Die EKD-Verantwortlichen verklären Martin Luther zum Urheber der Moderne. Doch der untaugliche Versuch, den Reformator auf Gegenwartstauglichkeit zu trimmen, entkernt das protestantische Glaubenssystem vollends.
Ein Gastkommentar von Hubert Hecker.
Das diesjährige Reformationsjubiläum und die vorausgegangene Luther-Dekade sind von einem Kuratorium mit hochrangigen staatlichen und kirchlichen Vertretern geplant und geleitet. In dem Gremium sitzen drei Bundesminister, fünf Ministerpräsidenten und ein Verfassungsrichter sowie protestantische Präsides, Laienbischöfe, Präsidenten und Vorsitzende.
Deutsch-nationaler Charakter des Luther-Jubiläums
Mit einem schwarz-rot-goldenen Luther-Logo betont das Kuratorium den deutsch-nationalen Charakter des Luther-Jubiläums. Die drei großen „nationalen Sonderausstellungen“ in Berlin, Wittenberg und Eisenach werden unter dem martkschreierischen Slogan „3xhammer.de“ angepriesen. Unter der Eventmarke des Hammer-Symbols soll die „volle Wucht der Reformation“ in Deutschland einschlagen.
Auf eine säkular-nationale Vermarktung des Luther-Jubiläums hatte sich auch der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom Juni 2008 festgelegt: Deutschland könne sich „im Rahmen der Kampagnen zur Luther-Dekade und zum Reformationsjubiläum 2017 einmal mehr, wie etwa zur Fußballweltmeisterschaft 2006, als offenes und gastfreundliches Land präsentieren“. Angesichts von Millionen reisewilliger Protestanten stellte man auch die „touristischen sowie ökonomischen Synergie-Effekte“ heraus.
Das Parlament ist an der Reformation nur in ihrer Gegenwartsrelevanz interessiert. Kurzerhand erklärt sie alle bedeutsamen gesellschaftlich-politischen Werte der modernen Gesellschaft in Luthers Aufbruch verwurzelt – wie etwa soziale Verantwortung, moderne Grundrechte, die Grundlagen der Demokratie sowie Eigenverantwortung und Gewissensentscheidung.
Solche politisch gefärbten Aussagen sind leicht als Rückprojektionen des aktuellen Zeitgeistes auf die Reformationszeit zu erkennen. Das war allerdings bisher schon immer so bei früheren Lutherjubiläen. Mit ideologischen Vereinnahmungen versuchten die jeweiligen historischen Eliten, Luthers Positionen für ihre aktuellen Ziele zu instrumentalisieren:
Vereinnahmung Luthers für den jeweiligen Zeitgeist – auch heute
Auf dem Wartburgfest 1817 wurde Luther als deutscher Nationalheld gefeiert. Er befeuerte insbesondere den Kampf um die nationale Einigung gegen den „Teufel Napoleon“. 1883 zu Luthers 400. Geburtstag avancierte der Reformator zum Gründungsvater der deutschen Nation, die in der Konstituierung des Deutschen Reiches nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 vollendet wurde. 1917 wurde Luthers unbeugsamer Kampfeswillen beschworen, um die Deutschen in einer Zeit großer Not zu retten: „Du stehst am Amboss, Lutherheld. Und wir, Alldeutschland, sind deine Schmiedehelfer.“ Im Lutherjahr 1933 feierte die Mehrheit der Protestanten als „Deutsche Christen“ Luther als den gottgesandten Vorboten des Führers. „Gott hat uns den Führer geschenkt“, schallte es von protestantischen Kanzeln, „und Martin Luther lehrt uns den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit.“
1983 hatte das Martin-Luther-Komitee unter dem Vorsitz von Erich Honecker Historiker beauftragt, die Relevanz des Reformators für die DDR herauszustellen. In 15 Thesen kamen sie zum Ergebnis: Martin Luther habe entscheidend zur frühbürgerlichen Revolution gegen die reaktionäre Kräfte von Feudalismus und Kirche beigetragen. Luthers progressives Erbe sei aufgehoben in der sozialistischen deutschen Nationalkultur. Die protestantischen Christen brächten mit Berufung auf Martin Luther ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Fortschritt in das sozialistische Gemeinwesen ein – wie auch für die fortschrittlichen Bewegungen auf der ganzen Welt.
450 Jahre lang forderten die Repräsentanten von Thron und Altar oder Führer und Pfarrer in Luthers Namen die jeweils politischen Ziele ein. Auch 2017 gibt es einen Schulterschluss zwischen Staat und Protestantismus zur gemeinsamen Lutherverwertung. Heuer wird Luther für die aktuell propagierten Werte wie Freiheit und Toleranz, Demokratie und Grundrechte in Anspruch genommen.
Die neue Rechtfertigungslehre vom legendarischen Luther
Für das Problem, dass diese Prinzipien mit dem historischen Luther absolut nichts zu tun haben, hat die EKD selbst eine verblüffende Lösung parat. In ihrem offiziellen Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit“ schreiben die Autoren in bemerkenswerter Offenheit: „Jubiläen rekonstruieren nicht einfach Gewesenes, sondern schreiben es in allgemeine Erzählungen ein, die aktuelle Relevanz beanspruchen dürfen.“ Von hinten gelesen bedeutet der Satz: Die heutigen relevanten Themen werden so in eine rückblendende Erzählung eingebaut, dass am historischen Ende des Narrativs immer der Reformator am Anfang steht. So ist dann auch die Unterschrift zu dem Luther-Logo zu verstehen: „Am Anfang war das Wort“ – das fabelhafte vom postfaktischen Luther.
Die politischen Repräsentanten haben die moderne protestantische Rechtfertigungslehre vom legendarischen Luther als Urknall der neuzeitlichen Freiheitsentwicklung dankbar aufgenommen. Denn so bietet das aktuelle Luther-Jubiläum die einmalige Chance, einen neuen Nationalmythos zu konstruieren.
Eine neue ‚große Erzählung’ zur Geschichte Deutschlands
Bisher wurde die deutsche Geschichte vielfach nach dem Dekadenz-Muster erzählt: Seit der Niederschlagung der Bauernkriege hätte der deutsche Sonderwege in der Neuzeit stets reaktionär-gewaltsame Konfliktlösungen hervorgebracht – bis er schließlich in der Katastrophe von Nazideutschland endete. Erst mit der reeducation der Westalliierten wäre Deutschland auf den Weg des Westens hin zu Demokratie und Freiheit gebracht worden.
Das neue Geschichtsnarrativ würde dagegen lauten: Luther und die Reformation wären der Auftakt zu einer langen, dialektisch verästelten und verschlungenen Freiheitsgeschichte Deutschlands im europäischen Kontext. Damit könnte der Kulturprotestantismus wieder die Deutungshoheit über deutsche Geschichte erringen, die er mit dem Untergang des Nazi-Reichs verloren hatte. Zugleich wäre mit dieser Geschichtsdeutung die hässliche Spur von Luthers judenfeindlichen Schriften bis hin zur protestantischen Nazi-Kollaboration am Holocaust als Seitenirrweg in der größeren deutschen Freiheitsgeschichte aufgehoben.
Statt historisch-kritischer Aufarbeitung von Luthers Lehre und Wirkung …
Der kleine Schönheitsfehler besteht aber auch hier, dass diese Geschichtserzählung rein legendarisch ist. Die EKD-Verantwortlichen, voran die Reformationsbotschafterin Margot Käßmann, verbreiten mit ihrer These, dass Luther der Urheber der Moderne sei, „reformationspopulistische Fake News“ – so der protestantische Professor Thomas Kaufmann.
Ein anderer Kirchengeschichtler, der Reformationshistoriker Heinz Schilling, hat die Herausforderung zum Luthergedenken als eine doppelte Historisierung charakterisiert: Erstens sollte man sich „die Reformationsepoche als eine uns heute zutiefst fremde Welt vor Augen stellen – schwer begreiflich aufgrund ihrer ganz anderen politischen und rechtlichen Institutionen wie auch der Glaubens- und Denkstrukturen, die nicht mehr die unsrigen sind“. Zweitens seien die „über fünf Jahrhunderte angehäuften Schichten der Rezeptions- und Gedächtnishalde abzuarbeiten“. Deren verzerrte, vielfach durch Mythen verstellte Bilder von Luther, seiner Reformation und deren Weltwirkung müssten dekonstruiert und durch eine wissenschaftlich fundierte Interpretation ersetzt werden.
Aber auch die historisch-kritischen Wissenschaftler blenden die entscheidende dritte Fragestellung aus: Warum war und ist der Protestantismus so anfällig für den jeweiligen Zeitgeist? Welche Elemente in Luthers neugläubiger Lehre begünstigen die prinzipienlose Verschwisterung mit den herrschenden Zeitströmungen?
Erste Antworten darauf müssten weiter vertieft werden: Luther beraubte die Auslegung der heiligen Schrift der Leitplanken von kirchlichem Lehramt und Tradition. Indem er die Bibel-Interpretation in die „Freiheit eines Christenmenschen“ verlegte, förderte er die beliebige Konstruktion von Christlichkeit. Auch Luthers Glaubenssubjektivismus nach dem Motto: „Ich glaube, also bin ich heilssicher“ dürfte zur protestantischen Prinzipienlosigkeit beigetragen haben.
… werden neue Luther-Mythen in Umlauf gesetzt
Die EKD-Verantwortlichen lassen sich von solchen kritischen Fragen nicht von ihrem aktuellen Anpassungskurs abhalten. Sie fügen den alten Luther-Mythen neue hinzu. Ihre gezirkelten Argumentationen lauten beispielhaft etwa so:
- Ja, Luther verstand Freiheit ausschließlich geistlich-gläubig, zusätzlich gebunden an seine (selektive) Auslegung der heiligen Schrift. Für den weltlichen Bereich sah er strikte Untertanenhörigkeit unter die gottgegebene Obrigkeit vor. Aber letztendlich habe sich der geistliche Gewissens- und Freiheitsbegriff über die spezifisch protestantische Säkularisierung auch für die weltlichen Bezüge durchgesetzt.
- Ja, Luther war ein extrem intoleranter Hassprediger gegenüber Päpsten, Katholiken, Juden, Türken, Hexen, Wiedertäufer und allen Kritikern. Aber durch seinen Protest gegen Papst und Kirche habe er andere Reformatoren und Abspaltungen indirekt ermutigt, so dass sich als Nebenwirkung eine plurale Konfessionslandschaft ergeben habe, deren immanente Logik auf Toleranz hinauslaufe.
Die abenteuerliche Argumentation mit Luthers indirekter Wirkung auf die Moderne durch seine unbeabsichtigten Nebenwirkungen erinnert an Hegels „List der Weltvernunft“, die über das Spiel mit den Banden ihr Ziel erreichen würde. Aber diese spekulative Geschichtsdeutung ist nicht verifizierbar und daher wenig überzeugend.
Der untaugliche Versuch, Luther auf Gegenwartstauglichkeit zu trimmen
Zu Luthers angeblichen Impulsen für Demokratie und Menschenrechte ist selbst diese verschwurbelte Theorie der verschlungenen Nebenwirkungen nicht mehr zu gebrauchen. Denn nach Luthers Anthropologie vom total verderbten Menschengeschlecht dürfen die Menschen weder Rechte beanspruchen noch ihr Gemeinwesen selbst gestalten.
Mit dem anbiedernden Versuch, die spätmittelalterliche Person Luthers auf Gegenwartstauglichkeit zu trimmen, verspielt die EKD-Leitung den letzten Rest von Glaubwürdigkeit. Durch die Fokussierung auf Luthers weltliche (Neben-) Wirkungen entkernt sie dessen zentrale theologische Aussagen, die damals zur Abspaltung von der katholischen Kirche verleiteten. Der theologisch entleerte Luther andererseits erweist sich nurmehr als eine der vielen historischen Figuren, die aus ihren persönlichen Irrungen und Wirrungen heraus viel Streit und Leid über die Menschen brachten. So oder so taugen die „wuchtigen Hammerschläge“ sowie die Verbrennung von Bullen und Büchern vor 500 Jahren nicht mehr dazu, Inspirationen und Perspektiven an die Gegenwart für die Zukunft zu geben.
Text: Hubert Hecker
Bild: Wikicommons
Bei den Lutheranern ist das Problem, daß sie neben der Gründungspersönlichkeit des Glaubens eine Gründungspersönlichkeit ihrer Konfession haben. Da Jesus Christus absolute Wahrheit ist, kann man sich auf ihn jederzeit als 100 Prozent verläßlichen Glaubenslehrer berufen. Allerdings kam Martin Luther nicht einmal annäherungsweise an einen menschlichen Heiligen heran. Daher war es mit dem irdischen Ableben Luthers vorprogrammiert, daß die Protestanten in seiner Gefolgschaft ihn verklären müssen, um überhaupt ihr Dasein in dieser Konfession rechtfertigen zu können. Luther war, ist und wird auch für immer eine theologische Sackgasse bleiben.