Kaum eine Gestalt der Kirchengeschichte hat in jüngerer Zeit aus aktuellem Anlaß soviel Aufmerksamkeit gefunden wie Papst Cölestin V., der als Pietro da Morrone wohl 1209 in den Abruzzen geboren und als solcher 1296 auch gestorben ist – obwohl er Papst war. Was aber ist die nach ihm benannte Perdonanza Celestiana?
Pietro da Morrone, ein Benediktinermönch, der zwischen Einsiedlerdasein und Klostergemeinschaft schwankte und als Asket und Mystiker schon zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit stand, gründete einen reformierten Zweig des Benediktinerordens, der als Cölestinerorden bekannt werden sollte und sich schnell ausbreitete.
1273 begab sich Pietro zu Fuß von seiner Einsiedelei bei Sulmona in den Abruzzen nach Lyon, er war immerhin wahrscheinlich schon 64 Jahre alt, wo das Konzil tagte, um die Anerkennung seines Ordens zu erreichen. Der damals regierende Papst Gregor X. bat ihn, in der Kirche, die als Konzilsaula diente, für ihn und alle Konzilsväter die heilige Messe zu zelebrieren, denn „keiner ist würdiger“.
Auf dem Rückweg hatte Pietro in der Nähe der kurz zuvor vom Staufer Friedrich II. gegründeten Kaiserstadt L’Aquila eine Marienerscheinung. Er sah Maria umringt von Engeln auf einer goldenen Leiter. Er verstand dies so, daß er bald aus dieser Welt abberufen werde und daß er zu Ehren der Gottesmutter eine Kirche bauen solle. So ließ er am Erscheinungsort die Kirche Santa Maria di Collemaggio errichten und zog sich noch mehr aus der Welt zurück, um sich auf den Heimgang vorzubereiten. Der Himmel hatte jedoch ganz anderes mit ihm vor.
Als am 4. April 1292 Nikolaus V. stirbt und sich die Kardinäle versammeln, um einen Nachfolger zu wählen, will ihnen das nicht gelingen. Dabei ist das Kardinalskollegium mit einem knappen Dutzend Purpurträger von überschaubarer Größe. Die Monate vergingen und die papstlose Zeit dauerte immer länger. Die Sache wurde zu einem großen Ärgernis, das die Menschen empörte.
Pietro da Morrone, der „Heilige in den Bergen“, kündigte „schwere Strafen“ für die Kirche an, wenn sie nicht bald einen Hirten wählen würde. Die Prophezeiung wurde auch dem Kardinaldekan Latino Malabranca übermittelt, der sie allen Kardinälen zur Kenntnis brachte.
Nach 27 Monaten der Sedisvakanz erhöhten die weltlichen Herrscher ihren Druck, weil es nicht gehe, daß die Kirche so lange ohne Papst bleibt – schließlich hingen die Belehnung ganzer Länder, Königssalbungen und zahlreiche Ernennungen, nicht nur von Bischöfen, vom Papst ab –, brachte Kardinaldekan Malabranca den entscheidenden Vorschlag vor, mit dem der Gordische Knoten durchtrennt werden konnte: Die Kardinäle sollten den im Ruf der Heiligkeit stehenden Mönchseremiten aus den abruzzischen Bergen zum Papst wählen. Es gelang, alle Bedenken – etwa die, daß Pietro da Morrone weder Bischof noch Kardinal war – zu überwinden. Am 5. Juli 1294 wurde Pietro einstimmig zum Papst gewählt. Eine Delegation von drei Prälaten stieg auf den Berg hinauf und überbrachte ihm in seiner Eremitage die Nachricht.
Einer der Boten, der später Kardinal wurde, überlieferte das Geschehen: Ihnen stand ein alter Mönch, gekleidet in einem groben Büßergewand, gegenüber und schaute sie ungläubig an. Die Tränen flossen ihm aus den Augen. Als die drei Gesandten vor ihm, dem neuen Papst, niederknieten, warf er sich vor ihnen flach auf den Boden, um seine Unwürdigkeit zu bekunden. Er wandte sich dann dem Kruzifix an der Wand zu und verharrte kniend im Gebet davor. Schließlich sagte er unter Seufzen, die Situation zu verstehen und die Wahl anzunehmen.
Karl II., der König von Neapel, eilte ihm zum Mutterkloster des Cölestinerordens bei Sulmona entgegen und begleitete Pietro da Morrone, der auf einem Esel ritt, mit dem ganzen königlichen Gefolge in die Stadt L’Aquila. Dorthin hatte der erwählte Papst ein Kardinalskonsistorium einberufen. Am 29. August 1294 wurde er außerhalb der Stadtmauern, in der von ihm errichteten Marienkirche von Collemaggio, zum Bischof geweiht und anschließend mit dem Namen Cölestin V. zum Papst gekrönt.
Sein Pontifikat sollte nur 107 Tage dauern. Am 13. Dezember 1294 erklärte er seinen Rücktritt. Der Stillstand, der die Kirche so lange gelähmt hatte, war durch ihn überwunden worden. Die Wahl seines Nachfolgers ging schnell und reibungslos über die Bühne. Bereits am Heiligen Abend wurde Kardinaldekan Malabranca zum Papst gewählt und bestieg als Bonifaz VIII. den Stuhl Petri.
Die weitere Lebensgeschichte Cölestins V., der nach seinem Amtsverzicht wieder Pietro da Morrone wurde und sich in seine Bergeinsiedelei zurückziehen wollte, verlief auch anders, als er es sich gedacht hatte. Am 19. Mai 1296 starb er im hohen Alter von wahrscheinlich 87 Jahren als Ehrenhäftling, kurz nachdem er zum letzten Mal die heilige Messe zelebriert hatte. Pietro da Morrone, der gewesene Papst Cölestin V., fand in der Marienkirche von Collemaggio seine letzte Ruhestätte.
Kurz nach seiner Wahl zum Papst gewährte Cölestin V. ein Ablaßprivileg, die sogenannte Perdonanza Celestiana, Cölestinische Vergebung. Sie ist mit der von ihm nach der Marienerscheinung errichteten Kirche Santa Maria di Collemaggio verbunden, die seine Weihe- und Krönungskirche wurde. Seit 1294 wird von der Vigil des 28. August bis zur Vigil des 29. August jedes Jahr in der Kirche eine Heilige Pforte geöffnet. Wer unter Einhaltung der üblichen Bedingungen diese Heilige Pforte durchschreitet, kann einen völligen Ablaß gewinnen, der von allen zeitlichen Sündenstrafen befreit.
Cölestin V. nahm mit der Perdonanza Celestiana um sechs Jahre die Institution des Heiligen Jahres vorweg. Nach dem Vorbild seines Vorgängers gewährte Bonifaz VIII. für das Jahr 1300 das erste ordentliche Jubeljahr der Kirchengeschichte. Was in Collemaggio in L’Aquila nur für diesen einen Ort gilt, dafür aber jährlich, gilt in den Heiligen Jahren für die ganze Weltkirche. Am kommenden Heiligen Abend wird ein solches ordentliches Heiliges Jahr eröffnet werden, das alle 25 Jahre stattfindet.
1313 wurde Cölestin V. von Papst Clemens V. heiliggesprochen.
Häufig ist zu lesen, Dante Alighieri, ein Zeitgenosse Cölestins, habe diesen Papst in seiner „Göttlichen Komödie“ in die Hölle geschrieben, weil er dessen „großen Verzicht“ eines Papstes unwürdig und als Mißachtung des göttlichen Willens betrachtete. Allerdings handelt es sich dabei um eine Interpretation, da Dante Cölestin nicht namentlich nennt.
Am 28. April 2009 besuchte Papst Benedikt XVI. L’Aquila und auch das Grab Cölestins, was Anlaß für zahlreiche Spekulationen war, besonders nachträglich wegen Benedikts Amtsverzicht. Allerdings reiste der deutsche Papst nicht wegen seines Vorgängers in die alte Kaiserstadt, die heute Hauptstadt der Region Abruzzen ist. Der Besuch galt den notleidenden Menschen, die wenige Tage zuvor von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden waren. Die ganze Altstadt war wie dem Erdboden gleichgemacht. Es waren 309 Tote zu beklagen und es gab mehr als 1600 Verletzte und 65.000 Obdachlose. Ihnen wollte Benedikt XVI. nahe sein und brachte dies auch durch den Besuch am Grab jenes Papstes zum Ausdruck, der Stadtpatron von L’Aquila ist und der Stadt und der Menschheit mit der Perdonanza Celestiana ein unschätzbares Gnadengeschenk gemacht hatte.
Hier der vollständige Wortlaut der Ablaßbulle, die Cölestin V. am 29. September 1294 gewährte:
Bulle des Vergebungsablasses „Inter sanctorum solemnia“
„Celestinus episcopus, servus servorum Dei, universis Christi fidelibus presentes litteras inspecturis, salutem et apostolicam benedictionem. Inter santorum solennia sancti Johannis Baptiste memoria eo est solennius honoranda, quo ipse de alve sterilis matris procedens fecundus virtutibus, sacris eulogiis et facundus fons, apostolorum labium et silentium prophetarum, in terris Christi presentiam, caliginantis mundi lucernam, ignorantie obtectis, tenebris, verbi preconio et indicis signo mirifico nuntiavit, propter quod eius gloriosum martyrium mulieris impudice indictum intuitu misteraliter et secutum. Nos qui in ipsius Sancti decollatione capitis in ecclesia sancte Marie de Collemayo Aquilensi, ordinis sancti Benedicti, suscepimus diadematis impositum capiti nostro insigne, hymnis et canticis ac fidelium devotis oraculis cupimus venerabilius honorari. Ut igitur ipsius decollationis festivitas in dicta ecclesia precipuis extollatur honoribus et populi Domini devota frequentia tanto devotius et ferventius honoretur, quanto inibi querentium Dominum supplex postulatio gemmas Ecclesie donis micantes spiritualibus sibi reperiet in eternis tabernaculis profuturas, omnes vere penitentes et confessos qui a vesperis eiusdem festivitatis vigilie usque ad vesperas festivitatem ipsam immediate sequentes ad premissam ecclesiam accesserint annuatim et omnipotentis Dei misericordia et beatorum Petri et Pauli apostolorum eius auctoritate confisi a baptismo absolvimus a culpa et pena quam pro suis merentur commissis omnibus et delictis.
Datum Aquile III kalendas octobris, pontificatus nostri anno primo.“
T. R. Mannetti: La Perdonanza di Collemaggio, hrsg. unter der Schirmherrschaft des Stadtmagistrats von L’Aquila, L’Aquila 1982, S. 77f.
„Bischof Cölestin, Diener der Diener Gottes, wünscht allen Christgläubigen, die dieses Schreiben lesen werden, Gesundheit und apostolischen Segen. Unter den feierlichen Festen, die der Heiligen gedenken, ist das des heiligen Johannes des Täufers zu den wichtigsten zu zählen, da dieser, obwohl er aus dem Schoß einer vom Alter unfruchtbaren Mutter stammte, doch voller Tugend und eine reiche Quelle heiliger Gaben war, er war die Stimme der Apostel, indem er den Zyklus der Propheten vollendete und die Anwesenheit Christi durch die Verkündigung des Wortes und durch wundersame Zeichen ankündigte, er verkündigte jenen Christus, der Licht im Nebel der Welt und in der Finsternis der Unwissenheit war, die die Erde umhüllten, weshalb für den Täufer das glorreiche Martyrium folgte, das auf geheimnisvolle Weise durch den Willen einer schamlosen Frau aufgrund der ihr anvertrauten Aufgabe auferlegt wurde. Wir, die wir am Tag der Enthauptung des heiligen Johannes in der Benediktinerkirche in der Benediktinerkirche Santa Maria di Collemaggio in L’Aquila die Tiara auf unser Haupt empfingen, wünschen, daß dieser Heilige mit noch größerer Verehrung durch Hymnen, religiöse Gesänge und andächtige Gebete der Gläubigen geehrt wird. Damit in dieser Kirche das Fest der Enthauptung des heiligen Johannes mit besonderen Zeremonien hervorgehoben und mit der andächtigen Teilnahme des Gottesvolkes gefeiert wird, und umso andächtiger und eifriger sei, wenn in dieser Kirche die flehenden Bitten jener, die Gott suchen, die Schätze der Kirche finden, die durch die geistlichen Gaben strahlen, die ihnen in ihrem künftigen Leben zugute kommen, erteilen wir, gestärkt durch die Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes und die Autorität seiner Apostel, der heiligen Petrus und Paulus, an jedem Jahrestag dieses Festes allen die Absolution von Schuld und Strafe aus allen Sünden, die sie seit der Taufe begangen haben, die in aufrichtiger Reue und nach der Beichte, von der Vesper am Vorabend des Festes des Heiligen Johannes bis zur Vesper unmittelbar nach dem Fest, in die Kirche Maria von Collemaggio eintreten werden.
Gegeben zu L’Aquila, 29. September, im ersten Jahr unseres Pontifikats.“
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
Wer könnte im Spiegel der Heiligkeit Cölestins nicht die Heiligkeit Benedikts XVI. erkennen – und die Erbärmlichkeit des gegenwärtigen Pontifikates?
Der Artikel tut Bonifaz VIII zu viel der Ehre an. Er war einer der abscheulichsten Menschen, die jemals Papst wurden. Er hat aus Machtstreben tückischerweise Coelestin zum Rücktritt überredet und ihn dann als Gefangenen gehalten („Ehrenhaft“ ist gut…).
Die Ohrfeige von Agnani bekam er völlig zu Recht. Daß Dante ihn in die Hölle versetzt („Bonifaz, bist du schon da?“), unterliegt keinem Zweifel.