Hakuna Matata? Nur ein Schwindel?

Wollen einige kirchliche Bewegungen überhaupt noch bekehren?


Suggerieren neokonservative Gruppen Jugendlichen, daß auch ein sündhaftes Leben Hakuna Matata ist, man dennoch sorglos sein könne?
Suggerieren neokonservative Gruppen Jugendlichen, daß auch ein sündhaftes Leben Hakuna Matata ist, man dennoch sorglos sein könne?

Von Cami­nan­te Wanderer*

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Letz­te Woche hat mir eine Mit­ar­bei­te­rin aus Spa­ni­en den Arti­kel zuge­schickt, den ich über die Fest­stel­lung ver­öf­fent­licht hat­te, daß meh­re­re der neo­kon­ser­va­ti­ven Bewe­gun­gen letzt­lich in pfingst­le­ri­sche Rich­tun­gen abge­drif­tet sind. Die­se Kri­tik an neu­en kirch­li­chen Bewe­gun­gen, die vie­le jun­ge Men­schen anzie­hen, hat­ten wir schon ein­mal ange­spro­chen – damals im Zusam­men­hang mit der Emma­us-Bewe­gung. Doch um fair zu blei­ben – und das bedeu­tet kei­nes­wegs, daß ich der spa­ni­schen Kor­re­spon­den­tin wider­spre­che – hal­te ich es für not­wen­dig, eini­ge Unter­schei­dun­gen zu tref­fen. Sonst besteht die Gefahr, daß wir das Kind mit dem Bad ausschütten.

Ich begin­ne mit einer sub­jek­ti­ven Beob­ach­tung, im vol­len Bewußt­sein der Gren­zen per­sön­li­cher Erfah­run­gen. Wenn ich von „Bekeh­rungs-Retre­ats“ (Bekeh­rungs­wo­chen­en­den, BR) spre­che, mei­ne ich damit ganz all­ge­mein jene reli­giö­sen Ver­an­stal­tun­gen oder Erfah­run­gen, die stark emo­tio­nal aus­ge­rich­tet sind – eine voll­stän­di­ge Auf­zäh­lung wäre unmög­lich, und die Unter­schie­de zwi­schen den ver­schie­de­nen For­ma­ten noch schwe­rer zu fas­sen. In Argen­ti­ni­en kamen Ende der 1960er Jah­re die Cursil­los de Cri­sti­andad auf, eine ursprüng­lich spa­ni­sche Erfah­rung, die sich rasch im gan­zen Land ver­brei­te­te. Mei­ner Ansicht nach dien­ten die­se Cursil­los als Modell für zahl­rei­che ande­re ähn­li­che Retre­ats, die sich jeweils an unter­schied­li­che Ziel­grup­pen rich­te­ten. Die Cursil­los etwa waren auf jun­ge Erwach­se­ne zuge­schnit­ten, vor­zugs­wei­se Ver­hei­ra­te­te. Als Kind und Jugend­li­cher lern­te ich sie recht gut ken­nen, da mei­ne Fami­lie stark in die­se Bewe­gung ein­ge­bun­den war. Ich muß ehr­lich sagen, daß in vie­len argen­ti­ni­schen Diö­ze­sen die enga­gier­ten Lai­en, auf die sich Bischö­fe und Prie­ster ver­las­sen konn­ten, über­wie­gend „Cursil­li­stas“ waren. Und obwohl es sich um eine Erfah­rung han­del­te, die stark auf emo­tio­na­len Ein­druck wäh­rend der drei oder vier Retre­at-Tage setz­te, gelang es ihr den­noch, bei nicht weni­gen Teil­neh­mern über die erste emo­tio­na­le Bekeh­rung hin­aus eine ech­te Umkehr des Lebens zu bewir­ken – dank eines anschlie­ßen­den, gut orga­ni­sier­ten Klein­grup­pen-For­mats mit wöchent­li­chen Tref­fen, das eine indi­vi­du­el­le Beglei­tung jedes ein­zel­nen ermög­lich­te. Kurz gesagt: Gott hat damals, vor eini­gen Jahr­zehn­ten, durch die­se BR vie­le Her­zen ange­rührt und zum Guten gewendet.

In jün­ge­rer Zeit, bereits als gebil­de­ter Erwach­se­ner, wur­de ich mehr­fach ein­ge­la­den, Vor­trä­ge bei katho­li­schen Jugend­grup­pen zu hal­ten, mit denen ich über die Jah­re enge Freund­schaf­ten auf­bau­en konn­te. Eine ihrer zen­tra­len Akti­vi­tä­ten war eben die Orga­ni­sa­ti­on von BRs, bei denen sich Dut­zen­de jun­ge Men­schen für drei oder vier Tage zurück­zo­gen. Der Groß­teil kehr­te danach zwar rasch in sein altes Leben zurück, doch ein nicht gerin­ger Teil erleb­te eine ech­te Bekeh­rung – heu­te sind sie Eltern kin­der­rei­cher Fami­li­en und leben­di­ge Vor­bil­der christ­li­chen Lebens. Ich möch­te daher nicht falsch ver­stan­den wer­den: Ich leh­ne BRs kei­nes­wegs pau­schal ab – im Gegen­teil, ich beja­he aus­drück­lich die Mög­lich­keit einer stär­ker cha­ris­ma­tisch gepräg­ten Spi­ri­tua­li­tät (womit ich wohl­ge­merkt nicht die „cha­ris­ma­ti­sche Erneue­rung“ mei­ne), als wir sie gewohnt sind. Ich maße mir nicht an, dem Hei­li­gen Geist Vor­schrif­ten zu machen.

Aller­dings hat sich die Welt ver­än­dert. Ein BR in den 1980er Jah­ren ist nicht das­sel­be wie ein BR im 21. Jahr­hun­dert. Heu­te gibt es Risi­ken, die es frü­her in die­ser Deut­lich­keit nicht gab – und ich nen­ne die­ses Risi­ko Popu­lis­mus. Ein erstes Bei­spiel lie­fert die oben genann­te Jugend­grup­pe: Seit eini­gen Jah­ren ver­an­stal­ten sie kei­ne BRs mehr, weil das „Men­schen­ma­te­ri­al“, das ihnen begeg­ne­te, für ein christ­li­ches Leben weit­ge­hend unge­eig­net war. Ich über­trei­be, gewiß, aber was kon­kret geschah, war fol­gen­des: Die Jugend­li­chen kamen mit völ­lig unge­ord­ne­ten Lebens­ver­hält­nis­sen – von Dro­gen­kon­sum bis zu chao­ti­schen sexu­el­len Bezie­hun­gen. Älte­re Teil­neh­mer leb­ten oft in sta­bi­len Part­ner­schaf­ten, jedoch ohne Aus­sicht, die­se Bezie­hun­gen kirch­lich zu regu­la­ri­sie­ren. Was mei­ne Freun­de und die beglei­ten­den Prie­ster vor­fan­den, war eine Grup­pe, bei der allen­falls ein emo­tio­na­ler Impuls aus­ge­löst wer­den konn­te, aber ohne ein außer­ge­wöhn­li­ches und gera­de­zu wun­der­tä­ti­ges Ein­grei­fen der Gna­de war eine wirk­li­che Umkehr unmög­lich. Um es ver­ein­facht zu sagen: Die BRs ende­ten letzt­lich damit, daß sie die Sün­de for­ma­li­sier­ten – sie boten kei­ne Lösung, son­dern kon­fron­tier­ten die Teil­neh­mer mit einem Pro­blem, für das sie kei­ne Lösung hat­ten. Die Erfah­rung war für alle Betei­lig­ten schmerz­haft: Sie sahen Mit­chri­sten, eben­so sün­dig wie sie selbst, aber so tief im Schlamm des Lebens ver­strickt, daß es mensch­lich gese­hen kei­ne Ret­tung mehr zu geben schien.

Ich ver­mu­te – sicher weiß ich es nicht –, daß hier­in das Haupt­pro­blem vie­ler neu­er BRs oder Grup­pen wie Haku­na liegt. Mit dem Unter­schied, daß es die­sen Grup­pen offen­bar nicht all­zu wich­tig ist, den Teil­neh­mern über­haupt das Pro­blem vor Augen zu füh­ren – aus Angst, die Sün­de zu „for­ma­li­sie­ren“. Nach dem Mot­to: Was ich nicht sehe, macht mich nicht unglück­lich. Der Name selbst nährt mei­nen Ver­dacht: Haku­na stammt aus dem Sua­hi­li und ist durch den Film „Der König der Löwen mit dem Aus­druck „Haku­na Mata­ta“ bekannt gewor­den, was so viel heißt wie „kei­ne Sor­gen“. In die­sem Zusam­men­hang steht Haku­na für einen unbe­schwer­ten, posi­tiv gestimm­ten christ­li­chen Lebens­stil. Im Zen­trum steht dabei die eucha­ri­sti­sche Anbe­tung – in sehr spe­zi­el­ler Form – sowie die För­de­rung eines „coo­len“ Lebens­stils: jener typi­sche jun­ge Katho­lik aus gutem Hau­se, der unge­fähr weiß, was rich­tig und falsch ist, der aber auch weiß, daß sein Lebens­stil eher pro­ble­ma­tisch ist – und der dann von sei­nen Freun­den in der neu­en Bekeh­rungs­grup­pe hört: Haku­na mata­ta, alles easy, kei­ne Sor­gen, hab Spaß. (Das ist übri­gens das Lieb­lings­wort des Grün­ders der Bewe­gung, Pater José Pedro Man­gla­no – ich emp­feh­le hier­zu den Arti­kel von Mosén Jai­me Mer­cant Simó über die­se Figur.)

Man braucht nur auf You­Tube eini­ge ihrer typi­schen Lie­der anzu­hö­ren, sich eine ihrer „Shows“ (ja, so nen­nen sie das) anzu­se­hen oder die Shop-Sei­te auf ihrer Web­site zu besu­chen, um einen Ein­druck vom rie­si­gen Mar­ke­ting- und Geschäfts­be­trieb rund um die Hakunas zu bekom­men. All das wäre noch harm­los – wenn es dabei blie­be. Doch ich fürch­te, das tut es nicht. Kann es wirk­lich sein, daß ein Jugend­li­cher, der eine gewis­se Zeit ein sexu­ell unge­ord­ne­tes Leben geführt hat – was selbst unter katho­li­schen Jugend­li­chen nicht unüb­lich gewor­den ist –, durch den Besuch einer wöchent­li­chen eucha­ri­sti­schen Anbe­tung mit Musik­be­glei­tung plötz­lich sei­ne sünd­haf­te Lebens­wei­se auf­gibt, und alles wird Haku­na Mata­ta? Ich glau­be nicht, daß der Weg zur Tugend so ein­fach ist. Und das wäre auch gar nicht so schlimm – wenn die­se jun­gen Leu­te ihre Teil­nah­me an sol­chen Grup­pen als Weg der Bekeh­rung ver­stün­den. Doch das Pro­blem liegt – so sagen vie­le Zeug­nis­se – dar­in, daß nicht die Umkehr zum tugend­haf­ten Leben das Ziel ist, son­dern viel­mehr Spaß zu haben und sich eben kei­ne Sor­gen zu machen. Viel­leicht beru­fen sich man­che sogar auf etwas, das sie als „gesun­de Sexua­li­tät“ bezeich­nen – bes­ser, wir gehen dem nicht wei­ter nach. Ich fürch­te sehr, es han­delt sich nicht um jene „Gesund­heit“, wie sie der seli­ge Pier Gior­gio Frassa­ti oder die hei­li­ge Maria Goret­ti ver­stan­den hätten.

Wei­te­re Bei­spie­le sind nicht nötig. Jeder Katho­lik mit einem Mini­mum an Glau­bens­wis­sen und Men­schen­kennt­nis weiß, daß Tugend nicht auf Emo­tio­nen basiert. Tugend ist die Frucht wie­der­hol­ter Wil­lens­ak­te, sie erfor­dert Anstren­gung, Ver­zicht und Opfer. Und im Leben eines Chri­sten ist nur sel­ten alles Haku­na Mata­ta. Daß sich heu­ti­ge Jugend­li­che das wün­schen, ist ver­ständ­lich. daß Prie­ster sie aber nicht auf­klä­ren über den müh­sa­men Weg zur Hei­lig­keit – ohne daß das bedeu­tet, lang­wei­lig oder welt­fremd zu sein –, das ist ein schwer­wie­gen­der, ja fast schon kri­mi­nel­ler Fehler.

*Cami­nan­te Wan­de­rer, argen­ti­ni­scher Phi­lo­soph und Blogger.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cami­nan­te Wanderer

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