Ratzingers Prophezeiung: Die Kirche der Neuheiden

Vom Heidentum in der Kirche


Der junge Priester Joseph Ratzinger, damals Doktorand und schon Lehrbeauftragter am erzbischöflichen Priesterseminar, im Jahr 1954 mit Pfr. Max Blumschein, bei dem er in Bogenhausen (München) die Kaplansjahre verbrachte.
Der junge Priester Joseph Ratzinger, damals Doktorand und schon Lehrbeauftragter am erzbischöflichen Priesterseminar, im Jahr 1954 mit Pfr. Max Blumschein, bei dem er in Bogenhausen (München) die Kaplansjahre verbrachte.

1958 ana­ly­sier­te der jun­ge Prie­ster Joseph Ratz­in­ger die Situa­ti­on und die Zukunft der Kir­che in einem Arti­kel, der mit dem Titel „Die neu­en Hei­den und die Kir­che“ in der Zeit­schrift Hoch­land ver­öf­fent­licht wur­de. Der Arti­kel erwies sich als pro­phe­tisch. Er wur­de bereits mehr­fach nach­ge­druckt. Nun mach­te der argen­ti­ni­sche Blog­ger Cami­nan­te Wan­de­rer mit Blick auf die aktu­el­le Kir­chen­ent­wick­lung dar­auf auf­merk­sam. Ein Anstoß, dem Text die nöti­ge Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Man mag der Über­le­gung der dop­pel­ten Erwäh­lung viel­leicht nicht vor­be­halt­los fol­gen, doch der kla­re Blick, die Ent­wick­lung zu erken­nen, auch der chro­no­lo­gi­sche Ansatz, beein­drucken sehr. Ratz­in­ger brach­te sei­ne Gedan­ken zu Papier, als das Pon­ti­fi­kat von Pius XII. sei­nem Ende zuging. Seit­her sind mehr als 66 Jah­re ver­gan­gen. In die­sen hat sich die Grund­an­nah­me Ratz­in­gers nicht nur vor aller Augen aus­ge­brei­tet, son­dern ist rasant fort­ge­schrit­ten. Die Mög­lich­keit, daß selbst Hir­ten und Ober­hir­ten zu Neu­hei­den wer­den könn­ten, konn­te oder woll­te Ratz­in­ger damals noch nicht ein­mal den­ken. Er ging in sei­ner Ana­ly­se noch von einer intak­ten kirch­li­chen Hier­ar­chie aus. Die­se kann heu­te in man­chen Gegen­den und Berei­chen nicht mehr unein­ge­schränkt vor­aus­ge­setzt wer­den. Wobei zen­tral ist, daß, in der hier­ar­chisch ver­faß­ten Kir­che, die Hier­ar­chie die Hiera­chie ernennt, wes­halb das Pro­blem immer oben, nicht unten liegt. Ein Aspekt, der Ratz­in­ger unmit­tel­bar betrifft, da er vie­le Jah­re spä­ter fast acht Jah­re lang die Kir­che lei­ten soll­te. Bemer­kens­wert ist auch die Anspie­lung auf das ver­blas­sen­de Bewußt­sein der Heils­not­wen­dig­keit, die inzwi­schen vom der­zei­ti­gen Papst selbst nur mehr ver­schwom­men prä­sen­tiert wird, zumal laut sei­ner Dar­le­gung alle Reli­gio­nen Wege zu Gott sei­en.
Hier der voll­stän­di­ge Text von Joseph Ratz­in­gers Auf­satz, der sei­ner Zeit weit vor­aus war, beson­ders was die For­de­rung nach Ent­welt­li­chung betrifft, der aber, was das Aus­maß der Ver­welt­li­chung betrifft, ihr inzwi­schen hinterherhinkt.

Die neuen Heiden und die Kirche

Anzei­ge

Von Joseph Ratzinger

Nach der Reli­gi­ons­sta­ti­stik ist das alte Euro­pa noch immer ein fast voll­stän­dig christ­li­cher Erd­teil. Aber es gibt wohl kaum einen zwei­ten Fall, in dem jeder­mann so genau wie hier weiß, daß die Sta­ti­stik täuscht: Die­ses dem Namen nach christ­li­che Euro­pa ist seit rund vier­hun­dert Jah­ren zur Geburts­stät­te eines neu­en Hei­den­tums gewor­den, das im Her­zen der Kir­che selbst unauf­halt­sam wächst und sie von innen her aus­zu­höh­len droht. Das Erschei­nungs­bild der Kir­che der Neu­zeit ist wesent­lich davon bestimmt, daß sie auf eine ganz neue Wei­se Kir­che der Hei­den gewor­den ist und noch immer mehr wird: nicht wie einst, Kir­che aus den Hei­den, die zu Chri­sten gewor­den sind, son­dern Kir­che von Hei­den, die sich noch Chri­sten nen­nen, aber in Wahr­heit zu Hei­den wur­den. Das Hei­den­tum sitzt heu­te in der Kir­che selbst, und gera­de das ist das Kenn­zeich­nen­de sowohl der Kir­che unse­rer Tage wie auch des neu­en Hei­den­tums, daß es sich um ein Hei­den­tum in der Kir­che han­delt und um eine Kir­che, in deren Her­zen das Hei­den­tum lebt. Der Mensch von heu­te kann also als Nor­mal­fall den Unglau­ben sei­nes Nach­barn voraussetzen.

Als die Kir­che ent­stand, ruh­te sie auf der gei­sti­gen Ent­schei­dung des ein­zel­nen zum Glau­ben, auf dem Akt der Bekeh­rung. Wenn man anfangs erhofft hat­te, daß sich eine Gemein­schaft von Hei­li­gen schon hier auf der Erde aus die­sen Bekehr­ten erbau­en wer­de, eine „Kir­che ohne Fehl und Run­zel“, so muß­te man sich unter schwe­ren Kämp­fen immer mehr zu der Erkennt­nis durch­rin­gen, daß auch der Bekehr­te, der Christ, ein Sün­der bleibt und daß selbst die schwer­sten Ver­ge­hen in der christ­li­chen Gemein­schaft mög­lich sein wer­den. Aber wenn der Christ dem­nach auch kein mora­lisch Voll­ende­ter war und in die­sem Sinn die Gemein­schaft der Hei­li­gen immer unfer­tig blieb, gab es doch eine Grund­ge­mein­sam­keit. Kir­che war eine Gemein­schaft von Über­zeug­ten, von Men­schen, die eine bestimm­te gei­sti­ge Ent­schei­dung auf sich genom­men hat­ten und sich dadurch von all denen abho­ben, die sich die­ser Ent­schei­dung ver­wei­ger­ten. Im Mit­tel­al­ter bereits änder­te sich dies dadurch, daß Kir­che und Welt iden­tisch wur­den und so Christ­sein im Grun­de kei­ne eige­ne Ent­schei­dung mehr war, son­dern eine poli­tisch-kul­tu­rel­le Vorgegebenheit.

Drei Ebenen der Entweltlichung

Heu­te ist die äuße­re Deckung von Kir­che und Welt geblie­ben; die Über­zeu­gung jedoch, daß sich dar­in „in der unge­woll­ten Zuge­hö­rig­keit zur Kir­che“ eine beson­de­re gött­li­che Huld, eine jen­sei­ti­ge Heils­wirk­lich­keit ver­birgt, ist gefal­len. Fast nie­mand glaubt so recht, daß an die­ser sehr zufäl­lig kul­tur­po­li­ti­schen Vor­ge­ge­ben­heit „Kir­che“ etwa das ewi­ge Heil hän­gen kann. So ist es ver­ständ­lich, daß heu­te viel­fach sehr ein­dring­lich die Fra­ge gestellt wird, ob man nicht die Kir­che wie­der in eine Über­zeu­gungs­ge­mein­schaft ver­wan­deln soll­te, um ihr so ihren gro­ßen Ernst wie­der zu geben. Das wür­de bedeu­ten, daß man auf die noch vor­han­de­nen welt­li­chen Posi­tio­nen rigo­ros ver­zich­tet, um einen Schein­be­sitz abzu­bau­en, der sich mehr und mehr als gefähr­lich erweist, weil er der Wahr­heit im Wege steht.

Es wird der Kir­che auf die Dau­er nicht erspart blei­ben, Stück um Stück von dem Schein ihrer Deckung mit der Welt abbau­en zu müs­sen und wie­der das zu wer­den, was sie ist: Gemein­schaft der Glau­ben­den. Tat­säch­lich wird ihre mis­sio­na­ri­sche Kraft durch sol­che äuße­re Ver­lu­ste nur wach­sen kön­nen: Nur wenn sie auf­hört, eine bil­li­ge Selbst­ver­ständ­lich­keit zu sein, nur wenn sie anfängt, sich sel­ber wie­der als das dar­zu­stel­len, was sie ist, wird sie das Ohr der neu­en Hei­den mit ihrer Bot­schaft wie­der zu errei­chen ver­mö­gen, die sich bis­her noch in der Illu­si­on gefal­len kön­nen, als wären sie gar kei­ne Heiden.

Frei­lich wird ein sol­ches Zurück­neh­men äuße­rer Posi­tio­nen auch einen Ver­lust von wert­vol­len Vor­tei­len brin­gen, die sich aus der heu­ti­gen Ver­flech­tung der Kir­che mit der Öffent­lich­keit zwei­fel­los erge­ben. Es han­delt sich dabei um einen Pro­zeß, der mit oder ohne Zutun der Kir­che vor sich gehen wird, auf den sie sich also ein­stel­len muß. Alles in allem muß man bei die­sem not­wen­di­gen Vor­gang der Ent­welt­li­chung der Kir­che drei Ebe­nen genau aus­ein­an­der­hal­ten: die Ebe­ne des Sakra­men­ta­len, die der Glau­bens­ver­kün­di­gung und die des per­sön­lich-mensch­li­chen Ver­hält­nis­ses zwi­schen Gläu­bi­gen und Ungläubigen.

Die Ebe­ne des Sakra­men­ta­len, einst von der Arkan-Dis­zi­plin umgrenzt, ist die eigent­li­che inne­re Wesens­ebe­ne der Kir­che. Es muß wie­der klar wer­den, daß Sakra­men­te ohne Glau­ben sinn­los sind, und die Kir­che wird hier all­mäh­lich und in aller Behut­sam­keit auf einen Akti­ons­ra­di­us ver­zich­ten müs­sen, der letzt­lich eine Selbst­täu­schung und eine Täu­schung der Men­schen einschließt.

Je mehr die Kir­che hier die Selb­st­ab­gren­zung, die Unter­schei­dung des Christ­li­chen, wenn nötig zur klei­nen Her­de hin, voll­zie­hen wird, desto rea­li­sti­scher wird sie auf der zwei­ten Ebe­ne, auf der der Glau­bens­ver­kün­dung, ihre Auf­ga­be erken­nen kön­nen und müs­sen. Wenn das Sakra­ment die Stel­le ist, wo die Kir­che sich gegen die Nicht­kir­che abschließt und abschlie­ßen muß, dann ist das Wort die Art und Wei­se, mit der sie die offe­ne Geste der Ein­la­dung zum Got­tes­mahl weiterführt.

Auf der Ebe­ne der per­sön­li­chen Bezie­hun­gen schließ­lich wäre es ganz ver­kehrt, aus der Selbst­be­gren­zung der Kir­che, die für den sakra­men­ta­len Bereich gefor­dert wur­de, eine Abkap­se­lung des gläu­bi­gen Chri­sten gegen­über sei­nen nicht­gläu­bi­gen Mit­men­schen ablei­ten zu wol­len. Natür­lich soll unter den Gläu­bi­gen sel­ber all­mäh­lich wie­der etwas wie die Brü­der­lich­keit der Kom­mu­ni­kan­ten auf­ge­baut wer­den, die sich durch ihre gemein­sa­me Zuge­hö­rig­keit zum Got­tes­tisch auch im pri­va­ten Leben mit­ein­an­der ver­bun­den füh­len und wis­sen, daß sie in Not­si­tua­tio­nen auf­ein­an­der zäh­len kön­nen, eben wirk­lich eine Fami­li­en­ge­mein­schaft sind. Aber das darf kei­ne sek­tie­re­ri­sche Abschlie­ßung zur Fol­ge haben, son­dern der Christ soll gera­de auch ein fröh­li­cher Mensch unter Men­schen sein kön­nen, ein Mit­mensch, wo er nicht Mit­christ sein kann.

Zusam­men­fas­send kön­nen wir als Ergeb­nis die­ses ersten Gedan­ken­krei­ses fest­hal­ten: Die Kir­che hat zunächst den Struk­tur­wan­del von der klei­nen Her­de zur Welt­kir­che durch­ge­macht; sie deckt sich seit dem Mit­tel­al­ter im Abend­land mit der Welt. Heu­te ist die­se Deckung nur noch Schein, der das wah­re Wesen der Kir­che und der Welt ver­deckt und die Kir­che zum Teil an ihrer not­wen­di­gen mis­sio­na­ri­schen Akti­vi­tät hin­dert. So wird sich über kurz oder lang mit dem oder gegen den Wil­len der Kir­che nach dem inne­ren Struk­tur­wan­del auch ein äuße­rer, zum pus­il­lus grex, zur klei­nen Her­de, vollziehen.

Ein zweiter Heilsweg?

Neben der damit skiz­zier­ten Struk­tur­än­de­rung der Kir­che ist aber auch eine Bewußt­seins­ver­schie­bung beim Gläu­bi­gen zu bemer­ken, die sich aus dem Fak­tum des inner­kirch­li­chen Hei­den­tums erge­ben hat. Dem Chri­sten von heu­te ist es unaus­denk­bar gewor­den, daß das Chri­sten­tum, genau­er­hin die katho­li­sche Kir­che, der ein­zi­ge Heils­weg sein soll; damit ist die Abso­lut­heit der Kir­che und damit auch der stren­ge Ernst ihres mis­sio­na­ri­schen Anspruchs, ja aller ihrer For­de­run­gen von innen her frag­wür­dig gewor­den. Wir kön­nen nicht glau­ben, daß der Mensch neben uns, der ein präch­ti­ger, hilfs­be­rei­ter und güti­ger Mensch ist, in die Höl­le wan­dern wird, weil er kein prak­ti­zie­ren­der Katho­lik ist. Die Vor­stel­lung, daß alle „guten“ Men­schen geret­tet wer­den, ist heu­te für den nor­ma­len Chri­sten eben­so selbst­ver­ständ­lich wie frü­her die Über­zeu­gung vom Gegenteil.

Der Gläu­bi­ge fragt sich ein wenig ver­wirrt: War­um kön­nen die drau­ßen es so ein­fach haben, wenn es uns so schwer gemacht wird? Er kommt dahin, den Glau­ben als eine Last und nicht als Gna­de zu emp­fin­den. Auf jeden Fall bleibt ihm der Ein­druck zurück, daß es letzt­lich zwei Heils­we­ge gibt: den durch die blo­ße und sehr sub­jek­tiv zuge­mes­se­ne Mora­li­tät für die außer­halb der Kir­che Ste­hen­den und den kirch­li­chen. Er kann nicht das Emp­fin­den haben, als hät­te er den ange­neh­me­ren erwischt; auf jeden Fall ist sei­ne Gläu­big­keit durch die Auf­rich­tung eines Heils­we­ges neben der Kir­che emp­find­lich bela­stet. Daß die mis­sio­na­ri­sche Stoß­kraft der Kir­che unter die­ser inne­ren Unsi­cher­heit aufs emp­find­lich­ste lei­det, ist klar.

Die Wenigen und die Vielen

Ich ver­su­che als Ant­wort auf die­se den Chri­sten von heu­te wohl am mei­sten bela­sten­de Fra­ge in ganz kur­zen Andeu­tun­gen zu zei­gen, daß es nur einen Heils­weg gibt, näm­lich den über Chri­stus. Ihm eig­net aber von vorn­her­ein ein dop­pel­ter Radi­us: er betrifft „die Welt“, „die vie­len“ (das heißt alle); gleich­zei­tig aber wird gesagt, sein Ort sei die Kir­che. So gehört zu die­sem Weg vom Wesen her ein Zuein­an­der von „weni­gen“ und „vie­len“, das als ein Für­ein­an­der Teil der Form ist, in der Gott ret­tet – nicht Aus­druck für das Miß­lin­gen gött­li­chen Wol­lens. Das fängt schon damit an, daß Gott das Volk Isra­el aus allen Völ­kern der Welt aus­grenzt als das Volk sei­ner Erwäh­lung. Soll das etwa hei­ßen, daß nur Isra­el erwählt ist und daß alle ande­ren Völ­ker zum Abfall gewor­fen werden?

Am Anfang sieht es in der Tat so aus, als ob die­se Neben­ein­an­der­stel­lung von erwähl­tem Volk und nicht-erwähl­ten Völ­kern in die­sem sta­ti­schen Sinn zu den­ken wäre: als ein Neben­ein­an­der zwei­er ver­schie­de­ner Grup­pen. Aber sehr bald zeigt sich, daß es nicht so ist; denn in Chri­stus wird das sta­ti­sche Neben­ein­an­der von Juden und Hei­den dyna­misch, so daß nun gera­de auch die Hei­den durch ihre Nicht-Erwählt­heit hin­durch zu Erwähl­ten wer­den, ohne daß dadurch die Erwäh­lung Isra­els end­gül­tig illu­so­risch wür­de, wie das 11. Kapi­tel vom Brief des Apo­stels Pau­lus an die Römer zeigt. So sieht man, daß Gott Men­schen auf zwei­er­lei Art erwäh­len kann: direkt oder durch ihre schein­ba­re Ver­wer­fung hin­durch. Deut­li­cher gesagt: Man stellt fest, daß Gott zwar die Mensch­heit in die „Weni­gen“ und die „Vie­len“ ein­teilt, eine Unter­tei­lung, die in der Schrift immer wie­der­kehrt. Jesus gibt sein Leben als Löse­geld für „die vie­len“ (Mk 10,45); das Gegen­über von Juden und Hei­den und Kir­che und Nicht-Kir­che wie­der­holt die­se Tei­lung in die Weni­gen und die Vielen.

Aber Gott teilt die Mensch­heit nicht des­halb in die Weni­gen und die Vie­len, um die­se in die Abfall­gru­be zu wer­fen und jene zu ret­ten; auch nicht, um die Vie­len leicht und die Weni­gen umständ­lich zu ret­ten, son­dern er benutzt die Weni­gen gleich­sam als den archi­me­di­schen Punkt, von wo aus er die Vie­len aus den Angeln hebt, als den Hebel, mit dem er sie zu sich zieht. Bei­de haben ihre Stel­le im Heils­weg, die ver­schie­den ist, ohne die Ein­heit des Weges auf­zu­he­ben. Man kann die­ses Gegen­über erst dann rich­tig ver­ste­hen, wenn man sieht, daß ihm das Gegen­über von Chri­stus und Mensch­heit, von dem Einen und den vie­len zugrun­de liegt. Das Heil des Men­schen besteht ja dar­in, daß er von Gott geliebt wird, daß sein Leben sich am Ende in den Armen der unend­li­chen Lie­be fin­det. Ohne sie blie­be ihm alles ande­re leer. Eine Ewig­keit ohne Lie­be ist die Höl­le, auch wenn einem sonst nichts geschieht. Das Heil des Men­schen besteht im Geliebt­wer­den von Gott. Aber auf Lie­be gibt es kei­nen Rechts­an­spruch, auch nicht auf­grund mora­li­scher oder son­sti­ger Vor­zü­ge. Lie­be ist wesent­lich ein frei­er Akt, oder sie ist nicht sie selbst.

So bleibt es also dabei: In dem Gegen­über zwi­schen Chri­stus, dem Einen, und uns, den Vie­len, sind wir des Hei­les unwür­dig, ob Chri­sten oder Nicht-Chri­sten, Gläu­bi­ge oder Ungläu­bi­ge, mora­lisch oder unmo­ra­lisch; kei­ner „ver­dient“ das Heil wirk­lich außer Chri­stus. Aber eben hier geschieht der wun­der­ba­re Tausch. Den Men­schen allen zusam­men gehört die Ver­wer­fung, Chri­stus allein das Heil –  im hei­li­gen Tausch geschieht das Gegen­teil: Er allein nimmt das gan­ze Unheil auf sich und macht so den Heils­platz für uns alle frei.

Der wunderbare Tausch

Alles Heil, das es für den Men­schen geben kann, berührt auf die­sem Urtausch zwi­schen Chri­stus, dem einen, und uns, den vie­len, und es ist die Demut des Glau­bens, dies zuzu­ge­ben. Damit könn­te die Sache eigent­lich ihr Bewen­den haben, aber über­ra­schen­der­wei­se tritt nun noch dies hin­zu, daß sich nach Got­tes Wil­len die­ses gro­ße Geheim­nis der Stell­ver­tre­tung, von dem die gan­ze Geschich­te lebt, fort­setzt in einer gan­zen Fül­le von Stell­ver­tre­tun­gen und ihre Krö­nung und Ver­ei­ni­gung in dem Zuein­an­der von Kir­che und Nicht-Kir­che, von Gläu­bi­gen und „Hei­den“, hat.

Der Gegen­satz von Kir­che und Nicht-Kir­che bedeu­tet nicht ein Neben­ein­an­der und nicht ein Gegen­ein­an­der, son­dern ein Für­ein­an­der, in dem jede Sei­te ihre Funk­ti­on besitzt. Den Weni­gen, wel­che die Kir­che sind, ist in der Fort­füh­rung der Sen­dung Chri­sti die Ver­tre­tung der Vie­len auf­ge­tra­gen, und die Ret­tung bei­der geschieht nur in ihrer Zuord­nung zuein­an­der und in ihrer gemein­sa­men Unter­ord­nung unter die gro­ße Stell­ver­tre­tung Jesu Chri­sti, die sie bei­de umspannt. Wenn aber die Mensch­heit in die­ser Ver­tre­tung durch Chri­stus und in ihrer Fort­füh­rung durch die Dia­lek­tik von „Weni­gen“ und „Vie­len“ geret­tet wird, so heißt das auch, daß jeder Mensch, daß vor allem die Gläu­bi­gen ihre unaus­weich­li­che Funk­ti­on im Gesamt­pro­zeß der Ret­tung der Mensch­heit haben. Kei­ner hat das Recht zu sagen: Sie­he, es wer­den ande­re geret­tet ohne den vol­len Ernst des katho­li­schen Glau­bens, war­um nicht auch ich? Woher weißt du denn, daß der vol­le katho­li­sche Glau­be nicht gera­de dei­ne sehr not­wen­di­ge Sen­dung ist, die Gott dir auf­er­legt hat aus Grün­den, die du nicht mark­ten sollst, weil sie zu den Din­gen gehö­ren, von denen Jesus sagt: Du kannst sie jetzt noch nicht ver­ste­hen, son­dern erst spä­ter (vgl. Joh 13,36).

So gilt im Blick auf die moder­nen Hei­den, daß der Christ ihr Heil in Got­tes Gna­de gebor­gen wis­sen darf, von der ja auch sein Heil abhängt, daß er sich aber im Blick auf ihre mög­li­che Ret­tung nicht von dem Ernst sei­nes eige­nen gläu­bi­gen Daseins dis­pen­sie­ren kann, son­dern daß gera­de ihr Unglau­be ihm ver­stärk­ter Ansporn zu gefüll­te­rem Glau­ben sein muß, in dem er sich mit in die Stell­ver­tre­tungs­funk­ti­on Jesu Chri­sti ein­be­zo­gen weiß, an der das Heil der Welt und nicht bloß das der Chri­sten hängt.

Gott allein rechtfertigt

Ich möch­te zum Abschluß die­se Gedan­ken noch etwas ver­deut­li­chen durch eine kur­ze Aus­le­gung zwei­er Tex­te der Schrift, in denen eine Stel­lung­nah­me zu die­sem Pro­blem erkenn­bar wird.

Da ist zuerst der schwie­ri­ge und lasten­de Text, in dem der Gegen­satz von Vie­len und Weni­gen beson­ders ein­dring­lich aus­ge­spro­chen wird: „Vie­le sind beru­fen, Weni­ge aber aus­er­wählt“ (Mt 22,14). Was besagt die­ser Text? Er sagt doch nicht, daß vie­le ver­wor­fen wer­den, wie man gemein­hin aus ihm her­aus­hört, son­dern zunächst nur, daß es zwei ver­schie­de­ne For­men des gött­li­chen Erwäh­lens gibt. Noch genau­er: Er sagt deut­lich, daß es zwei ver­schie­de­ne gött­li­che Akte gibt, die bei­de auf die Erwäh­lung zie­len, ohne uns schon Klar­heit zu geben, ob bei­de auch ihr Ziel errei­chen. Wenn man aber den Gang der Heils­ge­schich­te betrach­tet, wie ihn das Neue Testa­ment aus­legt, so fin­det man die­ses Her­ren­wort illu­striert: Aus dem sta­ti­schen Neben­ein­an­der von aus­er­wähl­tem Volk und nicht erwähl­ten Völ­kern wur­de in Chri­stus ein dyna­mi­sches Ver­hält­nis, so daß die Hei­den gera­de durch die Nicht­er­wählt­heit hin­durch zu Erwähl­ten wur­den und dann frei­lich durch die Erwäh­lung der Hei­den hin­durch auch die Juden in ihre Erwäh­lung zurück­keh­ren. So kann uns die­ses Wort zu einer wich­ti­gen Leh­re werden.

Die Fra­ge nach dem Heil der Men­schen ist immer dann falsch gestellt, wenn sie von unten her gestellt wird, als Fra­ge, wie die Men­schen sich recht­fer­ti­gen. Die Fra­ge des Heils der Men­schen ist kei­ne Fra­ge der Selbst­recht­fer­ti­gung, son­dern eine der Recht­fer­ti­gung durch Got­tes freie Huld. Es geht dar­um, die Din­ge von oben zu sehen. Es gibt nicht zwei Wei­sen, wie Men­schen sich recht­fer­ti­gen, son­dern zwei Wei­sen, wie Gott sie erwählt, und die­se zwei Wei­sen der Erwäh­lung durch Gott sind der eine Heils­weg Got­tes in Chri­stus und sei­ner Kir­che, der auf dem Zuein­an­der der Weni­gen und Vie­len und auf dem Stell­ver­tre­tungs­dienst der Weni­gen in der Ver­län­ge­rung von Chri­sti Stell­ver­tre­tung ruht.

Der zwei­te Text ist der vom gro­ßen Gast­mahl (Lk 14,16–24 par). Die­ses Evan­ge­li­um ist zunächst in sehr radi­ka­lem Sin­ne Froh­bot­schaft, wenn es erzählt, daß am Ende der Him­mel voll­ge­stopft wird mit allen, die man nur irgend­wie auf­trei­ben kann; mit Leu­ten, die gänz­lich unwür­dig sind, die im Ver­hält­nis zum Him­mel blind, taub, lahm, Bett­ler sind. Also ein radi­ka­ler Gna­den­akt, und wer woll­te bestrei­ten, daß nicht auch etwa all unse­re moder­nen euro­päi­schen Hei­den von heu­te auf die­se Wei­se mit in den Him­mel hin­ein­kom­men kön­nen? Jeder hat auf Grund die­ser Stel­le Hoff­nung. Ande­rer­seits: Der Ernst bleibt. Es gibt die Grup­pe jener, die für immer zurück­ge­wie­sen wer­den. Wer weiß, ob unter die­sen zurück­ge­wie­se­nen Pha­ri­sä­ern nicht auch so man­cher ist, der glaub­te, sich für einen guten Katho­li­ken hal­ten zu dür­fen, in Wirk­lich­keit aber ein Pha­ri­sä­er war? Wer weiß frei­lich umge­kehrt, ob unter den­je­ni­gen, wel­che die Ein­la­dung nicht anneh­men, nicht gera­de auch jene Euro­pä­er sind, denen das Chri­sten­tum ange­bo­ten war, die es aber haben fallenlassen?

So bleibt für alle Hoff­nung und Dro­hung zugleich. In die­sem Schnitt­punkt von Hoff­nung und Dro­hung, aus dem sich der Ernst und die hohe Freu­de des Christ­seins erge­ben, hat der Christ von heu­te sein Dasein zu mei­stern inmit­ten der neu­en Hei­den, die er auf ande­re Wei­se in die­sel­be Hoff­nung und Dro­hung gestellt erkennt, weil es auch für sie kein ande­res Heil gibt als das eine, an das er glaubt: Jesus Chri­stus, den Herrn.

Ein­lei­tung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL

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1 Kommentar

  1. Kur­ze Anmerkungen:
    „Neu­hei­den­tum“ ist sicher kei­ne glück­li­che Wort­wahl. Die Hei­den glaub­ten ja an ihre Göt­ter und ver­ehr­ten sie, heu­te ist der Unglau­be an Gott das Cha­rak­te­ri­sti­sche, bzw, selbst wenn irgend­wie an Gott geglaubt wird,lebt man, als gäbe es ihn nicht. Die fak­tisch sich ereig­nen­de Ver­welt­li­chung der Kir­che ist so eine Art der Selbst­sä­ku­la­ri­sie­rung, aber kei­ne Verheidnisierung.

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