
Von Pater Thomas Crean*
Der heilige Michael ist einer von nur zwei Engeln, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament namentlich genannt werden – der andere ist Gabriel. Im Buch Daniel erfahren wir zwei Dinge über ihn: Zum einen trat er vor Gott für das Volk Israel während der babylonischen Gefangenschaft ein, damit es befreit werde und in sein Heimatland zurückkehren könne. Zum anderen wird er am Ende der Zeiten, in einer Zeit großer Drangsal, wiederum für Gottes Volk eintreten:
„In jener Zeit wird Michael auftreten, der große Fürst, der die Kinder deines Volkes beschützt; denn es wird eine Zeit der Not sein, wie sie nie gewesen ist, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit.“
Auch das Neue Testament erwähnt den heiligen Michael zweimal: einmal in der Offenbarung des Johannes und einmal im Judasbrief. In der Offenbarung sehen wir in einer Vision des Johannes den Himmel von einem Krieg erschüttert:
„Da entbrannte im Himmel ein Kampf: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte mit seinen Engenl; aber sie siegten nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr im Himmel gefunden. Und der große Drache wurde gestürzt, die alte Schlange, die Teufel und Satan genannt wird, der den ganzen Erdkreis verführt – er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm hinabgeworfen.“
Im Judasbrief berichtet der Apostel, daß der Erzengel Michael mit dem Teufel um den Leichnam des Mose stritt – darauf werden wir später noch eingehen.
Aus der Heiligen Schrift geht also hervor, daß der heilige Michael ein besonderer Schutzpatron und Verteidiger des Gottesvolkes ist: im Alten Bund für Israel, im Neuen Bund für die heilige Kirche. Auch der heilige Josef gilt bekanntlich als Patron der Weltkirche. Doch da die Kirche aus Menschen und Engeln besteht, ist es nur angemessen, daß jeder dieser beiden Ordnungen ihren besonderen Patron hat.
Der Name Michael bedeutet auf Hebräisch: „Wer ist wie Gott?“ – Das ist natürlich nicht als Aussage über den Erzengel zu verstehen, als sei er wie Gott (ich erwähne das, weil ich einmal jemanden kannte, der diesen Namen trug und genau das dachte…). Vielmehr ist es eine rhetorische Frage: „Wer ist wie Gott?“ – mit der stillschweigenden Antwort: Niemand! Der Name ist zugleich ein Kampfruf, ein Ausruf des Widerstandes gegen alle Kräfte des Stolzes, gegen das, was der heilige Paulus „jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt“ nennt.
Doch hier könnte eine Frage aufkommen: Die Schrift nennt Michael einen Erzengel. Und obwohl ein Erzengel, dem Wort nach, über anderen Engeln steht, zählen wir die Erzengel in der traditionellen Hierarchie der neun Engelschöre – ebenfalls biblisch begründet – nur auf dem achten Rang. Über ihnen stehen die Seraphim, Cherubim, Throne und andere himmlische Chöre.
Wenn das zutrifft, warum also hat Gott gerade den Erzengel Michael dazu bestimmt, Satan und seine Anhänger aus dem Himmel zu vertreiben? Immerhin gilt Satan gemeinhin als einer der höchsten Engel – vielleicht sogar als der höchste von allen. Das würde bedeuten, daß Gott wollte, daß der Teufel von einem Engel aus dem Himmel geworfen wird, der ihm in natürlicher Hinsicht weit unterlegen war.
Ich vermute, Gott hat das genau so gefügt, um den Teufel in seinem Stolz umso mehr zu demütigen. Es ist ein wenig vergleichbar mit dem, was Exorzisten berichten: daß es für den Teufel besonders beschämend ist, wenn er nicht durch ein direktes Eingreifen Gottes, sondern durch die Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria aus einem Menschen vertrieben wird.
Diese Vorstellung – daß Michael dem Teufel naturgemäß weit unterlegen war – könnte auch einen merkwürdigen Aspekt im Judasbrief erklären. Dort lesen wir, wie Michael mit dem Teufel um den Leichnam des Mose stritt. Allgemein wird angenommen, daß der Teufel wollte, man solle den Leichnam an einem öffentlich zugänglichen Ort bestatten, damit das Volk Israel in die Versuchung geriete, ihn zu verehren – also in Götzendienst abgleite. Doch sein Plan scheiterte, denn wie es am Ende des Deuteronomiums heißt: Mose starb und wurde begraben, aber niemand kennt bis heute seine Grabstätte.
Der Judasbrief berichtet nun:
„Der Erzengel Michael aber wagte es nicht, den Teufel mit schmähenden Worten zu verurteilen, als er mit ihm stritt um den Leichnam des Mose, sondern sprach: Der Herr gebietet es dir!“
In einigen Übersetzungen lautet die Stelle: „Der Herr weise dich zurecht.“
Aus dieser Formulierung stammt die Zeile aus dem Gebet zum heiligen Michael, das früher nach der stillen Messe gebetet wurde:
„Der Herr gebiete ihm, so bitten wir flehentlich.“
Mit anderen Worten: Michael überließ das Urteil Gott. Er wagte es nicht, selbst eine anklagende oder beleidigende Aussage gegen den Teufel zu machen – auch wenn dieser ein gefallener Engel war. Denn im Gegensatz zu bestimmten falschen Christen, vor denen Judas in seinem Brief warnt – die sich anmaßen, selbst Autoritäten zu beschimpfen –, achtete Michael die von Gott gesetzte Ordnung. Selbst einem gefallenen Engel wie Satan, der ihm an Rang überlegen war, begegnete er mit Achtung gegenüber Gottes Schöpfungsordnung.
Man beachte jedoch: Michael war frei von falscher Demut. Als Gott ihn zum Heerführer der Engel gegen die Mächte des Bösen berief, sagte er nicht: „Warum ich? Wähle jemand anderen. Das übersteigt meine Fähigkeiten – ich bin zu gering.“
Er erinnert in dieser Hinsicht an die heilige Johanna von Orléans (Jeanne d’Arc), ein einfaches Bauernmädchen, das am liebsten bei ihrer Mutter im Dorf geblieben wäre, um Kleider zu nähen – und das doch ohne Zögern auf Gottes Ruf hörte, als Er sie berief, Frankreich als Heerführerin zu retten.
Gerade weil sie demütig waren, glaubten weder der Erzengel noch die heilige Johanna, Gott könne sich bei seiner Wahl geirrt haben.
Zweifellos waren die Aufgaben, die Michael im Himmel und Johanna auf Erden übernahmen, einzigartig. Doch das gilt letztlich für jedes Leben. Niemand hat dieselben Aufgaben, Prüfungen, Entscheidungen, Gnaden und Kreuze wie ein anderer. Deshalb ist es so wichtig, wahre Demut zu üben – und falsche Demut zu meiden.
Die Demut bewahrt uns davor, Aufgaben auf uns zu nehmen, zu denen Gott uns nicht berufen hat.
Die Ablehnung falscher Demut bewahrt uns davor, die einzigartige, oft auch unangenehme Aufgabe zu verweigern, die Gott wirklich für uns bestimmt hat – aus dem falschen Gefühl heraus, wir seien ihr nicht gewachsen.
„Wer ist wie Gott?“ Niemand! Und deshalb finden wir nur in Ihm die Kraft, den einzigartigen Weg zu gehen, den Er für uns vorgesehen hat.
Angesichts der Rolle des heiligen Michael als himmlischer Patron der streitenden Kirche auf Erden ist es nicht verwunderlich, daß die Kirche ihn auch in der Liturgie verehrt. So wird er, wie bekannt, im Confiteor der überlieferten lateinischen Messe namentlich angerufen. Auch in der feierlichen Messe wird er erwähnt: Wenn der Zelebrant das Weihrauchfaß segnet, bevor er den Altar zum zweiten Mal inzensiert, spricht er:
„Durch die Fürsprache des seligen Michael, des Erzengels, der zur Rechten des Altars Gottes steht, und aller Auserwählten möge der Herr gnädig dieses Räucherwerk segnen und es als lieblicher Wohlgeruch annehmen.“
Ebenso wenig überrascht es, daß Christen in Zeiten körperlicher oder geistlicher Bedrängnis an vielen Orten der Welt Kapellen und Heiligtümer zu Ehren des heiligen Michael errichtet haben. Denn er ist der Fürst der himmlischen Heerscharen, weswegen auch Papst Leo XIII. ein Gebet zu ihm verfaßte, das im Ritus des Exorzismus verwendet wird.
Überraschend ist jedoch vielleicht, daß die sechs bedeutendsten Heiligtümer des heiligen Michael in Europa – betrachtet man sie auf einer Landkarte – fast genau auf einer Linie liegen. Die Linie beginnt bei Skellig Michael in Irland, führt über St. Michael’s Mount vor der Küste von Cornwall, weiter zum Mont-Saint-Michel in Frankreich, zur Sacra di San Michele im Piemont, dann zum berühmten Heiligtum in Monte Sant’Angelo auf dem Monte Gargano in Süditalien und schließlich zum Taxiarchis-Kloster (wörtlich: „Kloster des Oberbefehlshabers“) auf einer griechischen Ägäis-Insel, das eine wundertätige Ikone des heiligen Michael beherbergt.
Manchmal wird diese Linie sogar um ein siebtes Heiligtum ergänzt: das auf dem Berg Karmel im Heiligen Land. Dort kämpfte der Prophet Elija einst gegen die vierhundert falschen Propheten Baals. Auch wenn dieses Kloster nicht ausdrücklich dem heiligen Michael geweiht ist, darf man doch annehmen, daß der Erzengel Elija in seinem Kampf gegen den Götzendienst beistand – einen Götzendienst, der damals die wahre Religion in Israel auszulöschen drohte.
Diese sechs (oder sieben) Heiligtümer sind auf eine Weise geometrisch ausgerichtet, die kaum als bloßer Zufall erklärbar ist. Zwar gibt es viele weitere Kirchen und Kapellen, die dem heiligen Michael gewidmet sind – doch diese sieben Stätten sind oder waren allesamt bedeutende Wallfahrtsorte und Heiligtümer.
Die gerade Linie, die Skellig Michael in Irland mit dem Karmelberg in Israel verbindet, mißt etwa 3600 Kilometer. Im Jahr 2016 untersuchte Luca Amendola, Professor der Physik an der Universität Heidelber, dieses Phänomen wissenschaftlich. Seinen Berechnungen zufolge liegt die durchschnittliche Abweichung der Heiligtümer von dieser Linie bei nur 11,5 Kilometern – oder sogar nur 11 Kilometer, wenn man das Karmel-Heiligtum ausnimmt. Amendola selbst bezeichnete dieses Ergebnis als „erstaunlich“.
Technisch gesehen liegen diese Heiligtümer auf einer sogenannten Loxodrome – das ist eine Linie, die alle Meridiane (also Längengrade) unter dem gleichen Winkel schneidet. In der Seefahrt diente sie früher zur Navigation. Diese Linie nennt man auch „das Schwert des heiligen Michael“.
War es also ein menschlicher Plan, diese Heiligtümer auf einer solchen Linie zu errichten? Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß ein derartiges Vorhaben historisch je bewußt verfolgt wurde. Die Loxodrome wurde erst erfunden, als alle genannten Heiligtümer längst existierten. Viel wahrscheinlicher erscheint es, daß wir es hier mit einem Zeichen der göttlichen Vorsehung zu tun haben.
Vielleicht wollte Gott uns durch dieses sichtbare Zeichen veranschaulichen, daß der heilige Michael auch heute noch über dem christlichen Volk wacht – so, wie es bereits der Prophet Daniel geschaut hat, als er ihn „den großen Fürsten“ nannte, „der die Kinder deines Volkes beschützt“.
Wir tun also gut daran, seine Hilfe zu erbitten – für die katholische Kirche in England, in Europa und für unsere jeweilige Heimat.
Wer ist wie Gott?
Niemand.
Und nur in Ihm finden wir die Kraft, den Weg zu gehen, den Er für uns bereitet hat.
*Pater Thomas Crean OP ist ein englischer Priester und Dominikaner. Sein Studium der Philosophie und der Theologie absolvierte er an der Universität Oxford. Er erwarb das Doktorat in Sakramententheologie am Internationalen Theologischen Institut in Österreich; er ist Autor zahlreicher Beiträge in allgemeinen und wissenschaftlichen Zeitschriften, zudem ist er Autor mehrerer Bücher darunter „God is no Delusion“ („Gott ist keine Täuschung“), „The Mass and the Saints“ („Die Messe und die Heiligen“), „St Luke’s Gospel: A Commentary for Believers („Das Lukasevangelium: Ein Kommentar für Gläubige“) sowie – gemeinsam mit Alan Fimister – „Integralism: A Manual of Political Philosophy“ („Integralismus: Ein Handbuch politischer Philosophie“). Ein weiteres Werk über das Konzil von Florenz wird demnächst bei Emmaus Academic erscheinen. Pater Crean lebt mit seine Mitbrüdern in der St. Dominic’s Priory in Haverstock Hill, Nord-London.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Giuseppe Nardi
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