
(Paris) Der Oberste Gerichtshof von Frankreich gelangte zur Erkenntnis, daß Kardinal Philippe Barbarin, damals Erzbischof von Lyon und Primas von Gallien, sich nicht der Vertuschung von sexuellen Mißbrauchsfällen durch einen Priester schuldig gemacht hatte. Das Höchstgericht bestätigte damit ein Urteil des Berufungsgerichts vom Januar 2020, das bereits zugunsten des Kardinals entschieden hatte.
Für Kardinal Barbarin ist das letztinstanzliche Urteil eine Genugtuung, ob es ihm auch ein wirklicher Trost ist, muß dahingestellt bleiben. Hinter dem Kardinal liegt ein jahrelanger dornenreicher Weg der Strafverfolgung, einer erstinstanzlichen Verurteilung, vor allem einer medialen Hetzjagd und schweren Demütigung. Vor allem letzteres wiegt der höchstrichterliche Freispruch wohl kaum auf. Was der Kardinal erleiden mußte, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Papst Johannes Paul II. hatte Barbarin, Priester des Bistums Créteil, 1998 zum Bischof von Moulins ernannt und 2002 zum Erzbischof von Lyon befördert. 2003 kreierte er ihn zum Kardinal. Seine Titelkirche ist das bekannte Gotteshaus Santissima Trinità dei Monti am oberen Ende der Spanischen Treppe. Sie ist eine der beiden französischen Nationalkirchen in Rom.
Anfang März 2019 hatte ein Gericht erster Instanz den Kardinal in seiner Bischofsstadt zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Der Fall sorgte für internationales Aufsehen, weil es sich dabei zusammen mit der Verurteilung von Kardinal George Pell in Australien um die ersten Fälle in der Geschichte handelte, in denen Kardinäle vor staatliche Gerichte gestellt und verurteilt wurden.
Bezeichnend ist, daß beide Kardinäle von den jeweiligen Obersten Gerichtshöfen freigesprochen wurden, Kardinal Barbarin bereits im Berufungsverfahren, Kardinal Pell erst in Letztinstanz. Die Fälle ähneln sich sehr stark: Beide Kardinäle wurden medial vorverurteilt. In beiden Fällen stellte sich schließlich ihre Unschuld heraus. Doch der durch die untergeordneten Justizorgane angerichtete Schaden für die Betroffenen und für die Kirche ist enorm. Die Berichterstattung über die Freisprüche nimmt sich im Vergleich zur Medienjagd gegen die Purpurträger bescheiden aus. In manchen Medienredaktionen, aber auch Justizpalästen schien eine unbändige Genugtuung Oberhand gewonnen zu haben, den sexuellen Mißbrauchsskandal vor Gericht abzuurteilen. Interessanterweise wurde das Exempel an zwei konservativen Kirchenvertretern statuiert, während tatsächlich schuldig gewordene Täter wie der ehemalige Kardinal Theodore McCarrick bis heute nicht vor Gericht gestellt wurden. Wer denkt, daß es sich dabei um Zufälle handelt, durchschaut nicht den Antrieb hinter den Kulissen.
Wenige Tage nach der Verurteilung im März 2019 wurde Kardinal Barbarin von Papst Franziskus empfangen. Bei dieser Gelegenheit überreichte er Franziskus sein Rücktrittsangebot, der es jedoch unter Verweis auf die Unschuldsvermutung überraschend ablehnte. Ebenso überraschend emeritierte er Barbarin jedoch im März 2020, nur wenige Wochen nachdem dieser vom Berufungsgericht freigesprochen worden war. In Santa Marta hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß der öffentliche Schaden zu groß war und die weitere Arbeit als Erzbischof zu überschattet sein würde. War der Kardinal von Franziskus nach der Verurteilung sofort empfangen worden, gewährte er dem Pupurträger nach dem Freispruch erst mehr als fünf Monate später eine Audienz. Die Emeritierung hatte Franziskus dazwischen entschieden – ohne vorheriges persönliches Gespräch. Trotz der Freisprüche gab es weder für Kardinal Barbarin noch für Kardinal Pell eine Rückkehr in ihre Ämter. Nicht gerade ein geeignetes Signal in Richtung Justiz und Medien, wie Beobachter anmerkten.
So mußte Kardinal Barbarin, obwohl schuldlos und erst 69 Jahre alt, sein Amt aufgeben. Er gab kurz nach der Begegnung mit Franziskus bekannt, sich in die Bretagne zurückzuziehen. Dort ist er seither Kaplan im Mutterhaus der Kleinen Schwestern der Armen und Professor der Dogmatik am erzbischöflichen Priesterseminar von Rennes. Erst im Oktober 2020 brach er kurzzeitig sein öffentliches Schweigen, als sein Buch zur Sache veröffentlicht wurde. Darin beklagt er: „Sie haben alles verdreht, was ich sagte.“ Seine Stimme sei „nicht mehr hörbar“ gewesen. Deshalb habe er die Notwendigkeit eingesehen, einen Schritt zurück zu machen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL