Wenn „Big Brother“ Gott ist

Ungewöhnliche Wege der russisch-orthodoxen Kirche


Das restaurierte Nilow-Kloster im Seligersee wird Schauplatz einer ungewöhnlichen Initiative.
Das wiedererrichtete Nilow-Kloster im Seligersee zwischen Moskau und Sankt Petersburg.

(Mos­kau) Unge­wöhn­li­che Wege geht die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che, die sie mit einem beein­drucken­den Wer­be­vi­deo bekanntgibt.

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Das Video wird vom rus­si­schen Fern­seh­sen­der СПАС (Spas) aus­ge­strahlt. Der Name des Sen­ders bezieht sich auf Jesus Chri­stus und bedeu­tet „Erlö­ser“, „Hei­land“, „Ret­ter“. Gegrün­det wur­de das Fern­seh­un­ter­neh­men 2005 mit Pri­vat­ka­pi­tal. Es stand der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che nahe und genoß den Segen des Mos­kau­er Patri­ar­chats. Die ortho­do­xe Kir­che war aber weder finan­zi­ell am Sen­der betei­ligt war noch übte sie direk­ten Ein­fluß auf das Fern­seh­pro­gramm aus. Das Ver­hält­nis war mit katho­li­schen Rund­funk­sen­dern wie bei­spiels­wei­se Radio Horeb, Boni­fa­ti­us TV, Radio Maria oder K‑TV ver­gleich­bar. Seit 2016 gehört der Sen­der aller­dings zur Gän­ze der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che. Seit­her haben sich die Ein­schalt­quo­ten ver­dop­pelt. Die Ver­brei­tung des Sen­de­pro­gramms erfolgt über Satel­lit und Kabel.

СПАС-TV
СПАС-TV, seit 2016 der Fern­seh­sen­der der rus­sisch-ortho­do­xen Kirche

СПАС-TV will, so die Idee, an den Erfolg von soge­nann­ten Rea­li­ty-Shows wie Big Brot­her und ähn­li­chen Sen­dun­gen anknüp­fen, aller­dings auf eine ganz ande­re Wei­se. Die ange­kün­dig­te Sen­dung wird unter dem Mot­to „Nur du und Gott“ ste­hen und han­delt in einem Klo­ster. Die Teil­neh­mer sind „Novi­zen“, die einen Monat lang ein Klo­ster „auf Zeit“ erle­ben werden.

Im Gegen­satz zu den bekann­ten Rea­li­ty-Shows, deren Umge­bung mehr oder weni­ger fik­tiv ist, wer­den die Teil­neh­mer von „Nur du und Gott“ ganz in der Rea­li­tät blei­ben: Sie wer­den in einem histo­ri­schen Klo­ster unter Mön­chen leben.

Die Sen­dung will dem Umstand Rech­nung tra­gen, daß eine Zeit im Klo­ster für nicht weni­ge gläu­bi­ge Rus­sen von Inter­es­se ist. Zugleich soll an die­se alte Tra­di­ti­on der Ortho­do­xie ange­knüpft und geför­dert werden.

Boris Kor­chew­ni­kow, der Gene­ral­di­rek­tor von СПАС-TV, erklär­te gegen­über der Pres­se, daß die Bewer­ber für die Teil­nah­me dem Sen­der ein Video über­mit­teln müs­sen, in dem sie sich vor­stel­len und dar­le­gen, war­um sie an der Sen­dung teil­neh­men wollen.

Nilus vom Seligersee

Ort der Sen­dung wird eines der schön­sten rus­si­schen Klö­ster sein, das Nilow-Klo­ster auf der Insel Sto­lob­ny. Die Insel liegt im Selig­ersee in den Wald­ai­hö­hen rund 320 Kilo­me­ter nord­west­lich von Mos­kau. Benannt ist es nach dem von der ortho­do­xen Kir­che als Hei­li­ger ver­ehr­ten Mönch Nilus vom Selig­ersee, auch bekannt als Nil von Sto­lob­ny, der im 16. Jahr­hun­dert leb­te. Nach­dem er zehn Jah­re im Klo­ster ver­bracht hat­te, errich­te­te er sich 1515, mit Erlaub­nis sei­nes Abtes, eine Klau­se in den Wald­ei­hö­hen und leb­te dort als Ein­sied­ler. Als sein Ruf der Hei­lig­keit bekannt wur­de und ihn zu vie­le Men­schen auf­such­ten, zog er sich 1528 auf die klei­ne Insel Sto­lob­ny im Selig­ersee zurück, wo er noch fast 27 Jah­re lebte. 

Nilus vom Seligersee
Nilus vom Selig­ersee, Dar­stel­lung der Klosteranlage

Auf der Insel ver­starb er am 7. Dezem­ber 1554 nach­dem ihn sein Beicht­va­ter zusam­men mit ande­ren Mön­chen auf­ge­sucht hat­te. Ihnen sag­te er die Errich­tung eines Klo­sters auf der Insel vor­aus. Nach sei­nem Tod habe sein Gesicht ganz außer­ge­wöhn­lich gestrahlt, wie sie berich­te­ten. Sein Grab, in dem ihn die Mön­che bestat­te­ten, hat­te er zuvor selbst ausgehoben. 

Mit dem Bau des Klo­sters wur­de bereits 1555 begon­nen. Das Grab wur­de rasch zum Ziel zahl­rei­cher Pil­ger. Die Bedeu­tung des Nilow-Klo­sters ver­deut­li­chen die Pil­ger­zah­len. Vor der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on war es nach der Gra­bes­kir­che in Jeru­sa­lem das meist­be­such­te Hei­lig­tum der ortho­do­xen Russen. 

Das Nilow-Kloster

Bald nach Nils Tod wur­de ein Mönch namens Her­man (lat. Ger­ma­nus, dt. Her­mann) zum ersten Rek­tor des Hei­lig­tums und damit zum eigent­li­chen Grün­der­va­ter der Klo­ster­ge­mein­schaft. Die Erschei­nungs­kir­che des Klo­sters wur­de in ihrer heu­ti­gen Form 1671 begon­nen, nach­dem das ursprüng­lich aus Holz errich­te­te Klo­ster 1665 einem Brand zum Opfer gefal­len war. 

Unter Zar Peter I. (1682–1725), der im Geist des Abso­lu­tis­mus mas­siv in kirch­li­che Ange­le­gen­hei­ten ein­griff, da er Mön­che für „Para­si­ten“ hielt, wur­de das Klo­ster als Ver­ban­nungs­ort für Bischö­fe und Äbte ver­wen­det, die sich in der Haupt­stadt und den wich­ti­gen Zen­tren den Refor­men des Zaren wider­setzt hat­ten. In den Klo­ster­an­na­len wer­den die Ver­bann­ten aller­dings lobend in Erin­ne­rung bewahrt. Anders als vom Zaren unter­stellt, stand das Klo­ster wirt­schaft­lich auf eige­nen Bei­nen. Es erhielt sich selbst, ernähr­te sei­ne Arbei­ter und deren Fami­li­en und ver­sorg­te auch die Pil­ger kosten­los, die auf die Insel kamen.

Unter Zarin Katha­ri­na II. bra­chen wie­der gün­sti­ge­re Zei­ten an. 1756 wur­de Nil vom Selig­ersee vom Hei­li­gen Syn­od hei­lig­ge­spro­chen. Das Klo­ster erhielt zu jener Zeit auch sein heu­ti­ges, klas­si­zi­sti­sches Aus­se­hen. Auf Anwei­sung des Hei­li­gen Syn­od leb­ten 30 Mön­che und 30 Novi­zen auf der Insel.

Mit der Auf­schüt­tung eines Dam­mes und der Errich­tung einer Brücke konn­te vor 200 Jah­ren die Insel mit dem Fest­land ver­bun­den werden.

Das grundlegen renovierte Nilowkloster
Das grund­le­gend reno­vier­te Nilow-Klo­ster, Blick vom Glocken­turm über die Erschei­nungs­kir­che auf den Seligersee

Kommunistischer Furor

Mit der kom­mu­ni­sti­schen Macht­er­grei­fung von 1917 ent­lud sich der athe­isti­sche Furor auch gegen das Klo­ster auf der Insel Sto­lob­ny. Die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che spricht von der „zer­stö­re­ri­schen Revolution“. 

1919 wur­de die Mönchs­ge­mein­schaft von den Kom­mu­ni­sten ent­eig­net. Sie beschlag­nahm­ten alle Kost­bar­kei­ten und plün­der­ten das Klo­ster. Das Grab des Hei­li­gen wur­de auf­ge­bro­chen und des­sen Reli­qui­en in läster­li­cher Absicht zur Schau gestellt. Anschlie­ßend wur­den sie ins neu­errich­te­te Muse­um nach Ost­asch­kow gebracht. Die Mön­che aber leb­ten noch auf der Insel. Um auch sie los­zu­wer­den, streng­te das neue Regime unter Vor­wän­den meh­re­re Pro­zes­se an. Schließ­lich gelang es, auch den letz­ten Mönch zu ver­trei­ben und das Klo­ster auf­zu­he­ben. 1928 wur­de die letz­te Lit­ur­gie zelebriert. 

Bis 1939 wur­den Insel und Klo­ster zum Straf­la­ger für min­der­jäh­ri­ge Geset­zes­bre­cher umfunk­tio­niert. Ab 1939 wur­de dar­aus ein Son­der­la­ger der berüch­tig­ten, sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei NKDW. Inhaf­tiert wur­den rund 16.000 pol­ni­sche Füh­rungs­kräf­te, die von der Roten Armee nach Sto­lob­ny ver­schleppt wor­den waren, nach­dem die Sowjet­uni­on gemäß Hit­ler-Sta­lin-Pakt die Ost­hälf­te Polens besetzt hat­te. Mehr als 6.000 die­ser Polen – vor­wie­gend Offi­zie­re, Ärz­te, Prie­ster, Rechts­an­wäl­te, Poli­zei­be­am­te – wur­den im Früh­jahr 1940, par­al­lel zum sowje­ti­schen Mas­sa­ker von Katyn, erschos­sen und bei dem Dorf Med­no­je auf dem Fest­land ver­gra­ben. Das Mas­sa­ker wur­de – ähn­lich wie in Katyn – zwar bekannt, weil die deut­sche Wehr­macht im Okto­ber 1941 das Dorf für vier Tage beset­zen konn­te, doch die Sowjet­uni­on, die bei Kriegs­en­de zu den Sie­gern gehör­te, leug­ne­te. Da Polen nach 1945 in den kom­mu­ni­sti­schen Macht­be­reich fiel, konn­te auch dort erst nach 1990 über das Mas­sa­ker gespro­chen wer­den. Nach dem Ende der Sowjet­uni­on erfolg­te aus Mos­kau das Ein­ge­ständ­nis, daß es das Mas­sa­ker gab und der NKWD die Ver­ant­wor­tung dafür trägt. 

Ab 1991 gelang es mit rus­si­scher Hil­fe, 25 Mas­sen­grä­ber mit mehr als 6.300 pol­ni­sche Opfern zu fin­den. In Med­no­je erin­nert heu­te eine Gedenk­stät­te und im Mari­en­wall­fahrts­ort Tschen­sto­ch­au ein Denk­mal an die Opfer des Massakers.

Nach Aus­bruch des deutsch-sowje­ti­schen Krie­ges im Juni 1941 wur­de die Klo­ster­in­sel als Laza­rett der Roten Armee genützt. Nach Kriegs­en­de wur­de sie wie­der zur Kolo­nie für jugend­li­che Straf­tä­ter, dann ab 1960 zum Alten­heim. Nach­dem die bereits schwer in Mit­lei­den­schaft gezo­ge­ne Klo­ster­an­la­ge vom Staat unter Denk­mal­schutz gestellt wur­de, erfolg­te 1971 deren Über­eig­nung an die staat­li­che Gewerk­schaft, von der die Insel für Exkur­sio­nen, Tou­ris­mus und als Cam­ping­platz für Inter­es­sen­ten aus der Sowjet­uni­on und dem Ost­block genutzt wur­de. Wegen der Bau­fäl­lig­keit, muß­te die Klo­ster­an­la­ge bereits Ende der 80er Jah­re, noch vor dem Ende der Sowjet­herr­schaft, auf­ge­ge­ben wer­den. Der Ver­fall zur Rui­ne schien vor­pro­gram­miert, doch dann erfolg­te der Zusam­men­bruch der kom­mu­ni­sti­schen Diktatur.

Der Neubeginn

1991 wur­den Insel und Gebäu­de wie­der der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che zurück­er­stat­tet, die sie 1995 mit Mön­chen wie­der­be­sie­deln konnte.

Umfang­rei­che, drin­gend not­wen­di­ge Restau­rie­rungs­ar­bei­ten der gro­ßen Klo­ster­kir­che konn­ten 2006 abge­schlos­sen wer­den. Durch die Zer­stö­run­gen wäh­rend der kom­mu­ni­sti­schen Gewalt­herr­schaft konn­ten vie­le Kunst­schät­ze, dar­un­ter die Male­rei­en im Inne­ren der Kir­che aller­dings nicht mehr geret­tet werden.

Das 1555 gegründete Kloster auf der Insel Stolobny: während des Kommunismus Straflager, NKWD-Lager, Altenheim, Urlaubsheim der Gewerkschaft
Das 1555 gegrün­de­te Klo­ster auf der Insel Sto­lob­ny: wäh­rend des Kom­mu­nis­mus Straf­la­ger, NKWD-Lager, Alten­heim, Urlaubs­heim der Gewerkschaft

Ins­ge­samt zählt die aus­ge­dehn­te Klo­ster­an­la­ge, einer der größ­ten Ruß­lands, sechs Kir­chen und meh­re­re Kapel­len. Eine umfas­sen­de Restau­rie­rung der Kon­vents­ge­bäu­de wur­de 2009 begonnen.

Zum Klo­ster gehö­ren eine gro­ße Land­wirt­schaft und eine Imke­rei. Sie bil­den die wirt­schaft­li­che Grund­la­ge der Mönchs­ge­mein­schaft. Inzwi­schen gibt es auch ein Gäste­haus für Pil­ger und Besucher.

Aus­ge­strahlt wird die ange­kün­dig­te Sen­dung unter dem Titel „Остров“ (Ost­rov, dt. „Die Insel“). Unter dem­sel­ben Titel gibt es bereits einen emp­feh­lens­wer­ten Spiel­film über einen Mönch, der in der Zeit zwi­schen den 40er und den 70er Jah­ren han­delt und gera­de auch für latei­ni­sche Chri­sten einen inter­es­san­ten Ein­blick in Aspek­te des Mönchs­tums der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che bietet.

„Wir wol­len Men­schen die Mög­lich­keit geben, im Geist des Mönch­tums zu leben“, so Kor­chew­ni­kow. Das Sen­de­for­mat erin­ne­re zwar dar­an, doch, so ver­si­chert der Gene­al­di­rek­tor von СПАС-TV, „Ost­rov“ wer­de nichts mit Big Brot­her oder des­sen rus­si­scher Aus­ga­be Dom‑2 zu tun haben.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/nilostolobenskaja-pustyn.ru (Screen­shots)

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1 Kommentar

  1. Was von dem Pro­jekt zu hal­ten ist, weiß ich nicht, aber Dan­ke für die Anga­ben zum Nilow-Klo­ster. Der Wie­der­auf­bau nach den Ver­wü­stun­gen des Kom­mu­nis­mus ist schon bemer­kens­wert. Wenn ich da an unse­re Öko-Sozia­li­sten den­ke… Man­che ler­nen es offen­bar nie.

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