
Von Stefano Fontana*
Am 3. Juni ist der evangelische Theologe Jürgen Moltmann im Alter von 98 Jahren in Tübingen verstorben. Wegen seines Hauptwerks „Theologie der Hoffnung“, das 1964 in Deutschland und dann in zahlreichen anderen Sprachen veröffentlicht wurde, wird er gewöhnlich als „Theologe der Hoffnung“ bezeichnet. Diese Erinnerung an ihn ist nicht falsch oder zu kurz gegriffen, denn dieses Werk hatte nicht die Absicht, ein Kapitel der Theologie, nämlich die Hoffnung, zu behandeln, sondern sie in ihrer Gesamtheit neu zu formulieren.
Aus der Hoffnung ergab sich eine neue Erklärung aller traditionellen theologischen Themen: die Offenbarung, die nicht so sehr in ihrem lehrmäßigen als vielmehr in ihrem geschichtlichen Charakter verstanden wird, die Transzendenz, die eher in einem zeitlichen als in einem räumlichen Sinne als Zukunft verstanden wird, die Sünde als Ablehnung der Hoffnung, die Gnade als Gabe der Möglichkeit und Fähigkeit zu hoffen, die Umkehr als Abwendung von der Gegenwart und Hinwendung zur Zukunft. Daraus ergibt sich die revolutionäre Wirkung seiner Theologie, die mit der gesamtprotestantischen Idee der mündigen Welt, der Säkularisierung als christliches Phänomen und der Notwendigkeit einer säkularen Theologie verbunden ist, wie sie im folgenden Jahr, 1965, auch Harvey Cox in seinem Buch „The Secular City. Secularization and Urbanization in Theological Perspective“, als Koordinaten der neuen Theologie, die wir in jeder späteren Theologie finden, auch in der katholischen.
Eine säkulare Theologie mit politischer Sprache

Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, so Moltmann, wird Gott nicht als Weihe von Zeiten und Orten verstanden, sondern mit einem Wort der Verheißung verbunden. Die Verheißung bindet den Menschen an die Geschichte, die zwischen der Verheißung und ihrer Erfüllung steht. Dies ist der Raum für menschliche Verantwortung, für Zukunft, Moral und Praxis. Die Theologie der Hoffnung wird in einem eschatologischen Schlüssel ausgearbeitet, der den Theologen fortan nicht mit der Aufgabe betraut, „die Welt, die Geschichte und die menschliche Natur zu deuten, sondern sie in Erwartung einer göttlichen Verwandlung zu verwandeln“. Der Ort der Offenbarung Gottes wird zur Geschichte, und Gott offenbart sich durch historische Verheißungen und historische Ereignisse ausgehend vom Exodus. Die Aufgabe des Christen besteht nicht so sehr in der Frage, wer Gott ist und welche Eigenschaften Er hat, sondern darin, zu erkennen, wo Gott in der Geschichte am Werk ist, und sich aktiv an seinem Erlösungswerk zu beteiligen. Es sei notwendig, jeden metaphysischen Dualismus und alle räumlichen Vorstellungen von Gott zu beseitigen, um eine säkulare Theologie mit einer politischen Sprache zu schaffen: „Das bedeutet, daß wir erkennen, wo Gott am Werk ist, und uns so an seinem Werk beteiligen: Dieses unaufhörliche Handeln ist eine Art zu sprechen: Indem der Christ dies tut, spricht er von Gott“. Die Wahrheit wird zur Aktion. Wer Gott ist, wird nicht vom Theologen durch Reden gesagt, sondern durch die Praxis der Christen.
Mit Moltmann hält die Dimension der Geschichte Einzug in die Theologie und bringt ihre Konnotationen durcheinander. Der bereits erwähnte Harvey Cox näherte sich der Theologie der Hoffnung an und argumentierte, daß „Gott die Welt und nicht die Kirche liebt“ und sich der Welt und nicht die Kirche bedient. In seinem Buch „The Christian as Rebel“ stellt er fest, daß „der professionelle Baseball und nicht die Kirche die ersten Schritte zur Rassenintegration unternommen hat. Wir sind in dieser ganzen Sache weit zurück. Wir müssen uns beeilen, um das aufzuholen, was Gott bereits in der Welt tut.“
Der wahre Durchbruch in der zeitgenössischen Theologie
Wie wir sehen, hat die „Kirche, die hinausgeht“, ferne Ursprünge. Moltmanns neue Vorschläge werden von Johann Baptist Metz in seiner „Politischen Theologie“ aufgegriffen, und auch Karl Rahner wird sich dieselben Annahmen zu eigen machen, angefangen bei der Säkularisierung, die es erforderlich mache zu denken, daß die Offenbarung Gottes noch vor der Kirche in der menschlichen Geschichte stattfindet. Man kann sagen, daß die eigentliche innovative Wende in der zeitgenössischen Theologie durch Moltmann herbeigeführt wurde. Alle anderen Theologien werden in der Tat dem von ihm eingeschlagenen Weg folgen. Die Theologie der Hoffnung kann also mit einer Explosion verglichen werden, die in einer Kettenreaktion weitere auslöst. Er konnte sich mit der Theologie der Revolution und der Befreiung befassen, war Geburtshelfer der Black Theology und der Feministischen Theologie. Darüber hinaus stand er im Mittelpunkt des Dialogs zwischen Christen und Marxisten.
Dieses letzte Stichwort führt uns zu einem weiteren wichtigen Kapitel in der Geschichte von Moltmann. Ich beziehe mich auf den Gedankendialog mit dem ostdeutschen marxistischen Philosophen Ernst Bloch, der Moltmanns damalige und spätere Theologie so stark beeinflußt hat. Blochs Prinzip Hoffnung und Moltmanns Theologie der Hoffnung beziehen sich aufeinander. Bloch formulierte den Marxismus unter der Kategorie der Utopie neu, er sieht alle Wirklichkeit als von der Zukunft bestimmt und zur Selbstüberwindung getrieben, er liest die Bibel als Ausdruck einer „Transzendenz ohne Transzendenz“, Zukunft und Geschichte sind ebenso Merkmale der christlichen Religion wie der säkularisierten Welt, der Gott Israels ist der Gott des achten Tages, „der noch nicht war und deshalb authentischer ist“, und Christus hat nichts Geistiges, sondern ist der Mann, der nicht zur Rechten Gottes, sondern an seiner Stelle saß, weil das Christentum befreiend und deshalb atheistisch ist. Auf diese Weise traf sich Moltmann nicht nur mit dem Marxismus, sondern auch mit dem atheistischen Nihilismus der Moderne.
Ein Urteil über Moltmanns Theologie abzugeben bedeutet auch ein Urteil über einen Großteil der zeitgenössischen Theologie abzugeben. Sein Denken zu feiern, indem man es rühmt, heißt, die großen Irrtümer dieser Theologie und der nachfolgenden Theologien zu billigen. Ich habe mich hier darauf beschränkt, einige Grundannahmen in Erinnerung zu rufen. Wenn Leser es möchten, können sie sich darin üben, die negativen Auswirkungen von Moltmanns Denken auf die Theologie seither und auch auf die Praxis der Kirche zu erkennen.
Stefano Fontana, Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church; zu seinen jüngsten Publikationen gehören „La nuova Chiesa di Karl Rahner“ („Die neue Kirche von Karl Rahner. Der Theologe, der die Kapitulation vor der Welt lehrte“, Fede & Cultura, Verona 2017), gemeinsam mit Erzbischof Paolo Crepaldi von Triest „Le chiavi della questione sociale“ („Die Schlüssel der sozialen Frage. Gemeinwohl und Subsidiarität: Die Geschichte eines Mißverständnisses“, Fede & Cultura, Verona 2019), „La filosofia cristiana“ („Die christliche Philosophie. Eine Gesamtschau auf die Bereiche des Denkens“, Fede & cultura, Verona 2021).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Nationaal Archief der Niederlande (Screenshot)