
Von Marcel De Corte*
Die Elite bezeichnet die Besten unter vielen Individuen der gleichen Art. Das Wort leitet sich von einem antiken Partizip Perfekt des Verbs „eligere“, „auslesen, auswählen“ ab, und jede Wahl impliziert eine Bestimmung zu einer Würde, zu einer Funktion, durch eine Auswahl. Die Elite setzt also die Zustimmung der anderen voraus, die nicht im Sinne eines allgemeinen Wahlrechts oder einer demokratischen Wahl verstanden wird, sondern im Sinne einer mehr oder weniger weit verbreiteten Wertschätzung in einer Gruppe, ohne das geringste künstliche Eingreifen der Propaganda, für eine Art natürliche und spontane Anerkennung der „Besten“ in dieser Gruppe.
Ausdrücke wie die Elite der Armee, die Elite einer Klasse, die Elite eines Landes zeigen deutlich ihre soziale Bedeutung: Aber es gibt unterschiedliche Gesellschaften. Die Elite drückt sich in einer hierarchisch geordneten Gemeinschaft aus, an deren Schicksal sie mit größerer Intensität und Deutlichkeit teilnimmt als die anderen Mitglieder. In einer solchen Gemeinschaft sind alle den gleichen glücklichen oder traurigen Ereignissen unterworfen, in einer gegenseitigen Abhängigkeit, in der die Elite die härtesten Bedingungen auf sich nimmt, und auch die damit einhergehenden Ehren. Man kann sich nicht einen Moment lang vorstellen, daß die Elite einer Armee im Verlauf einer Schlacht die Armee ihrem Schicksal überläßt. Vielmehr integriert sie das gemeinsame Schicksal von Anfang bis Ende: Ihr wesentliches Merkmal ist, daß sie in sich das Maximum an Nähe und gleichzeitig das Maximum an Distanz zum Niederen vereint. Aus diesem Grund erhebt sie sich über die gewöhnlichen Sterblichen, und ihre Existenz ist unvereinbar mit einer egalitären und atomisierten Gesellschaftsstruktur sowie mit einer sklavenähnlichen Gesellschaft: Die Sklavenhäuptlinge sind nicht Teil einer Elite.
Daraus folgt, daß das Wesen der Elite im wesentlichen von der Struktur der sozialen Gruppe abhängt, der sie angehört: Sie wird von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich sein, und so wird die Elite der Feuerwehr nicht den gleichen Charakter haben wie die der Ärzte. Wie läßt sich also die Elite einer sozialen Gruppe definieren? Offensichtlich durch das Ziel, das die Gruppe selbst verfolgt, und die Tugenden, die zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden. Die Armee-Elite wird also durch den eigentlichen Zweck der Armee definiert, nämlich die Integrität des nationalen Territoriums zu verteidigen, und durch den Mut, den dieser Zweck erfordert. Die Elite einer bäuerlichen Gemeinschaft wird durch die Aufwertung des Bodens und durch die Tugenden der Geduld, der Verbundenheit mit dem Boden, der Unterwerfung unter die Rhythmen der Natur usw. definiert.
Aber jenseits der begrenzten Gesellschaften mit begrenzten Zielen, die im allgemeinen moralische Tugenden in Verbindung mit der Ausübung eines Berufes oder Gewerbes umsetzen, gibt es das, was wir die „große Gesellschaft“ nennen könnten, d. h. die Gesamtheit der Menschen derselben Zivilisation und eines gleichen Menschenbildes. Alle Kulturen der Vergangenheit hatten ihre Eliten, in denen ein bestimmtes menschliches Ideal verkörpert war. Alle haben sich die Verwirklichung eines Menschentyps zum Ziel gesetzt, der ihrem Wesen entspricht, und alle haben jene menschlichen Tugenden gepflegt, um dieses Ziel zu erreichen. So ist es zum Beispiel unmöglich, die griechische Zivilisation zu verstehen, ohne ihr Ideal „καλὸς κἀγαθός“, das „Schöne und Gute“, zu kennen, das ihre Blüte ausmacht. Ebenso unmöglich ist es, die römische Zivilisation ohne den „vir bonus dicendi peritus“ oder den „civis romanus“ zu verstehen. Oder die mittelalterliche christliche Zivilisation ohne den Heiligen, den Ritter, den Hidalgo. Oder die französische Zivilisation des 17. Jahrhunderts ohne den „Honnête homme“ und die angelsächsische Zivilisation ohne den Gentleman.
Eine Zivilisation ist nicht nur eine Fundgrube literarischer, künstlerischer, wissenschaftlicher und religiöser Werke, sondern im wesentlichen eine Lebensweise, eine Reihe von Haltungen und Gewohnheiten, die den Menschen vom Tier unterscheiden und die von den Besten, d. h. den Eliten, zu ihrer Vollkommenheit und Reife gebracht werden. Aus diesem Grund haben alle großen Zivilisationen einen Menschentypus, ein Modell, hervorgebracht, das zwar nicht immer Realität ist, dessen Anziehungskraft aber die Bemühungen all derer bestimmt, die von seiner erleuchtenden Kraft profitieren. Es ist bezeichnend für die Eliten, daß sie sich diesem Typus annähern, der ihnen vorgeschlagen wird, mit einem Zeugnis, das eine Bestätigung ist, mit einer persönlichen Arbeit, die ihn in der Tiefe zu ihrem eigenen macht, mit Werken, die ihn konkretisieren, und vor allem mit der Ausübung menschlicher Tugenden, die so viele Schritte auf ihn zu sind. Natürlich sind diese menschlichen Modelle nicht von einer Zivilisation zur anderen identisch. Der mittelalterliche Ritter ist nicht identisch mit dem römischen Bürger, und dieser unterscheidet sich stark vom „Honnête homme“. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß sie alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten, und zwar auf ähnlichen Wegen. Betrachtet man die Zivilisationen, die in Europa aufeinander gefolgt sind, so stellt man fest, daß jede von ihnen einen Menschentyp hervorgebracht hat, der ihre Eliten in dem Moment inspirierte, als das vorherige Modell mit der Zivilisation, mit der es verbunden war, verschwand.
Was geschieht aber, wenn es keinen vollständigen Menschentypus mehr gibt? Es ist klar, daß der menschliche und soziale Zusammenhalt von der Zerstörung bedroht ist. Der Mensch ist eine zerbrechliche Substanz, deren Grenzen, biologisch und geistig, nur unter großen Anstrengungen koordiniert werden können. Wo Muster und Eliten verschwinden, ist die innere Desorganisation des Menschen zu erwarten. Ohne die treibende Energie des idealen und gelebten Vorbilds wird die große Mehrheit der Menschen psychisch desintegriert. Wenn wir den Geist als die Gesamtheit der höheren Fähigkeiten bezeichnen, die uns über uns selbst hinaus erheben, und das Leben als die Gesamtheit der niederen Fähigkeiten, die sie an der Welt der Natur teilhaben lassen und sie mit der Realität nähren, dann geschieht es, daß Geist und Leben auseinanderfallen. Der Geist entkräftet sich und wird zerebral, das Leben entkräftet sich und wird tierisch. Es entsteht ein Konflikt: Die menschliche Persönlichkeit spaltet sich in antagonistische Elemente, die aufeinanderprallen, und es kommt zu Psychosen, Neurosen, Schizophrenien, deren Krisen sich in der modernen Welt auf beunruhigende Weise vermehren. Der Mensch, isoliert inmitten der anonymen Massen von heute, bricht innerlich zusammen: Sein Geist, getrennt von dem Leben, das uns mit der Wirklichkeit verbindet, läuft leer, wie eine Mühle, die mechanisch Schimären mahlt.
Der moderne Mensch wird zwar versuchen, die Einheit von Geist und Leben wiederherzustellen, aber auf der untersten Ebene, dort, wo die Bestandteile seines Wesens ausgefallen sind. Ein hypertrophiertes Gehirn ist nur fähig, sich an die dunklen Reize der Instinkte zu binden; ein kalter und berechnender Geist klammert sich an tierische Reflexe. Die moderne Politik bietet uns zahllose Beispiele für diese Verwirrung in der außergewöhnlichen Mischung aus rationaler Ideologie und irrationaler Leidenschaft, mit der sie in die Tiefen der zeitgenössischen Seele eindringt und die intimen Quellen des Handelns auslöst: Liberalismus und egoistischer Instinkt, Gleichmacherei und Neid, Sozialismus und Herdentrieb, Imperialismus und Herrschafts- und Aggressionstrieb, Pazifismus und Angst als Form des Verteidigungstriebes. Der Marxismus vereint all diese ungeordneten Instinkte in seinem System, er ist die Ideologie der Ideologien und die Kombination aller Leidenschaften. Es ist eine Politik, die wie angegossen zu dem paßt, was der moderne Mensch in Ermangelung von Vorbildern und Eliten zu werden im Begriff ist. Und er ist auch ein kritisches Instrument von beängstigender Wirksamkeit gegen die einst freie Welt, sofern sie sich der Krise der Eliten nicht bewußt zu werden vermag und ihr nur mit künstlichen Selektionsmitteln abhilft.
Die moderne Zivilisation, die nicht mehr weiß, was der Mensch ist, die nicht mehr vorschlägt, daß der Mensch seine Aufgabe als Mensch gut erfüllt, und die ohne jeden Zweck ist, ist im wesentlichen eine Zivilisation der Mittel, eine technische Zivilisation. Es ist nicht mehr der Zweck, der die Mittel hervorbringt, sondern die Mittel sind der verfolgte Zweck. Da sie nicht mehr in der Lage sind, sich einem Typus anzunähern, bleibt den heutigen Eliten nichts anderes übrig, als auf künstliche Techniken der sozialen Hebung zurückzugreifen. Wer heute Techniken einsetzt, gehört automatisch zur Elite, der Besitz der Mittel ist zum Besitz der Ziele geworden. Das Haben hat das Sein ersetzt.
Ohne echte Eliten kann eine Zivilisation nicht bestehen. Wenn sie nicht von der Barbarei überwältigt werden will, muß sie sie zurückgewinnen. Vor unseren Augen, wenn wir sie zu öffnen wissen, liegt die tragische Antithese unserer Ressourcen: auf der einen Seite immense Mittel, eine unvergleichliche Technik, eine ins Unendliche gesteigerte Detailkenntnis; auf der anderen Seite eine fast vollständige Abwesenheit menschlicher Zielsetzung, ein außerordentliches Schweigen zu der grundlegenden Frage „Wohin gehen wir?“, ein massiver Zusammenbruch des Konvergenzgefühls. Die Rettung unserer Zivilisation hängt von der Lösung ab, die wir in der Lage sind, für das Problem der Umwidmung von Mitteln in Ziele zu finden.
Auf den ersten Blick macht der Verlust von Lebensmodellen dies sogar unmöglich. Aber wenn es stimmt, daß die großen Vorbilder, wie Heilige, Genies und Helden, ihre Anziehungskraft verloren haben, dann bleiben an den beiden Enden der Kette zwei Typen übrig, die ihren Wert als Vorbilder behalten haben: einerseits das fleischgewordene Wort, andererseits der Familienvater und die Familienmutter. Im Christentum und in der Wärme der Familie findet man noch immer unveränderliche, gelebte Beispiele für ein vollkommenes Leben. An der Beständigkeit ihrer Bindung hängt unser ganzes Schicksal. Die christliche Familie, das ist der einzige Ort auf der Erde, wo Eliten am Leben erhalten werden…, wenn wir es wollen. Das ist der Punkt: wenn wir es wollen. Wir brauchen heute Väter und Mütter, die so sind, daß ihre Kinder sie bewundern, ihnen ihre Zustimmung geben, sie nachahmen, in ihnen Vorbilder von Menschen und Christen entdecken, Beispiele für gelebte Ziele, natürliche wie übernatürliche. Die Unterordnung der Mittel unter den Zweck wird zu einem einfachen Spiel, wenn der Zweck klar und freiwillig verkörpert wird.
So werden die neuen Eliten geboren, demütig, solide und wahrhaftig: durch die Ansteckung des Beispiels, im Geheimnis des Herzens, das unermüdlich betet, in der Intimität der familiären Feuerstelle, die Licht ausstrahlt.
*Marcel De Corte wurde 1905 in Brabant in Belgien geboren und starb 1994. Der 1928 promovierte Philosoph und klassische Philologe war ein Erbe der großen aristotelischen Tradition und Zeitgenosse von Jacques Maritain, Étienne Gilson, Gabriel Marcel und Gustave Thibon. 1934 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Intellektlehre bei Aristoteles. Als ordentlicher Professor lehrte er an der Universität Lüttich bis 1975 Geschichte der antiken Philosophie und Moralphilosophie. Er verfaßte mehr als zwanzig Bücher zu philosophischen Themen. Sein besonderes Interesse galt den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich aus der Französischen und der Industriellen Revolution ergaben, vor allem dem moralischen und sozialen Zerfall des modernen Menschen. Ins Deutsche übersetzt wurde nur „Essai sur la fin d’une civilisation“ (1950) „Das Ende einer Kultur“ (1957).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
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