Von Pater Serafino Lanzetta*
Die Rede von Papst Leo XIV. an die Delegation französischer politischer Repräsentanten (Diözese Créteil), denen er anläßlich des Festes des heiligen Augustinus (28. August 2025) eine Audienz gewährte, ist von großer Tiefe und markiert eine deutliche Kursänderung gegenüber dem, was wir in den vergangenen Jahren zu hören gewohnt waren.
Der Grundsatz der legitimen Autonomie der geschaffenen Wirklichkeiten aus Gaudium et spes 36 war über Jahre hinweg richtungsweisend und entwickelte sich allmählich zur „legitimen Antinomie“ der geschaffenen Wirklichkeiten. Er wurde so weit gedehnt, daß schließlich Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und alle anderen Bereiche des Wissens und des Menschlichen als losgelöst und selbstständig angesehen wurden. Gaudium et spes lehrt jedoch: „Wird aber mit den Worten ‚Autonomie der zeitlichen Dinge‘ gemeint, daß die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist.“
Niemandem, der an Gott glaubt, entgeht, wie falsch das ist. Und denen, die nicht an Gott glauben – entgeht es ihnen? Wird also der Atheist für seinen Wunsch, das Leben und die Dinge des Lebens autonom zu machen, gesegnet? Ist Autonomie dann ein natürliches oder übernatürliches Phänomen? Etwas, das man mit dem Glauben und nicht mit der Vernunft angehen muß? Hieraus resultieren Konflikte, wenn katholische Evangelisierungsbewegungen, um mit dem aktuellen Lehramt Schritt zu halten (man denke an die Verrenkungen vieler Gruppen während des Pontifikats von Franziskus), versucht haben, die (natürliche) Autonomie der Dinge – sogar der Ehe als Sakrament – zu taufen und die Abhängigkeit der Lebenswirklichkeiten von Gott als eine Glaubensfrage darzustellen. Eine Art katholischer Agnostizismus, der leider weit verbreitet war und es teilweise immer noch ist.
Leo hingegen scheint auf eine wichtige Kursänderung zu setzen. In einem Abschnitt seiner Rede sagte er:
„Die Erlösung, die Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung erwirkt hat, umfaßt alle Dimensionen des menschlichen Lebens, wie Kultur, Wirtschaft und Arbeit, Familie und Ehe, Achtung der Menschenwürde und des Lebens, Gesundheit, ebenso wie Kommunikation, Bildung und Politik. Das Christentum kann nicht auf eine bloße private Frömmigkeit reduziert werden, weil es eine Lebensweise in der Gesellschaft impliziert, die von der Liebe zu Gott und zum Nächsten geprägt ist, der in Christus nicht länger ein Feind, sondern ein Bruder ist.“
Es gibt keine Dichotomie zwischen Leben und Evangelium, zwischen Glauben und Wirklichkeit, zwischen Glauben und Leben. Die Autonomie der Dinge, die wesentlich und metaphysisch mit dem Schöpfer, dem einen Gott, verbunden bleiben, ist keine Glaubensfrage, sondern vor allem eine der Vernunft. Dem heutigen Christentum fehlt die metaphysische Vernunft. Nur wenn man von einer starken Vernunft ausgeht, kann der anthropozentrische Bruch der kirchlichen Moderne wieder geflickt werden.
Die Politiker, die von ihrem Bischof begleitet wurden, baten den Papst um Rat, wie sie ihren Glauben in ihrer Amtsführung leben könnten. Leo antwortete sehr schön, fromm und tief theologisch – ich würde sagen: überraschend für die Erwartungen jener erfahrenen christlichen Politiker, die sich längst daran gewöhnt hatten, zwischen Gewissen und Glauben, Staatsräson und kleinlicher Vernunft sowie Glauben zu unterscheiden. So sagte er:
„Monsignore Blanchet bat mich um einen Rat für Sie. Der erste – und einzige – Rat, den ich Ihnen geben kann, ist, sich immer mehr mit Jesus zu verbinden, ihn zu leben und zu bezeugen. Es gibt keine Trennung in der Persönlichkeit einer öffentlichen Figur: Es gibt nicht auf der einen Seite den Politiker und auf der anderen den Christen. Es gibt nur den Politiker, der unter dem Blick Gottes und seines Gewissens seine Verpflichtungen und Verantwortungen christlich lebt!“
Papst Leo erinnerte an die wahre Autonomie der menschlichen Natur, die vom Naturrecht regiert wird, das nicht mehr als Vorwand dienen darf, sich beispielsweise als katholisch und marxistisch, katholisch und abtreibungsfreundlich oder als „mündiger Katholik“ zu bezeichnen. Er fügte hinzu:
„Sie sind also aufgerufen, Euch im Glauben zu stärken, die Lehre – insbesondere die Soziallehre – zu vertiefen, die Jesus die Welt gelehrt hat, und sie in der Ausübung Ihrer Aufgaben und bei der Gesetzgebung anzuwenden. Ihre Grundlagen sind im wesentlichen im Einklang mit der menschlichen Natur und dem Naturrecht, das alle anerkennen können, auch Nicht-Christen, ja sogar Nicht-Gläubige. Man muß also keine Angst haben, sie zu vertreten und mit Überzeugung zu verteidigen: Es ist eine Heilslehre, die auf das Wohl jedes Menschen abzielt, auf den Aufbau friedlicher, harmonischer, wohlhabender und versöhnter Gesellschaften.“
Ein guter Anfang, damit die Philosophie des Evangeliums wieder die Gesellschaft regiert, wie es Leo XIII. in der Enzyklika Immortale Dei von 1885 gefordert hat. Und auch die Kirche wieder regiert, wie es nun Leo XIV. andeutet.
*Pater Serafino M. Lanzetta übt seinen priesterlichen Dienst in der Diözese Portsmouth (England) aus, 2013 habilitierte er sich in Dogmatik, er ist Dozent für Dogmatik an der Theologischen Fakultät von Lugano und Redaktionsleiter der theologischen Zeitschrift Fides Catholica. Eine aktuelle Liste seiner Veröffentlichungen findet sich auf der Website der Theologischen Fakultät Lugano.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
