
Von Cristina Siccardi*
Als der Papst im April die Minderen Brüder der Wallfahrtskirche La Verna und der Provinz Toskana anläßlich des 800-Jahrgedenkens an die Wundmale Christi, die der heilige Franz von Assisi am 14. September 1224 empfangen hatte, in Audienz empfing, sagte er ihnen: „Ihr seid gute Beichtväter: Dafür ist der Franziskaner bekannt. Vergebt alles, vergebt immer! Gott wird nicht müde zu vergeben. Wir sind es, die müde werden, um Vergebung zu bitten. Vergebt immer. Weite Ärmel, ja, aber vergebt immer.“ Und weiters sagte er über den Heiligen: Er war „ein Mann, der im Zeichen des Kreuzes, mit dem er seine Brüder segnete, befriedet wurde, die Stigmata sind das Siegel des Wesentlichen. […] Euer Habit läßt an den heiligen Franziskus und die empfangenen Gnaden denken. Macht weiter so, und es ist nicht wichtig, wenn unter dem Habit eine Blue Jeans ist, kein Problem, aber macht weiter!“ Das soll alles sein, wie ein Papst, der den Namen von Franziskus angenommen hat, feiert und gedenkt, was die Stigmata des seraphischen Bruders waren?
Der heilige Franziskus war und ist für die Geschichte der Kirche ein Bekehrter, der Männer und Frauen in exorbitanter Zahl fischte, und er war ein grundlegender Erneuerer, der von Gott berufen wurde, die Ordnung in der menschlichen Kirche wiederherzustellen. Als erster Stigmatisierter in der Geschichte repräsentierte er den Gekreuzigten auf Erden nicht nur mit Worten, sondern indem er das Leiden und den Tod Christi für die Rettung der Seelen am eigenen Leib lebte. Mit den Worten von Pater Serafino Tognetti gesagt: „Die Heiligkeit von Franziskus ist erneuernd, denn nur wenige Heilige wie er waren so ‚kontemplativ‘ und mystisch, nur wenige wie er haben die Gegenwart und das Antlitz Christi so direkt ‚offenbart‘. Der Mann aus Assisi erscheint uns als eine Art Monstranz. Wenn ich die heilige Partikel in die Monstranz lege und sie auf den Altar stelle, verehren die Menschen nicht die Monstranz aus Metall und Glas, sondern den Leib Christi, der in der konsekrierten Hostie gegenwärtig ist. […] Nun, der Heilige ist eben dieser reine Kristall: An und für sich ist er es nicht, aber das, was er in sich trägt, wird sichtbar; und je mehr er gereinigt ist, desto mehr wird die Gegenwart Christi in ihm sichtbar. Deshalb ist Franziskus völlig tot für sich selbst (man denke an die Gabe der Wundmale), aber gleichzeitig ist er auferstanden mit Christus, der in ihm lebt.“
Das Auftreten der Wunden am Körper von Franziskus ereignete sich auf dem Berg von La Verna (Arezzo) an dem Tag, an dem die Kirche der Kreuzerhöhung gedenkt. Zu diesem Zeitpunkt war er 43 Jahre alt. Er pilgerte von Einsiedelei zu Einsiedelei und von Predigt zu Predigt, vom Spoletotal bis in die Romagna, zusammen mit Bruder Leo. Auf dem Weg dorthin hielten sie am Fuße der Burg von Montefeltro, wo eine große Ritterversammlung zum Fest der Einsetzung eines neuen Ritters in der Burg von San Leo stattfand. Unter den Anwesenden war auch ein Herr aus der Toskana, Graf Orlando da Chiusi di Casentino. Franziskus, der keine Gelegenheit ausließ, um Seelen zu fischen, erreichte den Burgplatz, kletterte auf eine niedrige Mauer und begann, während Spielleute das Volk mit ihren Darbietungen unterhielten, über ein Thema zu predigen, das ebenso tiefgründig wie einzigartig war: die Schönheit und die Lehre des Martyriums der Märtyrer, die Bußen der heiligen Bekenner, die Kämpfe der Jungfrauen und anderer Heiliger, die einen ritterlichen Bezug hatten: So groß ist das Gute, das ich erwarte, daß jeder Schmerz mich erfreut. Alles drehte sich um den Erlöser.
Nachdem Graf Orlando mit Ergriffenheit der feurigen Predigt zugehört hatte, aus der hervorging, daß das höchste Gut die Heiligste Dreifaltigkeit ist, ging er zum heiligen Franziskus, um ihm sein Gewissen zu öffnen, obwohl der Heilige aus Demut nie Priester werden wollte. Der edle Geist des Franziskus, ein feiner Herr der Sitten und Gefühle, lud den Grafen ein, zunächst seine Standespflichten zu erfüllen, indem er seine Freunde, die ihn zum Festmahl eingeladen hatten, ehrt und an ihrem Essen teilnimmt, und dann könne er sich zu ihm gesellen. Er, der sich bekehrt hatte und für sich selbst strenge Buße verlangte, verlangte auch von den anderen, die sich bekehrten, Buße, um zu neuen Menschen im Lichte Christi zu werden. Er hatte nie einen „weiten Ärmel“, und gerade deshalb wurden den Menschen ihre Sünden bewußt und heilten sie, indem sie besser wurden und damit auch friedfertige im Sinne des Heiligen Evangeliums.
Als Graf Orlando sich von seinen Verpflichtungen befreit hatte, vertraute er sich dem Heiligen an und machte ihm einen verlockenden Vorschlag: „Ich habe in der Toskana einen sehr geheiligten Berg, der Berg von Vernia genannt wird, der sehr einsam und unberührt ist und sich nur zu gut für diejenigen eignet, die Buße tun wollen, an einem Ort, der den Menschen entlegen ist, oder für diejenigen, die ein einsames Leben wünschen. Wenn es Euch gefällt, würde ich ihn Euch und Euren Gefährten gerne für das Heil meiner Seele geben“ (I Fioretti. Considerazioni sulle stimmate, Fonti Francescane, Editrici Francescane, Padova 20113, § 1898, S. 1235).
Franziskus bedankte sich für das Angebot und sagte ihm, er werde einige seiner Brüder schicken, um sich den Ort anzuschauen. Zurück in Santa Maria degli Angeli schickte er zwei Brüder, die vom Grafen mit allen Ehren empfangen wurden. Sie wurden von zahlreichen bewaffneten Männern begleitet, um sie vor den wilden Tieren zu schützen. Nach einer Inspektion fanden sie auf einer Seite des Berges einen idealen Platz für eine Einsiedelei und bauten mit Hilfe ihrer bewaffneten Begleiter Zellen aus Ästen. Danach kehrten sie zur Portiunkula zurück, um Bruder Franziskus von den Ereignissen zu berichten, der sich angesichts der bevorstehenden Fastenzeit des Erzengels Michael – der „Quaresima nostra“ („unserer Fastenzeit“), d. h. des Ordens der Minderbrüder, die zwischen dem 15. August und dem 29. September gehalten wurde – dafür entschied, sie in diesem Jahr auf dem Berg von La Verna zu verbringen.
Er „nahm Bruder Masseo da Marignano d’Ascesi mit, der ein Mann von großer Weisheit und Beredsamkeit war, und Bruder Agnolo Tancredi da Rieti, der ein sehr sanftmütiger Mann war und im weltlichen Leben ein Ritter gewesen war, und Bruder Lione, der ein Mann von großer Einfachheit und Reinheit war (wofür ihn der heilige Franziskus sehr liebte und ihm fast jedes Geheimnis offenbarte). Und mit diesen drei Brüdern verharrte der heilige Franziskus im Gebet, und nachdem er das Gebet beendet hatte, empfahl er sich und die genannten Gefährten dem Gebet der verbliebenen Brüder und begab sich mit diesen dreien im Namen des gekreuzigten Jesus Christus auf den Berg Vernia“ (Ibid., § 1900, S. 1236).
So geschah während seines Aufenthalts in der neuen Einsiedelei das Unvorstellbare: Franziskus erhielt die sichtbaren und spürbaren Stigmata und, was sich bis heute nicht wiederholte, sogar die Körperlichkeit der Nägel, wie Thomas von Celano, als erster, es genau beschrieb: „Er sah in einer göttlichen Vision einen Mann in der Gestalt eines Seraphim, mit sechs Flügeln, über ihm schwebend, die Hände ausgebreitet und die Füße beisammen, an ein Kreuz genagelt. Zwei Flügel erstreckten sich über sein Haupt, die sich zum Fliegen entfalteten, und zwei bedeckten seinen ganzen Körper“ (Tommaso da Celano: Vita Prima, in: Fonti Francescane a. a. O., § 484, S. 313).
Franziskus stand in Ehrfurcht und war von unendlicher Freude erfüllt über den schönen und edlen Blick, mit dem der Seraphim ihn anschauten; die Schönheit, die von ihm ausging, war unbeschreiblich. Seine Freude wurde jedoch durch den tiefen Schmerz, ihn an das Kreuz genagelt zu sehen, wieder ausgeglichen.
„Er stand gleichsam traurig und froh auf, denn Freude und Bitterkeit wechselten sich in seinem Geist ab. Er suchte eifrig nach dem Sinn der Vision, und sein Geist war ganz aufgewühlt“ (ebd.).
Das Unverständnis über diese wunderbare Vision währte nur kurz, denn an seinen Händen und Füßen zeigten sich dieselben Zeichen der Nägel, die er soeben an dem Gekreuzigten gesehen hatte: Die Hände schienen von Nägeln durchbohrt zu sein, deren Köpfe in den Handflächen und auf den Fußrücken zu sehen waren, während die Spitzen auf der gegenüberliegenden Seite hervortraten. Auch die rechte Seite war wie von einem Speerstoß durchbohrt, mit einer großen Narbe, und seitdem blutete sie oft und tränkte die Kleidung.
Während jeder die Wunden an seinen Händen sehen konnte, hatten nur wenige das Privileg, die Wunde an seiner Seite zu sehen, deren Existenz selbst vielen treuesten Jüngern bis zu seinem Tod ein Geheimnis blieb.
Was in Franziskus vorging, konnte nicht verborgen bleiben, und so sprach er mit seinen engsten Gefährten darüber, die ihn aufforderten, in diesen Zeichen den Willen Gottes zu sehen, der ihn zu einem öffentlichen, lebendigen Zeugen der Passion Christi machen wollte. Alle erfuhren vom Vorhandensein der Stigmata, aber meist verbarg er sie, weil er fast immer seine Hände und Füße bedeckt hielt.
„Ich bin mit Christus gekreuzigt worden, und nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Das Heilsgeheimnis Christi wird durch das Verdienst der Gnade in seinen Auserwählten fortgesetzt.
Bei seinem Tod wurden die Stigmata nach den Berichten in der Leggenda maggiore des heiligen Bonaventura von Bagnoregio von mehr als 50 Brüdern, von der heiligen Klara mit ihren Töchtern und von zahlreichen Gläubigen gesehen, die gekommen waren, um den Leichnam zu verehren. Viele von ihnen küßten und berührten die Wunden mit Hingabe, sogar wiederholt, „um einen sicheren Beweis dafür zu haben“.
Ohne die Bekehrung zu Christus gibt es keinen inneren Frieden und kein ewiges Heil, wiederholte Franziskus unablässig in Worten, Beispielen und Taten. So wie sich die Lehren Christi nicht ändern, ändern sich auch nicht die seines treuesten „Herolds“, wie Franziskus von sich selbst zu sagen pflegte, der für die Heilige Römische Kirche zum Alter Christus wurde – eine Definition, die der Häresiarch Luther haßte und verachtete.
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und erneuert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Gentile da Fabriano: Die Wundmale des heiligen Franziskus (um 1420, Parma)