Am Karfreitag spitzt sich das Heilsgeschehen zu tödlicher Dramatik zu. Die Bezeichnung des zweiten der drei heiligen Tage als Karfreitag geht auf das althochdeutsche Wort kara für Klage/Trauer zurück. An diesem Tag gedenkt die Kirche des Kreuzestodes unseres Herrn Jesus Christus. Zur neunten Stunde hauchte er auf Golgotha, vor den Mauern Jerusalems, sein Leben aus. Das war genau zur selben Zeit, als im Tempel die Opferlämmer für das Paschafest geschlachtet wurden. So hat sich auf ebenso grausame wie wunderbare Weise die Prophezeiung Abrahams (Gen 22,8) erfüllt.
Es ist ein strenger Fast- und Abstinenztag. Es ist der einzige Tag im ganzen Jahr, an dem die Kirche keine heilige Messe feiert. Sie ehrt vielmehr den Opfertod ihres göttlichen Erlösers durch eine eigene Liturgie, die durch ihre besondere Schlichtheit viele Elemente aus der ältesten Zeit bewahrt hat. Der erste Teil spiegelt den Beginn einer heiligen Messe in den ersten Jahrhunderten wider, als es noch keinen Introitus gab und der Priester sich still vor den Stufen des Altars niederwarf. Diese Prostratio (Niederwerfen) drückt in der Karfreitagsliturgie nicht nur Anbetung und tiefe Demut aus, angesichts der Unermeßlichkeit der Erlösungstat Christi, sondern versinnbildlicht auch den Zustand der Menschheit vor der Erlösung, da sie durch den Sündenfall regelrecht am Boden lag.
In der Karfreitagsliturgie erklingen am Beginn der Kreuzverehrung die Improperien, die Heilandsklagen, die sich auf erschütternde Weise an jeden Menschen richten. Sie finden ihre Anlehnung an das alttestamentliche Buch Micha 6,3–4:
„Mein Volk, was habe ich dir getan, womit dich beleidigt? Antworte mir! Ich habe dich aus dem Land Ägypten geführt, aus dem Sklavenhaus dich erlöst. Als Führer sandte ich dir Moses, Aaron und Mirjam…“
Das Ganze ist, für den „modernen“ Menschen kaum faßbar, ein Rechtsstreit und als solcher kehrt er in der Karfreitagsliturgie wieder: ein Rechtsstreit zwischen dem Messias und seinem undankbaren Volk.
Darin enthalten ist der Hymnus Trishagion, der auch in der lateinischen Kirche nicht nur lateinisch, sondern auch griechisch gesungen wird. Neben dem Kyrie eleison ist das der einzige verbliebene Teil des römischen Ritus im Kirchenjahr auf griechisch, dessen Liturgiesprache seit dem 4. Jahrhundert Latein ist. Während das Kyrie in jeder heiligen Messe erklingt, wird dieser Hymnus, das zweite griechische Element der heiligen Liturgie des Westens, nur einmal im Jahr, am Karfreitag, angestimmt. Dieser dreimalige Heiligruf wurde in jüngster Zeit in den Barmherzigkeitsrosenkranz übernommen, dessen Abschluß er bildet.
Die Heilandsklagen
Popule meus, quid feci tibi? Aut in quo contristavi te?
Responde mihi.
Quia eduxi te de terra Aegypti: parasti crucem salvatori tuo.
Hagios ho Theos – Sanctus Deus
Hagios Ischyros – Sanctus Fortis
Hagios Athanatos, eleison hemas – Sanctus Immortalis, miserere nobis
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Aus der Knechtschaft Ägyptens habe ich dich herausgeführt.
Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.
Hagios, ho Theos – Sanctus Deus – Heiliger Gott
Hagios Ischyros – Sanctus Fortis – Heiliger, starker Gott
Hagios Athanatos, eleison hemas –
Sanctus Immortalis, miserere nobis –
Heiliger, unsterblicher Gott, erbarme dich unser.
Vierzig Jahre habe ich dich geleitet durch die Wüste.
Ich habe dich mit Manna gespeist
und dich hineingeführt in das Land der Verheißung.
Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.
Heiliger Gott
Heiliger, starker Gott
Heiliger, unsterblicher Gott, erbarme dich unser.
Was hätte ich dir mehr tun sollen und tat es nicht?
Als meinen erlesenen Weinberg pflanzte ich dich,
du aber brachtest mir bittere Trauben,
du hast mich in meinem Durst mit Essig getränkt
und mit der Lanze deinem Erlöser die Seite durchstoßen.
Heiliger Gott
Heiliger, starker Gott
Heiliger, unsterblicher Gott, erbarme dich unser.
Deinetwegen habe ich Ägypten geschlagen und seine Erstgeburt,
du aber hast mich geschlagen und dem Tod überliefert.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt
und den Pharao versinken lassen im Roten Meer,
du aber hast mich den Hohenpriestern überliefert.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe vor dir einen Weg durch das Meer gebahnt,
du aber hast mit der Lanze meine Seite geöffnet.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
In einer Wolkensäule bin ich dir vorangezogen,
du aber hast mich vor den Richterstuhl des Pilatus geführt.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe dich in der Wüste mit Manna gespeist,
du aber hast mich ins Gesicht geschlagen
und mich gegeißelt.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe dir Wasser aus dem Felsen zu trinken gegeben und dich gerettet,
du aber hast mich getränkt mit Galle und Essig.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Deinetwegen habe ich die Könige Kanaans geschlagen,
du aber schlugst mir mit einem Rohr auf mein Haupt.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe dir ein Königszepter in die Hand gegeben,
du aber hast mich gekrönt mit einer Krone von Dornen.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.
Ich habe dich erhöht und ausgestattet mit großer Kraft,
du aber erhöhtest mich am Holz des Kreuzes.
Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.