Der Mariologe Mark I. Miravalle, Professor an der Franciscan University of Steubenville in den USA, verfaßte einen ersten Kommentar zum Dokument Mater populi fidelis des Glaubensdikasteriums, das am Dienstag mit der Unterschrift von Papst Leo XIV. vorgestellt wurde. Miravalle ist Vorsitzender der Anfang der 1990er Jahre gegründeten Vereinigung Vox Populi Mariae Mediatrici, die sich für ein fünftes Mariendogma einsetzt, mit dem die Marientitel Miterlöserin (Corredemptrix) und Mittlerin aller Gnaden (Mediatrix) verbindlich definiert werden sollen. Er ist zudem auch Vorsitzender der von ihm mitgegründeten International Marian Association (INA), deren Ziel die Förderung einer soliden Mariologie und echter Marienfrömmigkeit ist. Die INA sieht sich im Dienst der Kardinäle und Bischöfe und die Verbreitung der vollen Wahrheit und Liebe über Maria als Teil der Neuevangelisierung. Wir dokumentieren die erste Reaktion von Prof. Miravalle auf das jüngste Dokument des Glaubensdikasteriums, die er auf der Internetseite von Vox Populi Mariae Mediatrici veröffentlichte:
Kurzer Kommentar zum neuen vatikanischen Dokument über Maria
Am 4. November 2025 veröffentlichte das Dikasterium für die Glaubenslehre das Dokument Mater populi fidelis: Lehrmäßige Note zu einigen marianischen Titeln, die sich auf das Mitwirken Marias am Heilswerk beziehen. Ich möchte im folgenden einige Punkte zu diesem Dokument ansprechen, die meiner Ansicht nach eine vertiefte Prüfung und Klärung im Geiste des authentischen Respekts und Dialogs erfordern. Wir stimmen nachdrücklich der im Dokument ausgedrückten absoluten Verpflichtung zu, die biblische und traditionelle Offenbarung von der unendlichen Vorrangstellung Jesu Christi als unseres einzigen göttlichen Mittlers und Erlösers zu bekennen, zu schützen und zu verkünden. Zugleich möchten wir die untergeordnete und doch unvergleichliche menschliche Mitwirkung der Unbefleckten Jungfrau Maria, der Mutter Jesu Christi, im historischen Werk der Erlösung angemessen anerkennen.
Nach der zahlreichen Verwendung des Marientitels „Corredemptrix“ durch Päpste und deren jeweilige Lehrämter – darunter Pius X., Pius XI. und siebenmal Johannes Paul II. – (wobei die ursprüngliche Zustimmung zum Titel „Corredemptrix“ durch Leo XIII. im Jahr 1885 nicht erwähnt wird), sowie der langen Tradition der Titel „Redemptrix“ und „Corredemptrix“, die bis ins 10. bzw. 15. Jahrhundert zurückreicht, kommt das Dokument zu dem Schluß, daß die Verwendung des Titels „Corredemptrix“ dennoch „nicht angemessen“ sei (Nr. 22). Bedeutet dies, daß diese päpstlichen Verwendungen des Titels „Corredemptrix“ als „unangemessen“ angesehen werden, ebenso wie die Verwendung durch den heiligen Pater Pio von Pietrelcina, die heilige Teresa von Kalkutta, den heiligen Josefmaria Escrivá, den heiligen John Henry Kardinal Newman, die heilige Teresa Benedicta vom Kreuz, den heiligen Maximilian Kolbe, Schwester Lucia von Fatima sowie die traditionelle Verwendung des Titels durch andere Heilige, Selige, Theologen und Mystiker über beinahe ein ganzes Jahrtausend hinweg?
Die Lehre von der Mit-Erlösung wurde auch von Papst Benedikt XV. in seinem Dokument Inter Sodalicia von 1918 eindeutig formuliert, als er erklärte: „…Wir dürfen mit Recht sagen, daß Maria zusammen mit Christus die Menschheit erlöst hat.“ Papst Benedikt XVI. sprach in seiner Fatima-Botschaft vom 13. Mai 2010 an die Kranken ebenfalls davon, daß die Gläubigen „Mit-Erlöser im Erlöser“ seien. Sind diese Aussagen nun ebenfalls als „nicht angemessen“ zu betrachten?
Ironischerweise bezeichnete Johannes Paul II. am 4. November 1984, genau 41 Jahre vor der Veröffentlichung dieses Dokuments, die Gottesmutter als „Maria – die Corredemptrix“. Natürlich möchten wir als Mitglieder der Kirche solchen Verwendungen durch den Stellvertreter Christi mit Respekt begegnen.
Ein im Dokument angeführter Grund für die Schlußfolgerung, daß der Titel „Miterlöserin“ unangemessen sei, ist die Notwendigkeit, den Titel häufig „neu zu erklären“, wodurch er dem Volk Gottes nicht „hilfreich“ sei (Nr. 22). Andere Marientitel wie „Unbefleckte Empfängnis“ und „Mutter Gottes“ erforderten ebenfalls eine fortwährende Erklärung und Erläuterung, doch werden diese Titel weiterhin angemessen verwendet – ebenso wie andere katholische Dogmen, etwa das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma, die Lehre von der Erbsünde oder der Transsubstantiation.
Das päpstliche Lehramt hat über die letzten vier Jahrhunderte hinweg konsequent die Lehre über Marias Rolle als „Mediatrix“, „Mittlerin aller Gnaden“, sowohl als Titel als auch durch Erklärung gelehrt, beginnend mit Papst Benedikt XIV. im 18. Jahrhundert (Gloriosae Domini, 1748) bis hin zur Verwendung des Titels „Mittlerin der Gnaden“ durch Papst Leo XIV. am 15. August 2025. Zahlreiche päpstliche Enzykliken lehren autoritativ, daß Maria die Mittlerin aller Gnaden ist und eine sekundäre vermittlerische Rolle bei der Austeilung der erlösenden Gnaden ausübt. Leo XIII. schrieb beispielsweise: „[Maria], die so innig mit dem Geheimnis der menschlichen Erlösung verbunden war, ist ebenso eng mit der Austeilung der Gnaden verbunden, die für alle Zeiten aus der Erlösung fließen werden … unter ihren vielen Titeln … die Spenderin aller himmlischen Gaben“ (Adjutricem populi, 1895, ASS 28, 130f). In den Formulierungen nach dem Konzil bezeichnet Johannes Paul II. Maria achtmal als „Mittlerin aller Gnaden“, ebenso wie Papst Benedikt XVI. die Bezeichnung „Mediatrix omnium gratiarum“ am 11. Februar 2013 verwendete.
Es ist stets anerkannt worden, daß Marias Rolle als Mittlerin aller Gnaden nicht ihre eigene unbefleckte Empfängnis einschließt, sondern vielmehr ihre sekundäre Austeilung der erlösenden Gnaden im Dienst Christi, des einen göttlichen Mittlers, an die gefallene Menschheit bezeichnet.
Daher ist es sowohl beunruhigend als auch verwirrend, mehrere Hinweise in diesem Dokument zu sehen, die suggerieren, daß Maria keine sekundäre Rolle mit Christus bei der universalen Austeilung der erlösenden Gnaden innehabe (vgl. §§ 53, 55). Ebenso überraschend ist, daß die gesamte autoritative Behandlung des Titels „Mittlerin aller Gnaden“ durch das päpstliche Lehramt vom 18. bis zum 21. Jahrhundert im Dokument nicht erwähnt wird. Die Präsentation theologischer Prämissen, die von Jahrhunderten päpstlich autoritativer Lehre abweichen, kann beim Volk Gottes zu erheblicher Verwirrung führen, als handle es sich um eine Änderung der Lehre, ganz zu schweigen von den negativen Auswirkungen auf die konsistente Glaubensautorität des Lehramtes.
Die Verwendung von Lehramtsreferenzen im Dokument erscheint inkonsistent und zeitweise objektivitäts- und gleichbehandlungsdefizitär. So werden Ex-tempore-Äußerungen von Papst Franziskus während Predigten oder Audienzen (die bisher nicht schriftlich vorlagen) in vollständigen Zitaten wiedergegeben, während päpstliche Bezüge Johannes Pauls II. zum Titel „Miterlöserin“ in Predigten und Ansprachen mit ausführlicher Erklärung (z. B. Homilie in Guayaquil, 31. Januar 1985) weder im Text noch in den Fußnoten zitiert werden. Ebenso liefert Papst Pius XI. in seiner Ansprache vom 30. November 1933 eine hervorragende Erklärung und Verteidigung des Titels „Corredemptrix“, die ebenfalls nicht in das Dokument aufgenommen wurde.
Eine ähnliche Ungleichbehandlung zeigt sich bei zahlreichen Verweisen auf Kardinal Joseph Ratzinger. Obwohl Kardinal Ratzinger als Kardinal Vorbehalte gegen den Titel äußerte, lehnte er ihn nicht vollständig ab, sondern sah ihn für noch nicht ausgereift an – dies war 1996, also vor etwa 30 Jahren. Als Papst sprach er ihn zudem nie explizit ab. Die Bezugnahme auf weltliche Interviews von Kardinal Ratzinger gegen den Titel „Corredemptrix“, ohne gleichzeitig päpstliche Aussagen mit diesem Titel zu berücksichtigen, scheint der erforderlichen Objektivität zu entbehren. Kardinal Eugenio Pacelli, der spätere Pius XII., bezeichnete die Gottesmutter als Corredemptrix in vier Fällen, doch diese Verwendungen sollten nicht auf die Autorität des päpstlichen Lehramtes übertragen werden.
Hinsichtlich der Bewegung für ein fünftes Mariendogma muß daran erinnert werden, daß christliche Wahrheiten entweder in Form von Titeln oder Begriffen feierlich definiert werden können, z. B. „Mutter Gottes“, oder durch spezifizierte Verlautbarungen, z. B. zur Natur der päpstlichen Unfehlbarkeit, der Erbsünde etc. Dieses Dokument des Glaubensdikasteriums hindert daher keineswegs die fortdauernde kirchliche Gebets- und Fürbittbewegung für die feierliche Definition von Marias geistlicher Mutterschaft, die auf der Wahrheit von Marias untergeordneter Rolle mit und unter Jesus in der Erlösung beruht. Diese internationale Bewegung für ein fünftes marianisches Dogma, die 1915 vom großen belgischen Prälaten Désiré Kardinal Mercier initiiert wurde, um die feierliche Definition von Marias geistlicher Mutterschaft zu erreichen – einschließlich ihrer untergeordneten Mitwirkungsrollen in der Erlösung und Vermittlung durch Jesus Christus – setzt freudig ihr Gebet und ihre Petition für ein mögliches fünftes Mariendogma fort. Dies geschieht in voller Übereinstimmung mit can. 212 CIC, der das Recht der christlichen Gläubigen bestätigt und schützt, den Hirten der Kirche Angelegenheiten zur Kenntnis zu bringen, die sie für das Wohl der Kirche von Bedeutung halten. Wir sind fest überzeugt, daß die wahre und voll ausgeübte Fürsprache der Gottesmutter von entscheidender Bedeutung für das Wohl der Kirche und der Welt ist.
Der heilige John Henry Kardinal Newman, der am 1. November von unserem Heiligen Vater gerade zum Kirchenlehrer erhoben wurde, erklärte, daß bei der Entwicklung von Dogmen, einschließlich möglicher marianischer Dogmen, die Kirchenhierarchie die Laien zu Rate ziehen sollte, um deren unschätzbare Beiträge zu erhalten (Rambler, 1859). Hinsichtlich einer feierlichen Definition von Marias geistlicher Mutterschaft, einschließlich ihrer untergeordneten Rollen der einzigartigen mütterlichen Mitwirkung mit Christus, haben in den letzten 30 Jahren etwa acht Millionen Gläubige aus 150 Ländern Petitionen an den Heiligen Stuhl gesandt, um respektvoll und getragen vom Gebet eine dogmatische Verkündigung zu erbitten. Diese internationale kirchliche Petition umfaßt auch 700 Bischöfe und Kardinäle, die mit Unterschriften und Unterstützungsschreiben den Heiligen Stuhl für diese marianische Definition kontaktiert haben. Wir glauben, daß eine feierliche Verkündigung der „ganzen Wahrheit über Maria“ durch den Heiligen Vater eine noch stärkere Ausübung der mächtigen Fürsprache der Gottesmutter für die Kirche und die Welt heute ermöglichen würde.
In diesem Zusammenhang danken wir dem Dikasterium für die Glaubenslehre für die erneute weltweite Aufmerksamkeit, die auf diesen entscheidenden Dialog über die untergeordnete Rolle Marias, der Neuen Eva, in der von Christus, dem Neuen Adam, vollbrachten Erlösung gelenkt wird. Möge der gesamte von Papst Leo und dem Heiligen Stuhl geförderte synodale Prozeß aufrichtig und umfassend umgesetzt werden, um die Unterscheidung in der Kirche zu diesem zentralen marianischen Thema zu leiten – sowohl zum geistlichen Nutzen des Volkes Gottes als auch zur angemessenen Ehrung der Gottesmutter, der Mutter der Kirche und treuen Mutter aller Gläubigen.
Dr. Mark Miravalle
Vorsitzender von Vox Populi Mariae Mediatrici
Vorsitzender der International Marian Association
6. November 2025
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons

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