt, der mich den biblischen Gott als direkten Feind der Freiheit und des Amüsements sehen ließ, fand dadurch endlich seine vernünftige Begründung. Die Niederlage des Heidentums hatte zur Herrschaft des „Nobodaddy“ [1]Eine Begriffsschöpfung von William Blake, die ein Gottesbild meint, das in Gott keine Vaterfigur sieht (nobody’s daddy), sondern einen Gott, der ständig um seine Allmacht fürchtet, und daher … Continue reading und aller Kreuzzügler, Inquisitoren und heuchlerischen Puritanern geführt. Farbe und Erregtheit waren aus der Welt verbannt worden. „Du hast erobert, oh bleicher Galileo“, schrieb Swinburne und griff damit die apokryphe Klage von Julian dem Apostaten, dem letzten heidnische Kaiser Roms auf. „Die Welt ist durch deinen Atem grau geworden.“ Instinktiv machte ich mir das alles zu eigen.
Es ist daher keine Überraschung, daß ich die klassische Antike in meinem Denken als jene Epoche hütete, die mich antrieb und inspirierte. Die Jahre, die ich damit verbrachte, Geschichtsbücher über die klassische Welt zu schreiben, bestätigten mir die Faszination, die ich für Sparta und für Rom empfand. Ich pflegte weiterhin meine Phantasien, wie ich es früher schon mit meinen Dinosauriern getan hatte. Diese gigantischen Fleischfresser, so wunderbar sie scheinen, sind in Wirklichkeit von schreckenerregender Natur. Je mehr ich mich in das Studium der klassischen Antike vertiefte, desto fremder und besorgniserregender wurde sie mir. Die Werte des Leonidas, die die Menschen dazu brachte, eine besonders kriminelle Form der Eugenik zu praktizieren und ihre Kinder zu erziehen, bei Nacht zu töten, waren nicht meine Werte. Ebensowenig waren es die Werte Cäsars, der dafür bekannt ist, eine Million Gallier getötet und noch viel mehr Menschen unterjocht zu haben. Es war für mich schockierend, ein so extremes Ausmaß mangelnder Sensibilität festzustellen. Ebenso, daß es in der klassischen Zivilisation völlig fehlte, der Armut und der Schwachheit einen intrinsischen Wert zuzusprechen. So erschien mir die zentrale Überzeugung der Aufklärung, daß wir dem christlichen Glauben nichts verdanken, immer haltloser.
„Jeder vernünftige Mensch, jeder anständige Mensch muß die christliche Sekte verabscheuen“, schrieb Voltaire. Um nicht anerkennen zu müssen, daß seine ethischen Grundsätze vom Christentum stammten, zog er es vor, sie von einer Reihe anderer Quellen abzuleiten, nicht nur von der klassischen Literatur, sondern auch von der chinesischen Philosophie und der Macht der Vernunft. Voltaire war jedoch in seiner Aufmerksamkeit für die Schwachen und die Unterdrückten weit stärker von der biblischen Ethik geprägt, als er zugeben wollte.
„Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit“, sagte der Heilige Paulus. Recht hatte er. Nichts hätte in einem größeren Gegensatz zu den tiefsten Überzeugungen seiner Zeitgenossen – Juden, Griechen oder Römer – stehen können als die Vorstellung, daß ein Gott aus freiem Willen breit war, Folter und den Tod am Kreuz zu erleiden. Eine solche Vorstellung war so schockierend, daß sie geradezu abstoßend schien. Die Vertrautheit mit der biblischen Kreuzigung hat unsere Fähigkeit verdunkelt, darüber nachzudenken, welche Sprengkraft und Einzigartigkeit in der Gottheit Christi liegt. In der antiken Welt beanspruchten die Götter, das Universum zu regieren, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Strafen zuzufügen, nicht aber Strafen zu erleiden.
Heute, da der Glaube an Gott im gesamten Westen schwindet, bewahren die Länder, die einst christlich waren den Stempel, der ihnen durch die zweitausend Jahre der Revolution, die das Christentum bedeutet, eingeprägt wurde. Das ist der Hauptgrund, weshalb im Prinzip der Großteil von uns Angehörigen der nachchristlichen Gesellschaft es noch immer für selbstverständlich erachtet, daß es edler ist, zu leiden, als leiden zuzufügen. Dank dem Christentum gilt noch immer weitgehend, daß jedes Menschenleben den gleichen Wert und die gleiche Würde hat. Mit Blick auf meine Ethik und meine Moral habe ich gelernt, daß ich weder griechisch noch römisch geprägt bin, sondern durch und durch christlich und, daß ich stolz darauf bin.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: New Statesman/Timone (Screenshots)
Eine Begriffsschöpfung von William Blake, die ein Gottesbild meint, das in Gott keine Vaterfigur sieht (nobody’s daddy), sondern einen Gott, der ständig um seine Allmacht fürchtet, und daher wahrscheinlich sogar die Wurzel allen Übels ist.
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