
Eli Baden-Lasar ist das Kind seiner Zeit, unserer Zeit. Er ist natürlich der Sohn eines Vaters und einer Mutter. Doch die Dinge sind in seinem Leben etwas komplizierter. Nicht weil er es sich komplizierter gemacht hätte, sondern weil es seine Eltern für ihn getan haben. Dabei kennen sich seine Eltern nicht einmal.
Die „zwei Mütter“ von Eli Baden-Lasar haben ihm nicht verschwiegen, daß er mit Hilfe eines Samenspenders gezeugt wurde. Als er elf Jahre alt war, begann er Fragen zu stellen. So wurde ihm der anonyme Fragebogen in die Hand gedrückt, den sein Vater ausgefüllt hatte, und der darauf mit einer Nummer identifiziert ist. Das sind die einzigen Informationen, die den Kundinnen der California Cryobank, einer der größten Samenbanken der Welt, gegeben werden.
Der Vater eine Nummer?
Eli trug den Zettel seither in seinem Rucksack immer bei sich. Immer wieder holte er ihn heraus, um die Handschrift anzuschauen. Es war alles, was er von seinem Vater wußte, aber es war zumindest etwas Konkretes, etwas, das er in seinen Händen halten konnte. Er wollte seinen Vater nicht unbedingt kennenlernen. Bedenken überwogen. „Es genügte mir, zu wissen, daß er real war, daß sein Leben irgendwie mit dem meinen verbunden ist, obwohl dieses Dokument gleichzeitig besagte, daß es total getrennt davon war.“
„Kompliziert“ ist ein Wort, das sich häufig in Elis Schilderung wiederholt, wenn er mit Viviana Mazza, Journalistin des Corriere della Sera am Telefon spricht. Sie in Mailand, er in Kalifornien. „Kompliziert“ ist irgendwie alles, was die Herkunft und die Existenz des heute 20-Jährigen betrifft. Es werde immer „kompliziert“, wenn er darüber nachzudenken beginne. Es fällt ihm schwer, seine Gefühle näher zu definieren. Nicht weil er es nicht könnte, sondern weil alles so „kompliziert“ ist. Er spricht weder von „Vater“ noch von „Bruder“ oder „Schwester“:
„Das sind keine Begriffe, die genau zutreffen. Sie können nicht wirklich beschreiben, was diese Beziehungen wirklich sind, und das ist ein zusätzliches Hindernis, wenn man versucht, zu erarbeiten, was man wirklich empfindet.“
Bis zum vergangenen Sommer, obwohl Eli wußte, daß er einen echten Vater hatte, irgendwo, hatte er nie daran gedacht, auch Halbgeschwister zu haben, daß es noch mehr von „seiner Sorte“ geben könnte.
Er dachte erst darüber nach, als er erfahren hatte, daß zwei seiner Freunde, vom selben Samenspender abstammten. Möglich wurde das durch das Donor Silbing Registry, einer vor 17 Jahren geschaffenen Internetseite von Wendy Kramer und ihrem Sohn Ryan, weil sie der Überzeugung sind, daß die Anonymität zwar den Interessen der Samenbanken entsprechen, aber nicht denen der betroffenen Menschen.
Es genügt, die Nummer des Spenders einzugeben. Wenn sie mit dem Eintrag eines anderen Nutzers übereinstimmt, erhält man per E‑Mail eine Benachrichtigung. Auch wenn der „Vater“ vielleicht nicht zum Vorschein kommen sollte, besteht zumindest die Möglichkeit, mit eventuellen Halbgeschwistern in Kontakt zu treten.
Eli entdeckte auf diese Weise, 32 Halbbrüder und Halbschwestern zu haben. Eine Zahl, die ihn schockierte, die aber in diesem ethisch dunklen Sektor alles andere als ungewöhnlich ist. In den USA gibt es keine Gesetze, mit denen die Kinderzahl je Samenspender eingeschränkt wird. Die Entscheidung liegt allein bei den Samenbanken, und die wollen Geld machen.
Als die California Cryobank 1977 gegründet wurde, ahnte auch noch niemand, daß DNA-Tests und Internetseiten wie Ancestry.com die Anonymität unmöglich machen würden.
So kam in den vergangenen Jahren ans Licht, daß Hunderte von Samenspendern in den USA Dutzende von Kindern gezeugt hatten, nicht wenige sogar mehr als hundert.
Für Eli war es eine Entdeckung, als befinde er sich inmitten eines perversen Sozialexperiments. Er fühlte sich wie ein Industrieprodukt, das am Fließband erzeugt worden war.
Damit fingen die Überraschungen allerdings erst an. Eine der ersten war, herauszufinden, daß sein ehemaliger Mitschüler, Gus Lamb aus Boston, in Wirklichkeit sein Bruder war. Es fällt ihm noch immer schwer, die Mischung aus Freude und Entsetzen zu beschreiben, die er dabei empfand. Nicht nur Gus ist gleich alt wie Eli. Viele der 32 Geschwister sind mehr oder weniger Gleichaltrige.
Als er damit begann, sich mit ihnen zu treffen, befiel ihn jedesmal ein Schauer. Er begegnete völlig fremden Menschen, die aber zugleich nicht fremd waren, oder es irgendwie jedenfalls nicht sein sollten. Sie hatten doch alle einen Teil mit ihm gemeinsam. Er stellte Ähnlichkeiten fest und begann identische Verhaltensweisen zu entdecken. Nach der dritten Begegnung stellte er sich die Frage, wie viele es wirklich „davon“ da draußen in der Welt geben wird.
Eine seiner „beiden Mütter“, die in einer lesbischen Beziehungen leben, bekam auch gewisse Bedenken. Sie sagte, er müsse einen DNA-Test machen, bevor er eine sexuelle Beziehung eingehe, um Inzest zu vermeiden.
Eli besuchte alle 32 Halbgeschwister und nahm einen Fotoapparat mit, um die Begegnungen zu dokumentieren. Eigentlich wollte er sie gar nicht kennenlernen.
„Es war die Angst, die mich antrieb. Ich hatte Angst vor dem, was sie darstellen. Ich war aus dem Gleichgewicht und hoffte, daß mir mein Interesse für die Fotografie dabei helfen könnte, es wiederzufinden. Ich wollte das System begreifen, das uns gezeugt hatte, und versuchte das über die kreative Seite der Fotografie.“
Schließlich bot er dem New York Times Magazine an, die Porträts zu veröffentlichen, die er festgehalten hatte. Auf diese Weise finanzierte er sich die Reise von zehn Monaten durch 16 US-Staaten. Viviana Mazza schrieb dazu am 19. Juli:
„Wir alle haben ein Familienalbum, wir blättern darin, um uns zu erinnern, wer wir sind, um den Blick wiederzufinden, den wir als Kinder hatten und die Personen zu sehen, die wir lieben. Das Album von Eli, das Ende Juni von der amerikanischen Zeitschrift erstmals veröffentlicht wurde, existiert durch eine Abwesenheit, die des biologischen Vaters, der die ‚Kinder‘ dazu treibt, sich untereinander kennenzulernen, um etwas Neues über sich selbst zu erfahren.“
Eli verwendet eine moderne Version eines alten Fotoapparats. Für jedes Bild braucht er eine Stunde. Eine guter Vorwand, um die Objekte lange zu beobachten. Eli beobachtete genau, er suchte. Dazu Mazza:
„Die Langsamkeit dieses Kennenlernprozesses ist auch ein Versuch, das Unbehagen zu ‚heilen‘, das durch den Eindruck entstanden ist, das Produkt einer schnellen Finanztransaktion zu sein.“
Mit manchen Halbgeschwistern verbringt er einen Nachmittag, mit anderen einen ganzen Tag. Am Ende dreht sich das Gespräch immer um „ihn“, den Samenspender. Man versucht sein Aussehen zu erraten oder sich seinen Charakter vorzustellen, indem Ähnlichkeiten zwischen den Kindern zusammengefügt werden: Lippen, Haare, mehrere sind Künstler. Etliche habe auch „untypische Familienverhältnisse“ wie Eli, weil die Mütter auf die heterologe In-Vitro-Fertilisation zurückgegriffen haben.
Die gewollte Dramatik in seinen Aufnahmen ist Elis Antwort auf „die leichtfertige Werbung, die Samenspender als Superhelden darstellt“. Darin steckt eine offene Kritik am System, dem er sein Leben verdankt, wenn auch keine Verurteilung. Dazu ist er nicht nur ein Kind seiner Zeit, unserer Zeit, es ist auch ein Art Selbstschutz.
Eli beschäftigt vor allem die Frage, ob Samenspendern Grenzen gesetzt werden. Geschichten wie seine kommen in den USA immer mehr zum Vorschein. Hollywood reagierte darauf mit dem Film „Delivery Man“, der in der Bevölkerung aufkommende Bedenken durch ein Happy End zerstreuen soll. Mit oberflächlicher Simplifizierung versichert der Film, daß Vince Vaughn, seine 533 künstlich gezeugten Kinder und seine künftige Frau, die von ihm schwanger ist, alle eine große Familie und glücklich sein werden. Auch im Film wird ein lesbisches Paar gezeigt, der übrigens – man darf staunen – von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft mit dem ab 0 Jahren freigegeben wurde. Ein echter „Familienfilm“? Das Leben ist aber kein Hollywood-Film. Der Filmvater hat dreimal in der Woche für 25 Dollar Samen gespendet, um sich damit die Miete zu bezahlen. Jahrelang.
Anders als im Film ist bei Eli alles komplizierter. Nachdem er zwölf Stunden mit einer seiner „Schwestern“ verbrachte, sagte diese ein nettes Wort zu ihm. Doch das irritierte mehr, als es half. In allen Begegnungen herrschte auf beiden Seiten große „Verwirrung“, wie Eli es beschreibt. Ein Empfinden das er und seine Halbgeschwister teilten.
„Ich bin in das Leben dieser Menschen eingedrungen, manchmal für einen Tag oder zwei, manchmal auch weniger, und jede Begegnung war dramatisch.“
Frankreichs Regierung legte am Mittwoch einen Gesetzentwurf vor, mit dem die „Künstliche Befruchtung für alle“ eingeführt werden soll, auch für Lesben und alleinstehende Frauen. Das Gesetz soll erlauben, was in den USA seit Jahrzehnten möglich ist – obwohl Lebensgeschichten wie jene von Eli bekannt sind.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: CR/NYT (Screenshot)
Es ist eine Tragödie