
Caminante Wanderer legt in seinem neuen Beitrag den Finger in eine Wunde. Und diese Wunde gibt es tatsächlich. Da kommt plötzlich die Nachricht, daß eine Nachwuchshoffnung, ein Seminarist, Diakon oder Priester überraschend abgesprungen ist, ohne daß ein Grund erkennbar wäre. Wer mit Priestern und ehemaligen Seminaristen oder deren engsten Familienangehörigen zu tun hat, der kann schon einiges heraushören.
Es gibt die Priesterausbilder, die sich mehr als Dompteure der totalen Kontrolle verstehen. Doch nicht ein maximaler Aktivismus formt gute Priester, auch nicht die kleinliche Quengelei, ob ein künftiger Priester rasiert ist oder einen Bart trägt. Das altrömische Ideal war der bartlose Mann, doch Jesus Christus, die Patriarchen und die Mönchsväter waren zweifelsohne Bartträger. An dieser Frage scheitert gewiß nichts. Viele Seminaristen stecken die meisten Probleme weg, besonders jene, die in ihrer Persönlichkeit reif und gefestigt sind. Für manche kann das enge Korsett und eine zu penetrant demonstrierte Kleinkariertheit aber der Grund zum Absprung werden, durch Austritt oder sobald das Seminar nach den Weihen verlassen werden kann. Und dann gibt es jene, oft ausgezeichneten Priester, die, weil sie zu eigeninitiativ sind, unter dem Vorwand des „Ungehorsams“ vor die Tür gesetzt werden. Aber das ist noch einmal ein anderes Kapitel.
Caminante Wanderer schreibt über die Gesamtheit der Priesterausbildung, allerdings auch über jene der Tradition, die mehr denn je das zukünftige Priestertum prägen wird. In diesem Kontext wären Fragen der qualitativen Verbesserung der fachlichen Ausbildung von besonderer Dringlichkeit. Es mag manchen als Nebensächlichkeit erscheinen, doch wir werden nicht müde auf das strukturelle Defizit zu verweisen, daß die Tradition über keine Ausbildungseinrichtung verfügt, die akademische Grade verleihen kann. Der Grund ist offensichtlich und hat damit zu tun, sie stets daran zu erinnern, nur geduldet zu sein. Damit wird aber der theologische, akademische und allgemein intellektuelle Diskurs behindert und in Ketten gelegt. Doch Caminante Wanderer will auf eine andere Ebene der Priesterausbildung aufmerksam machen, die er als defizitär erkannt hat.
Das Klima der „totalen Institution“, die er dabei nennt, ermöglichte es, daß Bischöfe ihre eigenen Seminaristen homosexuell korrumpieren konnten, wie dies durch den ehemaligen Kardinal McCarrick in den USA, durch den ehemaligen Weihbischof von Tegucigalpa und vom ehemaligen Bischof von Orán dokumentiert ist, um drei unrühmliche Fälle des Pontifikats von Papst Franziskus zu nennen.
Insgesamt gilt wohl, daß es auf das rechte Maß ankommt.
So wichtig die Analyse der Gebrechen ist, so wichtig wäre es, Abhilfe zu benennen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Soviel steht fest: Die totale Liberalität, die in manchen Seminaren herrscht, das andere Extrem, ist nicht die Antwort darauf. Deshalb schieben wir den Wunsch und die Hoffnung nach, daß Caminante Wanderer noch etwas zur Lösung des aufgeworfenen Problems folgen läßt. Hier nun aber Caminante Wanderers Finger, der sich in die Wunde bohrt:
Das ungelöste und dringende Problem der Priesterseminare
Von Caminante Wanderer*
Letzte Woche veröffentlichte Infobae, das meistgelesene digitale Nachrichtenportal Argentiniens, einen langen Artikel, in dem Hernando García, ein ehemaliger Priester der Diözese San Rafael, mit unverständlicher Frechheit erzählt, was in seinem Leben geschah, das ihn dazu veranlaßte, einige Jahre nach seiner Priesterweihe den Dienst zu verlassen und ein junges Mädchen zu heiraten.
Es geht nicht darum, über das Innere eines Menschen zu urteilen. Es ist einfach eine Meinung, die auf dem beruht, was der Protagonist selbst erzählt. Und für jeden Leser ist klar, daß dieser junge Mann von 24 Jahren, der Priester wurde, eine enorme affektive Unreife mit sich trug, die typisch für einen Heranwachsenden ist und in der er in den Jahren des Priesterseminars nicht erzogen werden konnte. Und Spuren dieses Problems finden sich in dem gesamten Bericht. Ich nenne als Beispiel den folgenden Absatz: „Nach fünf Jahren in der Pfarrei wuchs die Beziehung [zu dem Teenager]. Aber jemand kam dazwischen, und Hernando wurde zum Theologiestudium nach Rom geschickt. Ich begann, sie schrecklich zu vermissen, ich merkte, daß ich ohne sie sterben würde. Ich verliebte mich zutiefst. Und ich sagte mir: ‚Fertig, warum an etwas festhalten, das nicht mehr geht?‘.“ Jeder, der schon einmal fern von seinem Land, seiner Familie und seinen Freunden gelebt hat, weiß, daß er es schwer haben wird, denn die Gefühle sind unversöhnlich: Sie werden vermißt und die entflammte, verletzte Zuneigung wird sich an jede Erinnerung klammern. Das ist natürlich, so wie es natürlich ist, daß sich ein Mann in eine Frau verliebt. Aber genau hier setzt die Erziehung bezüglich Zuneigung und Gefühlen an: Der Mensch kann, wenn er Tugenden erwirbt, diese übersteigerte Emotion beherrschen. Es ist schwierig, vielleicht sehr schwierig, aber er kann es. Aeneas hat es getan, als er sich von Dido trennte, und jeder verheiratete Mann tut es, wenn er seiner Frau treu ist und sie nicht verläßt, trotz der großen Versuchungen und Verliebtheiten, die er auf seinem Weg erleiden kann.
Aber das Problem ist hier nicht Hernando García. Das Problem ist das Priesterseminar, das ihn ausgebildet hat, in dem er acht Jahre lang erzogen wurde… Worin? Und damit meine ich nicht nur das inzwischen aufgelöste Priesterseminar von San Rafael, das sicherlich eines der besten in Argentinien war, sondern das Priesterseminar als Institution. Wir haben in diesem Blog vor einigen Jahren viel über dieses Thema gesprochen, und es geht nicht darum, sich zu wiederholen. Aber ich bin überzeugt, daß eine der Ursachen für die gravierenden Probleme der Kirche mit dem Klerus das nach dem Konzil von Trient eingeführte Seminarwesen ist, das vielleicht einmal nützlich war, aber meiner Meinung nach nicht mehr ist. Und das gilt für alle Arten von Seminaren: von den fortschrittlichsten bis hin zu den traditionellsten. Da stimmt etwas nicht. Sicherlich wird es Seminare geben, in denen diese Probleme geringfügig sind, und es wird andere geben, in denen sie viel schwerwiegender sind, aber sie betreffen alle.
Lassen wir unsere klerikalen Sympathien für einen Moment beiseite und stellen wir uns folgende Frage: Wofür sind Seminare da? Sicherlich dienen sie nicht primär der Ausbildung in Religionswissenschaften. Sie sind keine besonders selektiven Einrichtungen und intellektuell mittelmäßig. Theologie könnte man auch sehr gut lernen, wenn man ein normales Leben führt und zu Hause wohnt. Seminare dienen also dazu, Tugenden zu erwerben. Und gerade Keuschheit und Gehorsam bedürfen eines besonderen Ausbildungsregimes. Im Seminar werden Keuschheit und Loslösung von Begierde und menschlicher Wollust erlernt und eingeübt, um diese Energien auf die Gottes- und Nächstenliebe zu richten.
Um ihre Ziele zu erreichen, neigen die Seminare dazu, alle Merkmale von totalen Institutionen anzunehmen, um einen Begriff von Goffman zu verwenden (siehe am Ende). Die jungen Seminaristen führen ein abgeschottetes Leben in geschlossenen Räumen, die vom Rest der Welt getrennt sind und nur von zölibatären Männern bewohnt werden. Die Aktivitäten der Gemeinschaft sind viel wichtiger als die des einzelnen, und die Organisation plant jeden Moment des Lebens der jungen Internatsbewohner bis ins kleinste Detail. „In der Umgebung des Seminars“, schreibt Marie Keenan, „werden die Lektionen der Konformität und des Gehorsams von denen des ‘Schweigens und der Geheimhaltung‘ begleitet […] Was entsteht, ist eine absolute Loyalität gegenüber der institutionellen Kirche. Konflikte werden vermieden, und die Furcht vor den Konsequenzen einer Äußerung überwiegt immer. Und wenn einzelne aufmucken, werden sie sofort öffentlich bestraft“. Über den Köpfen aller Seminaristen „hängt ein strenges Überwachungssystem, ein ‚großer Bruder‘, der sehr genau darauf achtet, wie sich die Seminaristen kleiden, sprechen, gehen und an gemeinsamen religiösen und pädagogischen Aktivitäten teilnehmen“.
Marco Marzano gibt in seinem Buch „La casta dei casti“ („Die Kaste der Keuschen“) folgendes Zeugnis eines Priesterausbilders in einem Priesterseminar in Italien: „Die gesamte Struktur der Ausbildung ist ein ‚Füllmaterial‘, da die Seminaristen Subjekte sind, die ‚zurückgesetzt‘ und ‚umprogrammiert‘ werden müssen, um die genauen Worte zu verwenden, die ich einen Bischof sagen hörte. Daher die Vervielfältigung der Worte, die täglichen Predigten, die Konferenzen, die verschiedenen Initiativen aller Art. All dies dient der Institution dazu, den zu erziehenden Personen ‚Dinge in den Kopf zu setzen‘. Natürlich wird die tatsächliche Wirkung dieses Bombardements auf die Menschen nie berücksichtigt: Das Wichtigste für die Organisation ist es, ‚etwas getan zu haben‘.“
Er fährt fort: „Wir streben immer nach dem Minimum. Jedem wird ein kalibrierter Standard vorgeschlagen, bei dem es nicht darum geht, was richtig ist, sondern darum, was gut für alle ist. Die Ausbildung ist in dieser Hinsicht sehr schlecht. In den meisten Fällen verläßt eine Person das Seminar mit denselben negativen Eigenschaften, die sie am Anfang hatte, und wenn überhaupt, dann mit ein paar mehr. Denn im Priesterseminar besteht immer die Tendenz, den einzelnen Menschen zugunsten einer allgemeinen Gemeinschaft in den Hintergrund zu stellen. Abgesehen von der geistlichen Begleitung und der Beichte konzentriert sich der Rest der pädagogischen Arbeit auf die Gruppe und nie auf den einzelnen.“ Das Priesterseminar ist also ein Ort, der den natürlichen Reifungsprozeß der Person eher betäubt und lähmt.
Die übertriebene Wachsamkeit, die selbst bei den kleinsten Details an den Tag gelegt wird, wird mit den Worten des Evangeliums gerechtfertigt: „Wer im Kleinen treu ist, ist im Großen treu“, d. h. soviel wie: „Wenn du treu bist und dein Bett gut machst oder mit guter Laune an gemeinsamen Aktivitäten teilnimmst, wirst du auch im Priestertum treu sein.“ Und diese Prämisse wird zu einem bequemen Vorwand, um eine totalitäre Realität zu verschleiern. Es ist die Realität eines Systems, das jede Gelegenheit nutzt, um diejenigen zu bestrafen, die vernünftig sind, um diejenigen zu schlagen, die anderer Meinung, weil eigeninitiativ sind, und um sie am unteren Ende der Rangliste der Gruppe zu halten. In diesem Kontext sind die am meisten Geschätzten natürlich die Konformisten, die Speichellecker, diejenigen, die schweigen und niemals ihre Vorgesetzten kritisieren, diejenigen, die vorgeben, abgelenkt zu sein, kurz gesagt, diejenigen, die die Omertá der Gruppe respektieren. Natürlich sind sie auch die Hinterlistigsten und oft die Verschlagensten, diejenigen, die am aktivsten an einer in allen Seminaren sehr verbreiteten Tätigkeit beteiligt sind: der Spionage. Und um nicht in Schwierigkeiten zu geraten und von der Schule verwiesen zu werden, muß man sich verstellen, immer verstellen. Das System lädt dich dazu ein, ein kolossaler und systematischer Simulant zu werden, gar ein professioneller Lügner. Und nachgeben, immer nachgeben. Sich zu fügen, den Kopf zu beugen.
Ein Priester erzählte uns: „Vormittags hatten wir Unterricht, und nachmittags standen alle möglichen Aktivitäten auf dem Programm, sodaß wir nicht studiert haben: Toiletten putzen, Rasen mähen oder die Emporen fegen; Chorproben, der Ausflug mit dem Minibus zu irgendeinem Patronatsfest. Einfach alles. Um zu lernen, mußte ich mich verstecken. Und wenn ich erwischt wurde, wurde ich sofort aufgefordert, in der Küche zu helfen oder eine andere praktische Tätigkeit auszuüben. Manchmal wurde uns ausdrücklich gesagt, daß ‚zu viel Lernen den Glauben verdirbt’.“ Interessanterweise ist diese paradoxe Abneigung gegen das Studium am häufigsten in den eher traditionalistischen Ausbildungshäusern anzutreffen.
Es ist klar, daß der Kontakt mit der Realität „da draußen“ für junge Priester schrecklich und schockierend ist: Es gibt diejenigen, die aussteigen, diejenigen, die in eine totale Krise geraten, diejenigen, die manipulativ oder noch schlimmer werden. Natürlich gibt es auch diejenigen, die gerettet werden, die die Bedeutung ihrer Berufung entdecken und mit Freude darauf antworten, und ich glaube, um nicht mißverstanden zu werden, das ist die Mehrheit. In Italien nennt man die Weihemesse die „Messe der heiligen Liberata“, denn von diesem Moment an ist der Seminarist frei. Und genau das geschieht auch. Der junge Mann wechselt von der totalen Kontrolle in die totale Gleichgültigkeit. Nach der Priesterweihe wird dem Priester klar, daß ihn eigentlich niemand in den oberen Rängen des Seminars haben wollte, daß die Oberen keine wirkliche Zuneigung zu ihm hatten, daß die Kontrolle nicht dazu diente, ihn davor zu bewahren, sich zu verlieren. Denn mit einem Schlag wird er alleingelassen, allein mit seinem Gewissen, mit seinen Tugenden und mit seinen Fehlern. Oft wird er nicht einmal von seinen „Brüdern im Priesteramt“ begleitet, einer Gruppe, deren Hauptfehler der Neid ist. Das Gefühl des Verlassenseins, unter dem junge Priester leiden, ist weit verbreitet, und in diesem Moment kann es sein, daß er alles hinschmeißt, wenn ihm die richtige Frau oder Jugendliche über den Weg läuft. Der junge Priester merkt, daß viel von der Ausbildung, die er im Priesterseminar erhalten hat, nur Gerede war. Oder, wie ein bissiger Priesterfreund sagt, eine Vorrichtung, die dazu dient, Eunuchen für den Papst auszubilden.
Das ist die Realität, die, wie ich betone, das ganze System durchzieht, unabhängig von der innerkirchlichen Positionierung. Und es ist eine sehr problematische Realität. Wer wird eine Lösung finden können?
Der Soziologe Erving Goffman führt in seinem Werk Asylums (1961) das Konzept der totalen Institutionen ein. Nach Goffman ist eine totale Institution ein Ort, an dem eine große Anzahl von Menschen unter einem Verwaltungsregime und isoliert vom Rest der Gesellschaft zusammen lebt und arbeitet. Diese Institutionen üben eine totale Kontrolle über alle Aspekte des Lebens der Menschen in ihnen aus.
Die wichtigsten Merkmale von totalen Institutionen sind:
1. Physische und soziale Trennung: Die Bewohner oder Insassen sind physisch von der Außenwelt getrennt und in vielen Fällen vom Kontakt mit Familie und Freunden ausgeschlossen.
2. Bürokratische Kontrolle: Die alltäglichen Aktivitäten der Bewohner werden durch Vorschriften und Verwaltungspersonal streng geregelt.
3. Routine-Regime: Die Insassen folgen einem starren, von der Einrichtung auferlegten Zeitplan, der die Fähigkeit des einzelnen, eigene Entscheidungen zu treffen, einschränkt.
4. Depersonalisierung: Die Insassen verlieren oft einen Teil ihrer individuellen Identität, da sie als homogene Gruppe und nicht als Menschen mit individuellen Unterschieden behandelt werden.
In diesen Einrichtungen erleben die Insassen einen Prozeß der Entindividualisierung und Anpassung an die Regeln der Einrichtung, den Goffman als Kasteiung des Selbst bezeichnet.
Goffmans Analyse macht deutlich, wie die Macht dieser Einrichtungen die Identität des einzelnen und sein Verhältnis zur Gesellschaft neu gestalten kann.
*Caminante Wanderer, argentinischer Blogger
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL