
von Amand Timmermans
Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts finden in der Kirchengeschichtsschreibung kaum Beachtung. Zwischen den aufregenden Kriegsjahren der 40er und den wilden 60er-Jahren mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil scheinen sie offenbar langweilig und wenig interessant.
Zu Unrecht, wurden doch in diesen Jahren die Tendenzen gelegt und verfestigt, die wenig später zu der gewaltigen Zäsur in der Kirchengeschichte führten, die das Zweite Vaticanum bedeutet.
Die Missa Luba – ein Symptom
Besonders illustrativ läßt sich das am Beispiel Belgiens darstellen: Das kirchliche Leben zeigte in dem früher fast homogen römisch-katholischen Land schon damals Auflösungserscheinungen und Merkwürdigkeiten, welche den revolutionären Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils vorwegnahmen, von Anfang an führend beeinflußten und zerstörend wirken ließen.
Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Geschichte der sogenannte Missa Luba.
Dabei handelt es sich um Musik für die Messe, die im Stil des schwarzafrikanischen Volkes der Luba komponiert ist, damals im kolonialen Duktus besser bekannt als Baluba.
1921 wurde Maurits Jan Lodewijk Haazen in einer kinderreichen und musikalischen, christdemokratischen Familie in Antwerpen geboren. 1941 trat er in den Orden der Franziskaner ein (Ordensname Guido) und wurde 1947 zum Priester geweiht. Im selben Jahr gründete er in Turnhout einen ersten Chor mit seinem künftigen Markennamen „De Troubadours“.
Haazens Wunsch, als Missionar in China zu dienen, konnte wegen der kommunistischen Machtübernahme dort nicht mehr verwirklicht werden. Ab 1953 wurde er in der belgischen Kolonie Kongo eingesetzt.
In Kamina (südliches Kasai) bildete er an der Jungenschule der St. Bavo-Mission einen großen Chor (45 Buben und 17 Erwachsene). Haazen ließ hier autochthone Lieder der Baluba singen.
Die lokalen, belgischen Kolonialen, damals schon stark von den Vereinigten Staaten und der Jazzmusik beeindruckt, waren begeistert.
Der Sprung nach Europa
Der Chor sang bald darauf schon für König Balduin anläßlich von dessen Reise in den Kongo im Jahr 1955 (und hieß seitdem „Les Troubadours de Roi Baudouin“).
Schrittweise experimentierend, gedeckt von einem progressiven Oberen und unterstützt vom Jesuiten Msgr. Joseph Guffens, dem bereits mit 59 Jahren emeritierten Bischof-Koadjutor des Apostolischen Vikariats Koango o Kwango, setzte Haazen seine Gedanken in die Praxis um: Er entwickelte eine Messe mit authentischer afrikanischer Musik, auf die der lateinische Text improvisiert wurde.
Haazen komponierte nicht selbst, sondern die Lehrer/Sänger ließen sich hauptsächlich inspirieren von den Kasàlà (Lobgesänge der (Ba)Luba mit antiphonaler Struktur).
Am 23. März 1958 erklang die Missa Luba erstmals in Kamina. Einen Tag später reisten P. Haazen und der Chor schon nach Belgien, um dort bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel sechs Monate lang zu singen. Eingeladen hatte sie Msgr. Guffens, der – nach Belgien zurückgekehrt – zum Verantwortlichen für den Pavillon der Katholischen Missionen bei der Weltausstellung ernannt worden war. Guffens wollte nicht die Arbeit der europäischen Missionare zeigen, sondern das Entstehen einer afrikanischen Kirche. Die Stimmung war schon geprägt von Antikolonialismus und Inkulturation.
Die Missa Luba wurde von Haazens Chor bei diesem Aufenthalt an die 130 Mal gesungen, hauptsächlich im Pavillon der Katholischen Missionen. Dort wurde auch eine Plattenaufnahme der Firma Philips angefertigt. Aufführungen gab es auch in den Niederlanden und in Deutschland.
Die Troubadours sangen einmal sogar im Königlichen Palast in Brüssel, notabene zusammen mit den Wiener Sängerknaben, und dort auch ein speziell für sie komponiertes Tantum ergo.
Kurzlebiges Momentum
60 Jahre später kann sich kaum noch jemand an diese Ereignisse erinnern.
1960 wurde die belgische Kolonie Kongo unabhängig, verbunden mit großen Tumulten und Unruhen..
Haazen verließ den Kongo und unterrichtete in Belgien Musik an katholischen Schulen.
1964 brachte er auf Druck der Plattenfirma Philips (Primavera Editions Musicales) die Musik in Notenschrift zu Papier.
In Zentralafrika tobten in den 60er und 70er Jahren Bürgerkriege. Belgien selbst erlitt schwere politische und ökonomische Krisen. Das Zweite Vatikanische Konzil kam und ging. 1968 wurde die westliche Welt erschüttert, und eine gewaltige Zäsur in der Kultur und im Geistesleben trat auf.
Die Missa Luba verschwand genau so plötzlich, wie sie entstanden war.
1964–1968 wurde sie in kurzen Auszügen als Filmmusik in gleich vier internationalen Filmen eingesetzt (zweimal das Kyrie, einmal das Gloria, einmal das Sanctus). Nach der Liturgiereform war auch das uninteressant geworden.
1969 gab Lawson-Gould Music Publ. Inc. in New York die Notation mit englischem Text heraus.
Haazen selbst trat 1965 aus dem Franziskanerorden aus, heiratete 1966 eine Frau aus einer großen katholischen Familie und wurde Übersetzer. Den Ordensnamen behielt er bei.
Das kinderlose Ehepaar war sehr sozial: Es wurde zu Pflegeeltern für acht Pflegekinder (im Alter von 9 Monaten bis 8 Jahren).
1979, im Alter von 58 Jahren, ging Haazen in den Vorruhestand. Er komponierte noch ein bißchen; u.a. standen noch lange drei Lieder von ihm im Gesangbuch der christlichen Jugendbewegung Chiro in Flandern (leider spurlos verschwunden, inklusive der Links im Internet).
Haazen konzentrierte sich dann auf Töpferei und Keramik und betrieb viel Kunstfotografie. Auf theologischem Gebiet läßt sich von ihm ab 1969 nichts finden.
Er starb 2004, an den Rollstuhl gefesselt, kurz vor seinem 83. Geburtstag.
Wie ein schlechtes Soufflé
Erst nach 30 Jahren des Vergessens wurde die Missa Luba wiederentdeckt.
Der Niedergang des katholischen Glaubens und des christlichen Milieus in Nordbelgien war inzwischen fast total, während in Zaire/Kongo fast kontinuierlich Kriege und Aufstände tobten.
Die koloniale Vergangenheit von Belgien wurde wie tiefgekühlt eingefroren.
Das Beispiel ist insgesamt eine gewaltige Illustrierung, wie schon in den Jahren vor dem Konzil starke modernistische Tendenzen und Aktivitäten vorhanden waren, die Zerstörungen dann während des Konzils enorm waren, wie der Klerus in Scharen weglief und wie hinterher alles wie ein schlechtes Soufflé in sich zusammensackte.
Es waren ausländische (amerikanische und italienische) Filme, die sich der Missa Luba als Lieferant von Filmmusik bedienten.
1999 wurde die Partitur von 1969 erneut herausgegeben. 2005 veröffentlichte ein US-amerikanischer Musikforscher eine große kritische Edition.
Neben der originalen Philips-Aufnahme gibt es inzwischen auch Aufnahmen aus den USA, aus Kenia und aus Trinidad & Tobago. Teile sind auch auf Youtube zu sehen und zu hören.
Die Erinnerung an die Missa Luba in Belgien ist fast null: Sie ist zu sehr mit der Kolonialzeit verbunden, zu schwarz, zu christlich, zu uninteressant.
Die Wikipedia-Artikel zeigen illustrativ diesen Niedergang. Wie dort geschrieben, wurde ab 2005 die Missa Luba einmal pro Jahr in den Niederlanden aufgeführt, wohl in der Kapelle der Sociêteit voor afrikaanse Missies (SAM).
Auch das ist nicht mehr aktuell: Diese Missionsgesellschaft wurde inzwischen aufgehoben und die Gebäude an einen Privatmann verkauft.
Noch eine persönliche Erinnerung
Anfang der 70er Jahre versuchte man in den bischöflichen Collèges in Belgien, die sehr geringe Begeisterung für Schulmessen im Novus Ordo händeringend mit moderner Liturgie zu steigern.
In Anknüpfung an Negro Spirituals, an Martin Luther King und an den Bürgerrechtskampf in den USA, indem man mit dem späten 1968er-Geist mitmachen wollte, und zusammen mit der leider damals sehr ausgeprägten flämischen Abkehr vom Belgizismus und insgesamt einer Verdrängung der französischsprachigen Kolonialpolitik aus dem Gedächtnis, wurde die Langspielplatte der Missa Luba an den Gymnasien herumgereicht.
„Missa Luba: Es singen die „Sängerchen der Lualaba“. (1)
Unser braver Priester-Lehrer, ein gediegener Latinist und Gräzist, und (natürlich) ein Bauernsohn, sagte zu den ziemlich kritischen Schülern:
„Der Chor hieß früher ‚die Sängerchen von König Balduin‘, aber das ist jetzt natürlich alles vorbei.“
Mobutu Sese Seko war damals gerade voll engagiert bei der „Zairisierung“ des Kongo.
Die Klasse schaute offensichtlich nicht weniger kritisch.
„Sie wissen übrigens wahrscheinlich, wo sie herstammen.“
Fragende Ahnungslosigkeit.
„Nun ja, die Hauptstadt der Baluba ist Kamina. Das ist sehr bekannt bei Menschen, die in der Kolonie waren, und bei ihren Familienmitgliedern und Bekannten. Es kam auch häufig in den Nachrichten.“
Weiterhin fragende Ahnungslosigkeit.
„In Kamina ist eine große Luftwaffenbasis.“
„Von dort starten immer die Parachutistes (Fallschirmjäger), wenn sie wieder einmal im Kongo in militärische Operationen gedroppt werden“ (sic).
Die Schulmesse war kein Erfolg.
Das Experiment wurde nicht wiederholt.
Das surrealistische Mosaik aus kirchlichem Progressismus, kolonialen Verknüpfungen, liturgischen Experimenten, para- und postkonziliarer Desintegration und Verwirrung, späterer Amnesie und Schwarzer Legende, Militärkenntnissen und Militärpraxis (vier Jahre später sprangen belgische und französische Fallschirmjäger über der Minenstadt Kolwezi ab) wurde in einem Aufguß in a nutshell präsentiert.
Text: Amand Timmermans
Bild: Wikicommons/Youtube (Screenshots)
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(1) Es hätte wohl richtig „der Baluba“ heißen müssen. Der bekannte Fluß Lualaba liegt in Katanga. Der lokale Fluß bei Kamina ist der Lulua.