Adeste Fideles und die Bekehrung Paul Claudels

Der Gesang, der die Feier der Geburt Christi begleitet



Von Rober­to de Mattei*

Es gibt Melo­dien, die einen Augen­blick beglei­ten und dann ver­hal­len wie ein fer­nes Echo. Und es gibt ande­re, die schein­bar die Jahr­hun­der­te durch­zie­hen wie ein unter­ir­di­scher Strom, um in den ent­schei­den­den Momen­ten des mensch­li­chen Lebens wie­der an die Ober­flä­che zu tre­ten. Ade­ste fide­les gehört unzwei­fel­haft zu die­ser zwei­ten Kate­go­rie: ein Weih­nachts­ge­sang von fas­zi­nie­ren­der Geschich­te, der es ver­mocht hat, Völ­ker und Spra­chen über das Geheim­nis der Geburt Chri­sti hin­weg mit­ein­an­der zu verbinden.

Lan­ge Zeit wur­de der Hym­nus dem hei­li­gen Bona­ven­tura oder König Johann IV. von Por­tu­gal zuge­schrie­ben; heu­te jedoch sind sich die For­scher dar­in einig, sei­nen Urhe­ber in Sir John Fran­cis Wade zu erken­nen, einem eng­li­schen katho­li­schen Musi­ker des 18. Jahr­hun­derts. Wade gehör­te zu jenen Exu­lan­ten, die infol­ge der Ver­fol­gun­gen gegen die Katho­li­ken die bri­ti­schen Inseln ver­las­sen muß­ten und sich in Douai im Nor­den Frank­reichs nie­der­lie­ßen. Die­se Stadt war damals ein bedeu­ten­des Zen­trum des euro­päi­schen Katho­li­zis­mus: Hier befand sich ein berühm­tes katho­li­sches Kol­leg, von Phil­ipp II. von Spa­ni­en gegrün­det, das eng­li­sche Stu­den­ten und Kle­ri­ker auf­nahm, die zur Emi­gra­ti­on gezwun­gen wor­den waren.

Nach einer aner­kann­ten Über­lie­fe­rung soll Wade Text und Melo­die von Ade­ste fide­les in eini­gen zwi­schen 1743 und 1744 archi­vier­ten Hand­schrif­ten ent­deckt haben. Er schrieb die Par­ti­tur ab und ver­wen­de­te sie für die lit­ur­gi­sche Aus­füh­rung mit einem katho­li­schen Chor in Douai. Im Jahr 1751 ent­schloß er sich, sei­ne hand­schrift­li­chen Abschrif­ten zu sam­meln und in einem Band unter dem Titel Can­tus Diver­si pro Domi­ni­cis et Festis per annum drucken zu las­sen. In die­ser Samm­lung erschien auch Ade­ste fide­les: Es han­delt sich um die erste bekann­te gedruck­te Quel­le, die den Gesang offi­zi­ell bezeugt.

In Wades sorg­fäl­tig edier­ten Manu­skrip­ten erscheint Ade­ste fide­les als ein für die Weih­nachts­lit­ur­gie bestimm­ter Hym­nus von schlich­ter und zugleich fei­er­li­cher Struk­tur. Es ist ein ein­dring­li­cher Ruf – „Kommt her, ihr Gläu­bi­gen“ –, der sich all­mäh­lich zur Betrach­tung des in Beth­le­hem gebo­re­nen Kin­des öff­net. Die Kraft die­ses Gesangs liegt in sei­ner theo­lo­gi­schen Klar­heit und in sei­ner Fähig­keit, die ver­sam­mel­te Gemein­de ein­zu­be­zie­hen, sie gleich­sam leib­haf­tig zur Krip­pe hinzuführen.

Das latei­ni­sche Ori­gi­nal ist weit schö­ner als die volks­sprach­li­chen Über­tra­gun­gen; den­noch sei hier der Text in wört­li­cher deut­scher Über­set­zung in Erin­ne­rung geru­fen1:

Kommt her, ihr Gläu­bi­gen, der Engel ruft uns,
kommt, o kommt nach Beth­le­hem.
Uns ist gebo­ren Chri­stus, der Erlöser.

Kommt, laßt uns anbe­ten, kommt, laßt uns anbe­ten,
kommt, laßt uns anbe­ten den Herrn Jesus!

Das Licht der Welt erstrahlt in einer Grot­te,
der Glau­be führt uns nach Beth­le­hem.
Uns ist gebo­ren Chri­stus, der Erlöser.

Die Nacht erglänzt, die gan­ze Welt erwar­tet:
den Hir­ten fol­gend nach Beth­le­hem.
Uns ist gebo­ren Chri­stus, der Erlöser.

„Ehre sei im Him­mel, Frie­de auf Erden“,
ver­kün­det ein Engel in Beth­le­hem.
Uns ist gebo­ren Chri­stus, der Erlöser.

Der Sohn Got­tes, König des Alls,
ist ein Kind gewor­den in Beth­le­hem.
Uns ist gebo­ren Chri­stus, der Erlöser.

Ade­ste fide­les ist nicht bloß ein Lied zum Anhö­ren: Es ist ein Glau­bens­be­kennt­nis, das Stro­phe um Stro­phe erneu­ert wird. Im Ver­lauf des 18. und 19. Jahr­hun­derts über­schritt die­se Melo­die Gren­zen und Kul­tu­ren. Vom katho­li­schen Unter­grund Eng­lands gelang­te sie nach Frank­reich, Deutsch­land und Ita­li­en. Mit der Ver­brei­tung des Noten­drucks und neu­er lit­ur­gi­scher Reper­toires wur­de Ade­ste fide­les zu einem der bekann­te­sten Weih­nachts­lie­der des christ­li­chen Abend­lan­des. Es wur­de in zahl­rei­che Spra­chen über­setzt: ins Eng­li­sche (O Come, All Ye Faithful), ins Fran­zö­si­sche (Peu­ple fidè­le), ins Ita­lie­ni­sche (Veni­te fede­li) und auch ins Deut­sche (Nun freut euch, ihr Chri­sten). Jede Über­set­zung bewahr­te den ursprüng­li­chen Kern: die Auf­for­de­rung, alles hin­ter sich zu las­sen, um dem Jesus­kind in der Krip­pe von Beth­le­hem entgegenzugehen.

Am Weih­nachts­abend des Jah­res 1886 betrat ein acht­zehn­jäh­ri­ger Stu­dent namens Paul Clau­del, der das Glau­bens­le­ben auf­ge­ge­ben hat­te, wäh­rend er ruhe­los durch die Stra­ßen von Paris irr­te, bei­na­he zufäl­lig die Kathe­dra­le von Not­re-Dame, erfüllt vom Klang der Orgel und dem Gesang Ade­ste fide­les.

Clau­del erin­ner­te sich spä­ter fol­gen­der­ma­ßen an die­sen ent­schei­den­den Augenblick:

„Ich stand mit­ten in der Men­ge, nahe der zwei­ten Säu­le vom Ein­gang des Cho­res aus, rechts, auf der Sei­te der Sakri­stei. In die­sem Moment ereig­ne­te sich das Gesche­hen, das mein gan­zes Leben ver­än­der­te. In einem Augen­blick wur­de mein Herz berührt, und ich glaub­te. Ich glaub­te mit einer sol­chen Kraft der Zustim­mung, mit einer der­ar­ti­gen Erhe­bung mei­nes gan­zen Wesens, mit einer so mäch­ti­gen Über­zeu­gung, mit einer Gewiß­heit, die kei­nen Raum für irgend­ei­ne Art von Zwei­fel ließ, daß seit­her kein Argu­ment und kei­ne Umstän­de mei­nes beweg­ten Lebens mei­nen Glau­ben erschüt­tern oder auch nur berüh­ren konn­ten. Plötz­lich hat­te ich das erschüt­tern­de Emp­fin­den der Unschuld, der ewi­gen Kind­heit Got­tes: eine unaus­sprech­li­che Offen­ba­rung! Wenn ich – wie ich es oft getan habe – ver­su­che, die Momen­te nach jenem außer­ge­wöhn­li­chen Augen­blick zu rekon­stru­ie­ren, fin­de ich fol­gen­de Ele­men­te wie­der, die jedoch einen ein­zi­gen Blitz bil­de­ten, eine ein­zi­ge Waf­fe, deren sich die gött­li­che Vor­se­hung bedien­te, um end­lich das Herz eines armen, ver­zwei­fel­ten Kin­des zu öff­nen: ‚Wie glück­lich sind doch die Men­schen, die glau­ben!‘ Aber war das wahr? War es wirk­lich wahr? Gott exi­stiert, er ist hier. Er ist jemand, ein per­so­na­les Wesen wie ich. Er liebt mich, er ruft mich. Trä­nen und Schluch­zen bra­chen her­vor, wäh­rend die Ergrif­fen­heit noch gestei­gert wur­de durch die zar­te Melo­die des Ade­ste fide­les […]“

Als Ungläu­bi­ger was Paul Clau­del ein­ge­tre­ten, als Bekehr­ter ver­ließ er die Kathe­dra­le. Der Gesang mit sei­nem direk­ten und uni­ver­sa­len Ruf hat­te ihn vor eine per­sön­li­che Ent­schei­dung gestellt. In dem Wort „Kommt“ erkann­te der jun­ge Mann etwas, das ihn im Inner­sten traf. Die musi­ka­li­sche Schön­heit und die lit­ur­gi­sche Fei­er­lich­keit waren kein bloß ästhe­ti­sches Erleb­nis, son­dern das Vehi­kel einer Wahr­heit, die sich sei­nem Geist mit zwin­gen­der Evi­denz aufdrängte.

Clau­del nahm den katho­li­schen Glau­ben ganz an, der zum Mit­tel­punkt sei­nes Lebens und sei­nes Wer­kes wur­de. Als Dich­ter, Dra­ma­ti­ker und Diplo­mat hör­te er nie auf, das christ­li­che Geheim­nis mit dem Wort zu befra­gen. Doch alles nahm sei­nen Anfang in jener Nacht, in jenem Gesang.

Ade­ste fide­les erklingt bis heu­te an jedem Weih­nachts­fest in den Kir­chen der Welt, oft ohne daß man sei­ne Geschich­te kennt. Und doch ist in die­sen sanf­ten Tönen das Zeug­nis einer stil­len, aber wirk­li­chen Kraft ein­ge­schrie­ben: der Fähig­keit der sakra­len Musik, Durch­brü­che in der See­le zu eröff­nen, den Ver­stand und das Herz dort zu errei­chen, wo Wor­te allein nicht genügen.

Heu­te wie damals beglei­tet die­ser Gesang die Fei­er der Geburt Chri­sti. Ob von mäch­ti­gen Chö­ren oder von klei­nen Gemein­schaf­ten Gläu­bi­ger gesun­gen – er bewahrt unver­min­dert sei­ne ursprüng­li­che Kraft. Die Geschich­te Paul Clau­dels erin­nert uns dar­an, daß der Glau­be auch so ent­ste­hen kann: nicht aus einem theo­lo­gi­schen Trak­tat, son­dern aus einer Melo­die; nicht aus einer abstrak­ten Rede, son­dern aus einem gesun­ge­nen Ruf. Die Töne eines wah­ren Gesangs ver­mö­gen das Herz eines Men­schen zu berüh­ren und sein Leben zu verwandeln.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

Bücher von Prof. Rober­to de Mat­tei in deut­scher Über­set­zung und die Bücher von Mar­tin Mose­bach kön­nen Sie bei unse­rer Part­ner­buch­hand­lung beziehen.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL


  1. Joseph Her­mann Mohr schuf 1790 eine sing­ba­re deut­sche Über­set­zung, deren erste Stro­phe lau­tet:

    Nun freut euch, ihr Chri­sten, sin­get Jubel­lie­der
    und kom­met, o kom­met nach Beth­le­hem.
    Chri­stus, der Hei­land, stieg zu uns her­nie­der.
    Kommt, las­set uns anbe­ten; kommt, las­set uns anbe­ten;
    kommt, las­set uns anbe­ten den König, den Herrn.
    ↩︎

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*