Zu den „Schwarzen Legenden“, die gegen die katholische Kirche ins Feld geführt werden, gehören auch weniger bekannte Episoden wie das Massaker an den Waldensern in Kalabrien. Dafür wird gar ein Papst, nicht irgendein Papst, sondern der heilige Pius V. verantwortlich gemacht, jener Papst, der nach dem protestantischen Zerfleddern der Liturgie den Römischen Ritus wiederherstellte und festschrieb, daß dessen Zelebration den Priestern „auf ewig“ erlaubt ist. Ein Punkt, der in diesen Tagen, da Papst Franziskus mit dem Motu proprio Traditionis custodes ebendas bestreitet, wieder von großer Bedeutung ist. Was aber hat es mit dem genannten Massaker auf sich?
Die „Schwarze Legende“ behauptet, eine blutrünstige katholische Kirche habe 1561 die okzitanischsprachigen Waldenser Kalabriens in einem „Kreuzzug“ ausgerottet. Wer es etwas genauer zu wissen meint, behauptet, daß die Truppen der Kirche oder der Inquisition im späten Frühjahr 1561 zweitausend oder gar sechstausend Waldenser in Kalabrien niedermetzelten und der Befehl dazu von Kardinal Michele Ghislieri, dem späteren Papst Pius V. (1566–1572), erteilt worden sei. Pius V. wurde 1712 heiliggesprochen. Sollte er ein „Massenmörder“ sein? In anti-katholischen Kreisen und unter Geschichtsunkundigen finden solche Phantasien bereitwillige Annahme, doch was ist daran wahr?
Gleich vorweg sei richtiggestellt, daß natürlich weder „die Kirche“ noch „die Inquisition“ Truppen im Königreich Neapel aufmarschieren oder irgendwelche Massaker verüben lassen konnte. Ebensowenig hätte Kardinal Ghislieri Truppen einen entsprechenden Befehl geben können.
Die erwähnte Darstellung, nicht zuletzt die Opferzahl von immerhin 2000 Toten, fand sogar Eingang in einen DuMont-Reiseführer und damit in die Köpfe deutscher Bildungsreisender. Der Reiseführer wurde sogar zur Quelle für die deutsche Darstellung auf Wikipedia, was angesichts der reichen historischen Fachliteratur doch erstaunt. Nicht nur die Waldenser verbreiten diese und noch höhere Zahlen. Ab dem 19. Jahrhundert wurden sie von Kirchengegnern als Instrument im Macht- und Kulturkampf entdeckt. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich linguistische und touristische Interessen vermengt und auch ein im Internet-Zeitalter schnell durchgeführtes Copy & Paste trägt nicht zu einer angemessenen Darstellung der historischen Ereignisse bei.
Die Waldenser sind eine mittelalterliche pauperistische Sekte, die vom Lyoner Kaufmann Petrus Valdes (ca. 1140–1205), einem Zeitgenossen des heiligen Franz von Assisi, gegründet wurde. Die Lebenswege von Valdes und dem Heiligen von Assisi hätten aber nicht unterschiedlicher verlaufen können. Valdes wurde 1182 exkommuniziert, Franziskus 1228 heiliggesprochen. 1184 wurde die Lehre der Waldenser, die jede Mittlerrolle der Kirche und damit die kirchliche Hierarchie ablehnte, als häretisch verurteilt. Ob Valdes, was von manchen behauptet wird, sich im Alter noch bekehrte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Die von ihm gegründete Sekte überlebte ihn jedenfalls und führte in mythischer Verklärung ihren Ursprung auf die Apostel zurück. Da die Waldenser selbst über keine Hierarchie und keinen Kultus verfügten, da die Glaubensunterweisung durch Laienprediger erfolgte, fiel es ihnen nicht schwer, in einem Untergrunddasein auszuharren und sich inmitten einer katholischen Umgebung als die „unsichtbaren“ wahren Jünger Christi zu sehen.
Das Zentrum der Waldenser lag diesseits und jenseits der Westalpen entlang der heutigen italienisch-französischen Grenze mit besonderem Schwerpunkt im Piemont. Eine Urkunde aus dem Jahr 1268 von Karl I. von Anjou, König von Sizilien (der damals auch über Süditalien regierte), bestätigt, daß sich Waldenser in Kalabrien niedergelassen hatten, konkret in Guardia Lombardorum. Ihrer Herkunft nach stammten die Waldenser Kalabriens aus dem Piemont, dem Delfinat und der Provence. Eine 1800 Einwohner zählende Gemeinde in der Provinz Cosenza heißt heute Guardia Piemontese, allerdings erst seit 1863 und mehr aufgrund eines Mißverständnisses. Der bewohnte Ort liegt fast 600 Meter über dem Meeresspiegel im küstennahen Gebirge. Das Gemeindegebiet reicht aber bis zum Tyrrhenischen Meer. Der Großteil der Einwohnerschaft lebt heute allerdings nicht mehr im alten Ort auf dem Berg, sondern unten im noch jungen Ortsteil Guardia Marina, wo am Meeresstrand der Fremdenverkehr blüht. Dieser führt seit den späten 70er Jahren zu einem Bevölkerungswachstum, das allerdings durch Zuzug von anderen Gegenden Kalabriens und aus dem Ausland gespeist ist.
Besonderes Interesse findet in jüngerer Zeit, daß Guardia eine okzitanische Sprachinsel in Süditalien ist. Die Ansiedlung der Waldenser erfolgte in einigen Schüben, blieb in ihrem Ausmaß aber bescheiden. Ihrer Herkunft nach sprachen sie auch nicht alle okzitanisch, doch konnte sich diese Sprache unter ihnen durchsetzen, was sie heute im tiefen Süden Italiens zur interessanten, allerdings schwindenden Kuriosität macht. Die eigene Sprache, in der sie untereinander verkehrten, bot eine zusätzliche Hilfe, ihren Sonderglauben zu bewahren. Während der waldensische Glauben völlig verschwunden ist, wird die Zahl der Okzitanischsprachigen nach jüngsten Schätzungen (2019) nur mehr mit 200–300 angegeben.
1860 wurde das Königreich Beider Sizilien beseitigt und Kalabrien vom neugeschaffenen Königreich Italien annektiert. Die führenden Waldenser, in ihrem Zentrum Turin liberal und freimaurerisch gesinnt, hatten sich im 19. Jahrundert der italienischen Nationalbewegung verschrieben, die sie nicht zuletzt als anti-katholische Revanche betrachteten. Die „Wiederentdeckung“ des waldensischen Zwischenspiels in Kalabrien fand um diese Zeit auch unter diesem Gesichtspunkt statt. Und da die italienische Einigungsbewegung vom Piemont (Haus Savoyen) angeführt wurde, erfolgte die Umbenennung von Guardia Lombardorum in Guardia Piemontese, denn die Waldenser ja keine Lombarden oder gar Langobarden gewesen. Dem lag ein Denkfehler zugrunde. Der Hinweis auf die Lombarden bezog sich nicht auf das Herkunftsgebiet der ursprünglichen Bewohner, sondern auf die Pauperes Lombardorum, die „Armen Lombarden“, eine Strömung innerhalb der Waldenser, die sich von den Pauperes Lugdunenses, den von Petrus Valdes gegründeten „Armen von Lyon“, abgespalten hatte. Nach dem Tod von Valdes war seine Anhängerschaft in verschiedene Gruppen und Richtungen zerfallen, deren bedeutendste soeben genannt wurden.
Es war ein örtlicher Lehnsherr, der Waldensern im 13. Jahrhundert die Möglichkeit gab, sich in Kalabrien niederzulassen. Guardia war nicht der erste Ort ihrer Ansiedlung, aber der bedeutendste. Der Ortsname, ein Wart-Name, geht auf einen Wehr- und Signalturm zurück, der Teil jenes Befestigungs- und Sicherungssystems entlang der Küsten war, das die Stauferherrscher, besonders Kaiser Friedrich II., in den Königreichen Sizilien und Neapel gegen die islamische Gefahr eingerichtet hatten und vielerorts noch heute bestaunt werden kann.
Die nach Kalabrien kommenden Waldenser wurden von örtlichen Adelsgeschlechtern, den Herren von Fuscaldo und den Herzögen von Montalto, zur Aufsiedlung eingesetzt, um brachliegendes Land zu kultivieren. 1315 kam eine zweite Gruppe, die in Montalto den Stadtteil der „Ultramontanen“ – so nannten die einheimischen Kalabresen die Fremden aus dem Norden – gründeten. Die Bezeichnung „ultramontan“ weist auf eine Herkunft jenseits der Westalpen hin, also aus einem heute zu Frankreich gehörenden Gebiet. Eine Bezeichnung, die in Kalabrien insgesamt auf die Waldenser übertragen wurde. Gleiches gilt umgekehrt für die zweite, allerdings erst nachträglich in jüngerer Zeit gebräuchliche Bezeichnung als „Piemontesen“.
1370 kamen Waldenser aus dem Delfinat hinzu. Sie waren keine Glaubensflüchtlinge, wie es wahrscheinlich auch jene nicht waren, die sich vor ihnen in Kalabrien niedergelassen hatten. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich um Weichende, jüngere Söhne und ihre Familien, die zu Hause kein Auskommen fanden. Anders war es bei der letzten Gruppe, die 1497 nach einem gescheiterten Aufstand gegen Herzog Philipp II. von Savoyen ihre Heimat verließ. Unter König Friedrich I. von Aragon, den Papst Alexander VI. im Jahr zuvor belehnt und in Capua gekrönt hatte, fanden auch sie Aufnahme im Königreich Neapel.
Die Entstehung der trotz allem kleinen waldensisch-okzitanisch-piemontesischen Insel in Kalabrien zeigt, daß das Verhältnis trotz der religiösen Differenzen entspannt war. Die Waldenser, die ihren Glauben geheimhielten, waren dankbar, eine neue Heimat gefunden zu haben und vermieden religiöse Provokationen. Sie gingen in ihrer katholischen Umgebung weitgehend auf. In den Waldenserorten, mit Ausnahme von Guardia, bildeten sie nur eine Minderheit. Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen wurden in der katholischen Pfarrkirche gefeiert. Alle zwei Jahre ließen sie waldensische Prediger aus dem Norden kommen, um ihren Glauben aufzufrischen. Zudem praktizierten sie ein strenges Heiratsverbot mit Nicht-Waldensern. Die weltlichen und kirchlichen Autoritäten wußten von ihrer Existenz. Die Kirche verfügte über genaue Kenntnisse der waldensischen „Simulation“ und ihrer abweichenden Lehren. Man hatte jedoch von Anfang an unter der Schirmherrschaft des örtlichen Adels eine Form der friedlichen Koexistenz gefunden, sodaß die Waldenser in Kalabrien von ihrer Umgebung nicht als Häretiker wahrgenommen wurden, was darin zum Ausdruck kam, daß sie auch nicht als „Waldenser“ bezeichnet wurden, was zur damaligen Zeit ein Synonym für Häretiker war.
Die Wende: Als die Waldenser zu Calvinisten wurden
Das änderte sich schlagartig mit der protestantischen Reformation. Die Calvinisten übten scharfe Kritik an der „Verborgenheit“ der Waldenser. Ihre Forderung, immer und überall Bekenntnis abzulegen, veränderte unter dem Eindruck der allgemeinen Umbrüche jener Zeit das waldensische Denken. Die Waldenser im Norden schlossen sich schließlich 1532 auf der Synode von Chanforan der Reformation an und gründeten sich als calvinistische Waldenserkirche neu. Erst damit verließen sie sichtbar und endgültig die katholische Kirche. Anders ausgedrückt, die Waldenser sind seither die Calvinisten in Italien. Angespornt von den protestantischen Erfolgen faßten sie den Entschluß, ihr Untergrunddasein aufzugeben und öffentlich aufzutreten. Bald gerieten auch die Waldenser in Kalabrien in diesen Sog und damit mitten in den katholisch-protestantischen Konflikt, der Teile Europas durchzog.
Auf katholischer Seite hatte 1556 Philipp II., der Sohn von Kaiser Karl V., das väterliche Erbe in Süditalien angetreten. Sein Vater, der mächtigste Herrscher seiner Zeit, sah sich am Glaubenskonflikt gescheitert, da es ihm nicht gelungen war, die Glaubenseinheit in seinem Reich, in dem die Sonne nicht unterging, zu bewahren. Seinem Sohn hatte er den mahnenden Auftrag mitgegeben, unerschütterlich an der Religion festzuhalten und den katholischen Glauben rein zu bewahren.
Süditalien stand als Nebenland Aragons unter spanischem Regiment. Das Vizekönigreich Neapel ließ Philipp II. vom Herzog von Alcalá (1559–1571) regieren, der mit den Folgen von Hungersnöten, Epidemien, Erdbeben, Überfällen islamischer Seeräuber, Angriffen der Türken und Bandenbildung zu kämpfen hatte, zu denen nun auch noch die calvinistische Häresie hinzukam. Hatte sich das Zusammenleben mit den Waldensern in Kalabrien, solange sie Waldenser waren, 300 Jahre problemlos gestaltet, änderte sich das, sobald sie zu Calvinisten wurden und ab 1560 auch in Kalabrien deren anti-katholische Radikalität annahmen.
Gilles des Gilles, einer der letzten waldensischen Prediger, der sich nicht der Reformation angeschlossen hatte, Vater des bekannten Historikers Pierre des Gilles (Petrus Gyillius), predigte 1556 in Kalabrien und drängte die dortigen Waldenser zu Klugheit und Mäßigung. Die von Calvin persönlich 1559 aus Genf entsandten Prediger Gian Luigi Pascale und Giacomo Bonello fanden jedoch mehr Gehör und wiegelten die Waldenser Kalabriens auf, sich öffentlich zu bekennen, die katholische Kirche als Teufelswerk und Götzendienerei zu verdammen und Proselyten zu machen. Die örtlichen Behörden, kirchliche wie weltliche, gerieten in Unruhe. Der seinen bis dahin treuen Untertanen wohlwollende Grundherr der kleinen Waldensergegend, Salvatore Spinelli, Herr von Fuscaldo, der diese 1540 durch Heirat erworben hatte, begab sich nach Neapel, in die Hauptstadt des Königreichs, um am Hof des Vizekönigs zu hören, wie mit dem neuen Phänomen umzugehen sei.
Der Erzbischof von Sorrent, der Dominikaner Giulio Pavesi, meinte in einer ersten Reaktion, allerdings nur in einem privaten Brief an Kardinal Girolamo Seriprando, man solle zur Abschreckung „zehn oder zwanzig der verstocktesten Häretiker ergreifen und verbrennen“. Die kirchliche Autorität und zielte jedoch auf die Bekehrung und setzte auf die gewohnten milderen Mittel der Inquisition. Der Häresie Verdächtigte wurden vorgeladen, legten das katholische Glaubensbekenntnis ab und wurden wieder nach Hause entlassen, nur einige calvinistische Prediger taten es nicht.
Als Folge der Reformation wurde 1542 vom Heiligen Stuhl die Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition errichtet, aus der später die heutige Glaubenskongregation wurde. 1554 verurteilte diese Kongregation die nunmehr calvinistischen Waldenser. Aktion und Reaktion schaukelten sich auf.
Der Aufruhr
Im Zentrum der Waldenser begannen sich aber die Ereignisse zu überschlagen. Die Religionskonflikte, die andere Gegenden Europas entflammten, nicht zuletzt die Kämpfe zwischen den calvinistisch gewordenen Waldensern in Piemont und ihrem Landesherrn, dem Herzog von Savoyen, und der Krieg zwischen den Spaniern und den niederländischen Calvinisten, blieben auf beiden Seiten nicht ohne Auswirkung auf die Stimmung. Die von den calvinistischen Predigern zu einem übersteigerten Selbstbewußtsein angestachelten Waldenser begannen in San Sisto provokant aufzutreten. Der Vikar des Erzbischofs von Cosenza drängte auf die Verhaftung der Rädelsführer. Der örtliche Statthalter von San Sisto namens Castagneta wandte Restriktionen an, weil der aufrührerische Charakter auch der weltlichen Macht gefährlich schien. In den Augen der Kirche waren die zu Calvinisten gewordenen Waldenser Häretiker, in jenen des Staates aber Rebellen. Dabei soll der staatliche Willen der spanischen Herrscher, damals der Habsburger, den katholischen Glauben zu schützen und ihrem Reich zu bewahren, nicht unterschätzt werden.
Der Herzog von Alcalá, Vizekönig von Neapel, forderte ein strenges Vorgehen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Für die Beurteilung, ob es sich um Häretiker handelte, war die Inquisition zuständig, für die Bestrafung von Aufruhr aber der Staat. Der Herzog schrieb dem Vikar des Erzbischofs von Cosenza, daß überführte Häretiker „nicht ungestraft“ bleiben dürften. Die beiden calvinistischen Hauptagitatoren Bonello und Pascale wurden ergriffen und hingerichtet. Bonello im Februar 1560 in Palermo, Pascale im September 1560 in Rom. Letzterer war einer der wenigen, die von der römischen Inquisition zum Tode verurteilt und im Kirchenstaat hingerichtet wurden. Die heute das kollektive Bild zum Thema Inquisition prägende spanische Inquisition wurde im Süden Italiens, obwohl spanisches Herrschaftsgebiet, nie eingeführt. 1559 hatte Philipp II. den Herzog von Alcalà zu dessen Ernennung zum Vizekönig angewiesen, auf diesbezügliche Versuche zu verzichten. Das spanische Regierungsmodell mit seiner speziellen Verschränkung von Staat und Religion widersprach dem Denken und den Gewohnheiten Süditaliens, was man in Madrid zur Kenntnis genommen hatte. Häresien wurden in Süditalien seit den Zeiten Friedrichs II. nicht unter dem Aspekt der Religion, sondern der Rebellion betrachtet und als „Majestätsbeleidigung“ verstanden. Was unter dem Stauferkaiser noch ziemlich widersprüchlich zum Einsatz kam, hatte sich im Laufe der Jahrhunderte organischer strukturiert.
Mehrere kalabrische Bischöfe meldeten Erfolge gegen die Häretiker verschiedener Provenienz, nachdem diese öffentlich abgeschworen hatten. An dieser Stelle tritt Kardinal Michele Ghislieri in die Geschichte ein, allerdings anders, als manchmal zu hören ist. Er war seit 1558 Großinquisitor der Kirche, was dem heutigen Präfekten der Glaubenskongregation entsprach. Als solcher äußerte er Zweifel an den Erfolgsberichten und ermahnte die Bischöfe Kalabriens, daß sich Häresien nicht durch bloße Abbitte beseitigen lassen, sondern bis zur „Wurzel“ vorgestoßen werden müsse.
Kardinal Ghislieri hatte objektive Gründe für seine Kritik. Ihm lag der detaillierte Bericht des Dominikaners Valerio Malvicino vor. Dieser war als Delegat der römischen Inquisition und der staatlichen Autorität nach Kalabrien geschickt worden, um die Waldenser-Frage zu lösen. Dort mußte er feststellen, daß die Waldenser zwar 1560 anstandslos vor dem Bischof von Cosenza abgeschworen, aber bloß „simuliert“ hatten, während sie ihr häretisches Bekenntnis beibehielten.
Der bewaffnete Konflikt
Malvicino erarbeitete gemäß seinem Auftrag ein Programm, um bis zur „Wurzel“ vorzustoßen, das im Februar 1561 vom örtlichen Burghauptmann Castagneta in Kraft gesetzt wurde. Die beiden wichtigsten Punkte waren die Verbote, okzitanisch zu sprechen und untereinander zu heiraten. Die Waldenser in Piemont hatten längst zu den Waffen gegriffen, nun taten es auch die Waldenser von San Sisto und töteten Castagneta. Sie übernahmen selbst die Kontrolle über das Land, und die Waldenser von Guardia schlossen sich ihrem Aufstand an. Die weltliche Macht schickte nun Soldaten. Eine Einheit von 40 Mann geriet in einen Hinterhalt und wurde von den Waldensern aufgerieben. Das war eine offene Kriegserklärung, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Ascanio Caracciolo, der Marchese von Brienza, rückte im Auftrag des Vizekönigs mit einer bewaffneten Streitmacht gegen die Aufständischen vor. Innerhalb weniger Tage, zwischen dem 26. Mai und dem 5. Juni 1561, stellte er die Ordnung militärisch wieder her. In diesen Tagen ereignete sich das „Massaker“, von dem eingangs die Rede war und das seit dem 19. Jahrhundert reichlich ausgeschmückt durch zahlreiche Publikationen geistert. Mit Hinterlist hätten sich Caracciolos Männer Zutritt zu Guardia verschafft und Mann und Maus, Frauen und Kinder niedergemetzelt. Ein Stadttor heiße seither „Bluttor“, weil das Blut der gemordeten Waldenser aus der Stadt zum Tor hinausgeflossen sei. 2000 Waldenser seien in diesen Tagen abgeschlachtet worden, so zumindest die am häufigsten genannten Zahl. Es finden sich auch Angaben, die von bis zu 6000 Getöteten sprechen.
Wie in jedem Krieg, im konkreten Fall handelte es sich für die Spanier um einen „gerechten Krieg“ gegen Rebellen, in Summe kann von bürgerkriegsähnlichen Unruhen gesprochen werden, fließt Blut, allerdings floß damals weit weniger davon als häufig angegeben. Es sind mehrere direkte Augenzeugenberichte erhalten, die ein überschaubares Bild liefern. Ein namentlich nicht bekannter Gefolgsmann Caracciolos schrieb am 5. Juni 1561, am Tag des Massakers, einen Bericht aus Guardia; am 21. Juni sandte Carlo Stuerdo, der Botschafter des Herzogs von Parma beim Heiligen Stuhl, einen Bericht an seinen Herzog; am 27. Juni berichtete Luigi d’Appiano, Sekretär von Gaspare del Fosso, dem Erzbischof von Reggio Calabria, an Kardinal Michele Ghislieri. Auf d’Appiano wird die maßlos überzogene Zahl von 2000 Hingerichteten zurückgeführt, allerdings ist diese Zuschreibung nicht mehr nachvollziehbar. In seinem Bericht findet sie sich nicht.
Caracciolo ließ, nachdem er San Sisto und dann auch Guardia eingenommen hatte, 86 Aufständische hinrichten, Häuser der Anführer niederbrennen und deren Rebstöcke abschneiden. Von den 86 ließ er in Guardia etliche vom Stadttor werfen, das dadurch als „Bluttor“ bekannt wurde. Eigentlich sollten 150 hingerichtet werden, was durch die Fürsprache von zwei eintreffenden Jesuiten verhindert werden konnte. Der direkte Zeuge, der am 5. Juni unter dem Eindruck der Ereignisse schrieb, schildert das Entsetzen, das die Hinrichtungen selbst unter den anwesenden Vertretern der Staatsmacht auslöste. Die Hingerichteten wurden entzweigeteilt und entlang der Straße in die benachbarte Stadt aufgehängt.
Der Bericht wirkt wie ein Hilferuf, wenn es heißt, Caracciolo werde wohl weitere Hinrichtungen durchführen, falls ihm nicht Einhalt geboten werde durch jene, die ihm Einhalt gebieten können. Daraus folgt, daß der Brief offenbar eine entsprechende Aufforderung an den Vizekönig war. Er schildert, daß die grausamen Szenen und die Klagen der Besiegten nach Mitleid verlangen. Nach Blutrünstigkeit klingt das nicht.
Laut den erwähnten Berichten konnten die Truppen insgesamt 1400 Aufständischer habhaft werden (nicht hinrichten, wie fälschlich da und dort zu lesen ist), was die behauptete Zahl von 2000 oder gar 6000 hingerichteten Waldensern widerlegt. 150 von ihnen, die zunächst in die Berge geflüchtet waren, hatten sich selbst gestellt, da ein Kopfgeld auf ihre Ergreifung ausgesetzt worden war.
Der größte Teil der Gefangenen, die nach Montalto gebracht worden waren, leistete Abbitte mit dem Hinweis, von radikalen Predigern verführt worden zu sein. Einige Hartnäckige, deren Zahl nicht bekannt ist, wurden auf die Galeeren verbannt, und die Verstocktesten, fünf Frauen, wurden „nach einem langen Versuch, sie zum Glauben zu bringen, nach frommem Fleiß und frommer Sorgfalt, die in solchen Fällen angewandt wird“, in Cosenza der weltlichen Macht überantwortet. Am 28. Juni 1561 sollten sie hingerichtet werden. Aus späteren Berichten geht jedoch hervor, daß es nicht dazu kam, da man Milde walten ließ, wie es zur damaligen Zeit häufig der Fall war. Sie wurden als Dienstboten Frauenklöstern zugewiesen.
Erzbischof Del Fosso, der im Auftrag von Kardinal Ghislieri als Vertreter der Inquisition nach Cosenza entsandt worden war, nahm dort Ende Juni das Vorgehen der weltlichen und kirchlichen Autorität zur Kenntnis. Auf nochmaliges Abschwören vor ihm, dem beauftragten Inquisitor, verzichtete er, um durch Milde die ganzen Sache zu Ende zu bringen. Der größte Teil der Gefangenen wurde darauf wieder in die Freiheit entlassen mit dem Versprechen, die ihnen auferlegte Buße einzuhalten. Erzbischof Del Fosso kehrte in seine Bischofsstadt Reggio Calabria zurück, in der er hochverehrt 1592 im hohen Alter von 96 Jahren verstarb.
Wir fassen zusammen: Nicht zweitausend oder sechstausend, sondern 125 Aufständische verloren ihr Leben: 86 im „Massaker“ von Guardia, 32 bei den Kämpfen davor und sieben Rädelsführer in Morone, drei aus San Sisto und vier aus Guardia. Ihre Namen sind bekannt. Erstere wurden wegen der Ermordung Castagnetas hingerichtet, alle anderen, sofern sie nicht im Kampf starben, wegen des bewaffneten Aufstandes und Häresie.
Kardinal Ghislieri, der spätere Papst Pius V., steht in keinem Zusammenhang mit der Militäraktion Caracciolos. Von ihm ist noch ein indirekter Hinweis zur Waldenserfrage in Kalabrien überliefert. Diese wird von Fra Giovanni da Fiumefreddo, einem bekehrten Waldenser, in einem Schreiben vom 28. Juni 1561 dem Kardinal Alessandrino mitgeteilt. Kardinal Ghislieri habe geäußert, daß durch die Eheschließungen mit „Italienern“, die Waldenser wurden wegen ihrer okzitanischen Sprache offensichtlich nicht als solche betrachtet, die Gegend in Sprache, Sitte und Glauben bald italienisch werde.
Nach Guardia, San Sisto und in die Nachbarorte wurden zudem Jesuiten entsandt mit dem Auftrag, „durch Glauben und Mitleid mittels Predigt und religiöser Unterweisung“ die Menschen zum katholischen Glauben zu führen. Unter ihnen ragen P. Niccolò Bobadilla und P. Cristoforo Rodríguez heraus. Letzterer, von Kardinal Ghislieri sehr geschätzt, wirkte 1663/64 in der Waldensergegend von Kalabrien, wohin er aus einer Mission im ägyptischen Kairo gerufen wurde. Ihm wird durch sein Vorbild und seine Predigt die Bekehrung von 900 Seelen zugeschrieben, in denen noch die waldensische oder eine andere Häresie präsent war.
Gelegentlich tauchte noch der Verdacht auf, es könnte noch verborgene Waldenser geben, doch kurz nach 1700 schloß das Heilige Offizium definitiv den Akt, ohne seit den Ereignissen von 1561 noch inquisitorische Maßnahmen ergriffen zu haben
Nicht ohne Ironie ist, daß genau an jenem 5. Juni 1561 in Piemont zwischen Waldensern und dem Herzog von Savoyen der Frieden von Cavour unterzeichnet wurde, mit dem ein fast 30 Jahre dauernder Kleinkrieg sein Ende fand, indem den calvinistischen Waldensern in einigen okzitanischen Tälern, in denen sie sich konzentrierten, einige Rechte eingeräumt wurden.
Nicht unerwähnt bleiben soll Venanzio Negri, ein calvinistischer Prediger aus Cosenza. Er dürfte nicht von den „Ultramontanen“ der okzitanischen Sprachinsel abgestammt haben, soll sich jedoch wegen deren Verfolgung dem Calvinismus angeschlossen haben. Ihm gelang die Flucht nach Genf, wo er allerdings in Konflikt mit den Calvinisten geriet und deren Verfolgung zu erleiden hatte. Ein anderer Exilant, ein gewisser Gentile von Neapel, wurde 1566 von den Reformierten in Bern sogar hingerichtet.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: valdesidicalabria.org/Wikicommons/sapiencia.eu (Screenshots)
Weiterführende Literatur:
Alfonso Tortora: La guerra di Spagna contro i valdesi della prima età moderna (1559–1563). Narrazioni e Rappresentazione di una „guerra giusta“, in: Magallánica. Revista de Historia Moderna, 5/10 2019.
Pierroberto Scaramella: “Sotto manto de santità”. L’Inquisizione romana, i Calabrovaldesi e l’accusa di simulazione religiosa, in: Les Dossiers de Grihl. Groupe de Recherches Interdisciplinaires sur l’Histoire du Littéraire, 2/2009.