Der Fall von Kardinal Ricard – Hintergründe und Zusammenhänge

Von Skandalen und Skandalen


Kardinal Ricard für fünf Jahre von seinem Priestertum suspendiert.
Kardinal Ricard für fünf Jahre von seinem Priestertum suspendiert.

(Rom) Anläß­lich des jüng­sten Besuchs von Papst Fran­zis­kus in Mar­seil­le war im Vor­feld, am Ende eines Arti­kels der Zei­tung Libé­ra­ti­on vom 22.09.2023, eine Infor­ma­ti­on zu lesen, die von Rom bis­her nicht öffent­lich ver­laut­bart wurde.

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Ber­na­dette Sau­va­get, die Autorin des Arti­kels, schreibt dar­in, der Vati­kan habe vor kur­zem dem aus Mar­seil­le stam­men­den Kar­di­nal Jean-Pierre Ricard Sank­tio­nen auf­er­legt. Kar­di­nal Ricard, der von 2001 bis 2019 Erz­bi­schof von Bor­deaux und meh­re­re Jah­re Vor­sit­zen­der der Fran­zö­si­schen Bischofs­kon­fe­renz war, hat­te Ende 2022 zuge­ge­ben, in den 80er Jah­ren, als er Bischofs­vi­kar im Erz­bis­tum Mar­seil­le war, ein 14jähriges Mäd­chen sexu­ell belä­stigt zu haben. Der in dem Fall häu­fig gebrauch­te Begriff „Miß­brauch“ sug­ge­riert in der kol­lek­ti­ven Wahr­neh­mung inzwi­schen zu schwer­wie­gen­de Vor­fäl­le, als daß er wirk­lich ange­mes­sen erscheint. Der dama­li­ge Seel­sor­ger des Erz­bis­tums Mar­seil­le habe das Mäd­chen, von dem er erst spä­ter erfah­ren haben will, daß es min­der­jäh­rig war, „umarmt und geküßt“. Der Kar­di­nal selbst nann­te sein Ver­hal­ten „ver­werf­lich“.

Die Art der öffent­li­chen Debat­te um den sexu­el­len Miß­brauch in der Kir­che, die vor allem von kir­chen­fer­nen Krei­sen bestimmt wird, führt auch inner­halb der katho­li­schen Kir­che zu einer bedenk­li­chen Wahr­neh­mungs­ver­zer­rung: Man­che schei­nen in ihrer Empö­rung über­zeugt, daß eine unan­ge­mes­se­ne Hand­lung ver­werf­li­cher sei als die Leug­nung einer Glau­bens­wahr­heit. Hier wer­den Ursa­che und Wir­kung durcheinandergebracht. 

Die fran­zö­si­sche Staats­an­walt­schaft eröff­ne­te gegen Kar­di­nal Ricard einen Ermitt­lungs­akt, den sie bereits Anfang 2023 wie­der schloß, da die Ange­le­gen­heit ver­jährt ist. 

Das kirch­li­che Ver­fah­ren, für das kei­ne Ver­jäh­rungs­fri­sten mehr gel­ten sol­len, wur­de jedoch fort­ge­setzt und führ­te zu einer Ver­ur­tei­lung des Kar­di­nals, dem, so Liberá­ti­on, für fünf Jah­re die öffent­li­che Zele­bra­ti­on der Lit­ur­gie unter­sagt wurde.

Der Kar­di­nal war 2019, sobald er das 75. Lebens­jahr voll­endet hat­te, von Papst Fran­zis­kus eme­ri­tiert wor­den. Ein Anzei­chen dafür, daß er nicht zum enge­ren „Freun­des­kreis“ von San­ta Mar­ta zähl­te. Immer­hin hat­te Kar­di­nal Ricard unter Papst Bene­dikt XVI. im über­lie­fer­ten Ritus zele­briert und das Mut­ter­haus des alt­ri­tu­el­len Insti­tut du Bon Pasteur in sei­ner Diö­ze­se kano­nisch errich­tet. Aller­dings besuch­te er dann unter Papst Fran­zis­kus, im Zuge von des­sen „Ent­span­nungs­po­li­tik“ und als „freund­li­che Geste“, auch eine Frei­mau­rer­lo­ge in Bordeaux. 

Auch sei­ne Ver­ur­tei­lung weist auf kei­nen bevor­zug­ten „Draht“ zum Hei­li­gen Stuhl hin, nicht in der Sache, jedoch im Ver­gleich zu schwer­wie­gen­den Miß­brauchs­fäl­len, die nicht oder kaum geahn­det wer­den, weil San­ta Mar­ta und des­sen „magi­scher Zir­kel“ die schüt­zen­de Hand dar­über hal­ten. Die Dis­zi­pli­nar­ab­tei­lung des Glau­bens­dik­aste­ri­ums (vor­mals Glau­bens­kon­gre­ga­ti­on) prüft ein­ge­hend und fällt ihre Urtei­le, doch nicht alle wer­den exe­ku­tiert, denn das ist eine Fra­ge der Kon­tak­te zu San­ta Mar­ta. Dies zeig­te jüngst der Fall des inzwi­schen ehe­ma­li­gen Jesui­ten Mar­ko Ivan Rup­nik, gegen den von der Glau­bens­kon­gre­ga­ti­on wegen schwer­wie­gen­der Taten sogar die Exkom­mu­ni­ka­ti­on ver­hängt wor­den war, die dann aber auf wun­der­sa­me Wei­se verschwand. 

Gestern wur­de die Infor­ma­ti­on von La Croix, der Tages­zei­tung der fran­zö­si­schen Bischö­fe, bestä­tigt. Dem heu­te 79jährigen Kar­di­nal wur­de für die Dau­er von fünf Jah­ren die Aus­übung jeder öffent­li­chen Zele­bra­ti­on außer­halb sei­ner Wohn­diö­ze­se unter­sagt. Das Urteil erging bereits im spä­ten Früh­jahr. Es bedeu­tet, daß Ricard zwar Kar­di­nal und Prie­ster bleibt, aber sein Prie­ster­tum im genann­ten Zeit­raum nicht mehr öffent­lich aus­üben darf. Das Urteil sieht eine Aus­nah­me vor: Es erlaubt dem Pur­pur­trä­ger wei­ter­hin den lit­ur­gi­schen Dienst in der Diö­ze­se Digne, die von ihm als Alters­sitz erwählt wur­de, sofern der dor­ti­ge Diö­ze­san­bi­schof Msgr. Emma­nu­el Gobil­li­ard die Erlaub­nis dazu erteilt.

Was das bedeu­tet, erklär­te Kar­di­nal Jean-Marc Ave­li­ne gegen­über La Croix. „Kar­di­nal Ricard lebt in völ­li­ger Abge­schie­den­heit und ist intel­li­gent genug, um zu ver­ste­hen, daß er sich zurück­hal­ten muß.“ Ave­li­ne gehört zum Kreis der Prä­la­ten, die in San­ta Mar­ta mehr Anklang fin­den. Er wur­de Ende 2013 von Papst Fran­zis­kus zum Weih­bi­schof und 2019 zum Erz­bi­schof von Mar­seil­le ernannt. 2020 berief ihn Fran­zis­kus zum Mit­glied des Päpst­li­chen Rates für den Inter­re­li­giö­sen Dia­log (heu­te Dik­aste­ri­um für den Inter­re­li­giö­sen Dia­log) und 2022 zum Mit­glied des Dik­aste­ri­ums für die Bischö­fe (vor­mals Kon­gre­ga­ti­on für die Bischö­fe). Im vori­gen Jahr kre­ierte er ihn schließ­lich zum Kardinal.

Die Nach­fra­ge bei Bischof Gobil­li­ard brach­te Klar­heit. Das Urteil ist das eine, die Anwen­dung das ande­re: Bischof Gobil­li­ard erklär­te gegen­über La Croix: „Ich bin nicht damit ein­ver­stan­den, daß Kar­di­nal Ricard der­zeit in der Diö­ze­se Digne zele­briert, und das habe ich ihm auch gesagt. Ich möch­te, daß die Sank­tio­nen auch hier ange­wen­det wer­den.“ Mit dem Hin­weis Gobil­li­ards, soll­te der Kar­di­nal in eine ande­re Diö­ze­se umsie­deln und dort die Erlaub­nis zur Zele­bra­ti­on erhal­ten, „kann ich ihn nicht dar­an hin­dern“, gab der Orts­bi­schof zu ver­ste­hen, daß Kar­di­nal Ricard ein unge­be­te­ner Gast sei.

Die­ser signa­li­sier­te, die Bot­schaft ver­stan­den zu haben. Er wol­le sich nicht dazu äußern, son­dern tun, wor­um man ihn gebe­ten habe, und „kei­ne Kon­tro­ver­sen ent­fa­chen oder anheizen“.

Bis zum 26. Sep­tem­ber 2024, sei­nem 80. Geburts­tag, ist der Kar­di­nal berech­tigt, an einem Kon­kla­ve teilzunehmen. 

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Ripo­ste Catholique

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