
Von Roberto de Mattei*
Moses, Gesetzgeber und Führer des Volkes Israel zur Zeit des Exodus, ist eine der bedeutendsten und verehrtesten Gestalten der Menschheitsgeschichte. Sein Leben beginnt im 15. Jahrhundert v. Chr., in einer Epoche der Unterdrückung für die Israeliten, die sich nach ihrer Ansiedlung in Ägypten unter die Knechtschaft des Pharaos begeben mußten. In Furcht vor dem Wachsen der hebräischen Bevölkerung befahl der Pharao die Tötung aller männlichen neugeborenen Kinder. Um ihren Sohn zu retten, legte Moses’ Mutter, Jochebed, ihn in ein Kästchen aus Papyrus und überließ ihn den Wassern des Nils. Das Kind wurde von einer Tochter des Pharaos gefunden, die es adoptierte und am Hofe Ägyptens großzog. Moses erhielt eine königliche Erziehung und wurde in allen Wissenschaften ausgebildet, vergaß jedoch nie seine Herkunft.
Im Alter von etwa vierzig Jahren floh er aus Ägypten, nachdem er einen Ägypter getötet hatte, der einen Hebräer mißhandelte. Er fand Zuflucht im Land Midian, heiratete Zippora, die Tochter eines dortigen Priesters, und wurde Vater von zwei Söhnen. Eines Tages, während er seine Herde nahe dem Berg Horeb weidete, erlebte er eine außergewöhnliche göttliche Offenbarung, die ihn zum Anführer bestimmte. Aus einem Dornbusch, der brannte, ohne zu verbrennen, sprach Gott zu ihm, offenbarte Seinen Namen und übertrug ihm die Mission, das Volk Israel zu befreien:
„Ich bin, der Ich bin. So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‚Ich bin‘ hat mich zu euch gesandt“ (Exodus 3,14).
Moses kehrte nach Ägypten zurück und trat gemeinsam mit seinem Bruder Aaron vor den Pharao, um die Freilassung der Israeliten zu fordern. Als dieser sich weigerte, schlug Gott Ägypten mit zehn von Moses angekündigten Plagen. Die letzte, der Tod der Erstgeborenen, veranlaßte den Pharao schließlich, den Israeliten die Ausreise zu gestatten. Als er jedoch seine Entscheidung bereute und mit seinem Heer die Verfolgung aufnahm, öffnete Gott das Rote Meer, sodaß das Volk Israel hindurchziehen konnte, und schloß daraufhin die Wasserfluten über ihren Verfolgern, die im Meer untergingen. Daraufhin sangen Moses und die Israeliten dem Herrn ein Loblied:
„Ich will dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben; Roß und Reiter warf er ins Meer. Der Herr ist meine Stärke und mein Lied, er wurde mir zum Heil. Er ist mein Gott, ihn will ich preisen, der Gott meines Vaters, ihn will ich erheben. Der Herr ist ein Krieger, Herr ist sein Name. Pharaos Wagen und sein Heer warf er ins Meer, seine besten Kämpfer versanken im Roten Meer. Die Fluten bedeckten sie, sie sanken wie Stein in die Tiefe“ (Exodus 15,1–5).
Nach dem Auszug führte Moses das Volk durch die Wüste zum Sinai. Dort ereignete sich einer der größten Wunderakte der Heilsgeschichte: Gott übergab Moses die Zehn Gebote und besiegelte damit den Bund mit dem Volk Israel. Die Gebote, die Gott selbst verkündet hatte, wurden auf zwei steinernen Tafeln niedergeschrieben – die ersten drei, welche die Pflichten gegenüber Gott betreffen, auf der ersten Tafel; die übrigen sieben, welche die Pflichten gegenüber den Mitmenschen betreffen, auf der zweiten. Die gesamte bisherige Heils- und Weltgeschichte – die Schöpfung, der Sündenfall, die Verheißung des Erlösers, die Sintflut, die Sprachverwirrung, die Berufung Abrahams, die Geschichte Isaaks, Jakobs und Josephs, die Plagen Ägyptens, die Befreiung Israels, der Durchzug durchs Rote Meer – ist gewissermaßen die Einleitung zum Dekalog, insbesondere zu diesem ersten Wort: „Ich bin der Herr, dein Gott!“, auf welchem das gesamte göttliche Gesetz gründet, wie René-François Rohrbacher im ersten Band seiner Allgemeinen Kirchengeschichte (1842) schreibt.
Die Wanderung Moses’ mit dem Volk zur Verheißenen Erde währte vierzig Jahre, geprägt von Prüfungen, Klagen und Auflehnungen des Volkes. Moses wirkte als Führer, Mittler und Richter, der die Anliegen und Schuld des Volkes vor Gott brachte. Die Kirchenväter sahen in ihm deshalb eine Vorausdarstellung Christi – des Gesetzgebers und Mittlers des Neuen Bundes. Nachdem Moses das Volk an die Schwelle Kanaans geführt hatte, durfte er von der Höhe des Berges Nebo – im heutigen Jordanien – das Gelobte Land schauen, es jedoch nicht betreten, wie Gott es ihm vorhergesagt hatte. Er starb im Alter von 120 Jahren, und seine Grabstätte ist bis heute unbekannt.
Am Sinai, so berichtet der heilige Gregor von Nyssa, wurde Moses in die höchsten Mysterien eingeführt, als Gott ihm den Plan des Tabernakels offenbarte – eines Heiligtums von solcher Schönheit und Vielfalt, daß es schwer in Worte zu fassen ist. Es bestand aus einem von Säulen getragenen Eingang, Vorhängen, Leuchtern, einem Opferaltar und – im Innersten – einem unzugänglichen Heiligtum. Gott befahl Moses, jenes himmlische Heiligtum, das er auf dem Berg geschaut hatte, in einem irdischen Bauwerk nachzubilden, errichtet von Menschenhand und aus den edelsten und herrlichsten Materialien gefertigt, die aufzutreiben waren.
„Achte darauf“, so sprach der Herr, „daß du alles nach dem Urbild machst, das dir auf dem Berge gezeigt wurde.“ (Exodus 25,9)
In derselben Offenbarung enthüllte Gott auch die Gewänder des Hohenpriesters. Diese liturgischen Kleider waren reich an symbolischer Bedeutung; jedes einzelne Detail war nicht bloß Zierde, sondern Ausdruck der geistlichen Tugenden, die von einem Priester verlangt werden.
Die Gesetzestafeln, von Gottes eigener Hand beschrieben, wurden in der Bundeslade aufbewahrt – einer mit Gold überzogenen Truhe aus Akazienholz, die im Allerheiligsten des Tabernakels aufgestellt wurde als sichtbares Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk. Zwischen dem mosaischen Gesetz, das in den Zehn Geboten enthalten ist, und dem Tabernakel, der eine Vorwegnahme der von Christus gegründeten Kirche darstellt, besteht ein enger Zusammenhang. Die Kirche ist Quelle aller Gnaden, die bis ans Ende der Zeiten die Welt heiligen sollen. Der Gottesdienst, den Gott Seinem Volk am Sinai gebot, bestand im wesentlichen in der Beachtung Seines Gesetzes:
„Und nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir anderes, als daß du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, daß du auf all seinen Wegen wandelst, ihn liebst, ihm dienst mit ganzem Herzen und ganzer Seele, und daß du die Gebote und Satzungen des Herrn hältst, die ich dir heute gebe, auf daß es dir wohl ergehe?“ (Deuteronomium 10,12).
Das bedeutet: Es gibt keinen wahren Gottesdienst ohne Befolgung des göttlichen Gesetzes.
Der Dekalog, den Gott Moses im Alten Bund offenbarte und den Jesus Christus im Neuen Bund vollendete, bildet den vollkommenen Ausdruck des natürlichen wie des göttlichen Gesetzes. Die Zehn Gebote sind im Gewissen jedes Menschen eingeschrieben – doch sind sie auch Gegenstand des christlichen Glaubens, weil Gott sie auf dem Sinai offenbart hat. Sie sind ein Licht in der Finsternis unserer Zeit – und wir verehren Moses als Gesetzgeber, Propheten und Führer.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana