
(Rom) Eine Geschichte, die manche faszinierend, andere bestenfalls erheiternd oder schräg finden, wurde in jüngster Zeit von einigen Medien wieder ausgegraben. Es ist die Geschichte einer im Vatikan versteckten Zeitmaschine. Um die Ereignisse und Behauptungen nicht ganz im luftleeren Raum der bloßen Sensation hängen zu lassen, sollen die Eckdaten rekonstruiert werden.
Die Geschichte geht auf das Jahr 1972 zurück, als La Domenica del Corriere, die Sonntagsausgabe des Corriere della Sera, in ihrer Ausgabe Nr. 18 vom 7. Mai einen „Exklusivbericht“ aus der Feder des Journalisten Vincenzo Maddaloni veröffentlichte. Der Bericht bestand aus zwei Teilen: Einmal ein Interview mit dem Benediktinerpater Pellegrino Ernetti, der als Erfinder der Zeitmaschine genannt wurde; dann aus zwei Fotos und einem Vorspann, in dem eine namenlose Quelle behauptete, die Fotos seien Beweise, daß eine Maschine erfunden wurde, mit der die Vergangenheit fotografiert werden könne.
Die Entwicklung der Maschine sei unter größter Geheimhaltung erfolgt und in den 50er und 60er Jahren dazu verwendet worden, Zeitreisen zu unternehmen, um historische Momente und Ereignisse zu klären, die bis zum heutigen Tag die Menschen beschäftigen.
Der Sulpizianer François Brune
2002 veröffentlichte der Priester François Brune das Buch „Cronovisore“ („Chronovisor“), das seit 2010 unter dem Titel „Das Geheimnis des Pater Ernetti. Die Zeitmaschine im Vatikan“ auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Brune, 1931 in Frankreich geboren, studierte in Paris an der Sorbonne und am Institut Catholique, dann auch an der Universität Tübingen. 1960 trat er in den Sulpizianerorden ein und wurde zum Priester geweiht. Als Kenner antiker Sprachen studierte er schließlich am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom. Die Lehrtätigkeit führte ihn an verschiedene Priesterseminare.
Brune veröffentlichte zahlreiche theologische Schriften und interessierte sich für paranormale Phänomene, besonders Nahtoderfahrungen und den Kontakt mit Verstorbenen. Ein 1988 von ihm veröffentlichtes Buch trägt den Titel „Die Toten sprechen zu uns“ („Les Morts nous parlent“). Es wurde in sieben Sprachen übersetzt. 1998 folgte das Buch „Das Jenseits hören“ („L’écoute de l’au-delà“) zusammen mit dem französischen Biologen und Entomologen Remy Chauvin (1913–2009), der zunächst Professor für Psychophysiologie an der Universität Straßburg, dann Honorarprofessor an der Sorbonne war.

Drei Jahre vor seinem Tod konvertierte Brune zur orthodoxen Kirche, weil die lateinische Kirche, seiner Ansicht nach, dem heiligen Augustinus zu großes Gewicht gegenüber den griechischen Kirchenvätern eingeräumt habe. Brune starb 2019 im Alter von 88 Jahren. Eines seiner letzten Bücher war jenes über den Chronovisor.
Diese Zeitmaschine, so Brune, sei vom Benediktinermönch Pater Pellegrino Ernetti entwickelt worden, der auch bis in die 60er Jahre über deren Geheimhaltung gewacht habe. Zwölf namhafte Wissenschaftler wie Wernher von Braun, der zunächst für das nationalsozialistische Deutsche Reich, dann im Kalten Krieg für die USA maßgeblichen Anteil an Projekten für Raketenwaffen und Raumfahrt hatte, und der Physiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi hätten mit Ernetti an der Maschine gearbeitet. Andere Namen nannte er nicht.
Brune lernte P. Ernetti 1964 in Venedig kennen. Der Franzose besuchte bei seinem Aufenthalt auch die Insel San Giorgio Maggiore gegenüber dem Dogenpalast. Als er anschließend am Anlegeplatz vor der Klosterkirche auf das Fährschiff wartete, wartete dort auch ein Benediktinermönch, der sehr an Geschichte interessiert war und die „alten Sprachen studiert hatte wie ich“, wodurch die beiden schnell ins Gespräch kamen. Das Fährschiff, auf das P. Ernetti gewartet hatte, „fuhr nicht in meine Richtung“. Zum Abschied lud er aber Brune ein, ihn am Nachmittag des folgenden Tages im Kloster zu besuchen, was dieser auch tat. Bei dieser Gelegenheit schilderte er dem Franzosen die Existenz des Chronovisors.
Beim Chronovisor handelt es sich nicht um eine Zeitmaschine, wie sie sich die kollektive Meinung vorstellt. Sie versetzt, so Brune, niemand in die Vergangenheit zurück, sondern sei wie ein „Fenster zur Vergangenheit“, das den Blick in die Geschichte ermögliche.

Laut Ernetti kann der Chronovisor auf eine bestimmte Epoche eingestellt werden. Während der Betrachter die Vergangenheit sieht, kann die Maschine die Bilder als Fotos oder Videos aufzeichnen, damit sie von Fachleuten studiert werden können.
Der Chronovisor habe es ihm erlaubt, so der Benediktiner, die Kreuzigung Jesu Christi zu sehen und aufzuzeichnen. Er sei ebenso Zeuge einer der berühmtesten Reden der Geschichte geworden, die Cicero 63 vor Christus im römischen Senat hielt. Er habe noch viele weitere epochemachende Ereignisse beobachten können, die Napoleon und Mussolini, aber ebenso Moses betreffen.
Einige Jahre nach der Begegnung zwischen Brune und Ernetti veröffentlichte der Corriere della Sera seinen Artikel. Endlich, so Maddaloni damals, „wurde eine Maschine erfunden, mit der die Vergangenheit fotografiert werden kann“. Die Zeitung veröffentlichte dazu ein Foto, das laut Bildbeschriftung die Maschine zeigte, mit der Ernetti Zeuge des Letzten Abendmahls geworden sei, wovon dieser auch ein Foto besitze, das diesen Augenblick festhält. Die Veröffentlichung eines Fotos des Chronovisor, so der Eindruck, sollte offenbar Skeptikern entgegenwirken, denn die Maschine hatte nie jemand gesehen. Es gab nur das Wort von P. Ernetti.
Ebenso wurde vom Corriere ein Foto des sterbenden Christus veröffentlicht, das mit dem Chronovisor aufgenommen worden sei. Die Folge waren heftige Angriffe, darunter von Atheisten und Kirchengegnern, die sich durch die Aussage provoziert fühlten, die christlichen Wahrheiten ließen sich nun einwandfrei beweisen. Verschiedene Autoren, darunter auch Wissenschaftler, machten sich darauf die Mühe, die Behauptungen zu widerlegen. Die Darstellung des Christus wurde als Aufnahme eines bekannten Kruzifixes im Heiligtum der Barmherzigen Liebe in Collevalenza im italienischen Erzbistum Orvieto-Todi identifiziert. Die Niederschrift der verschollenen Tragödie Thyestes des antiken Autors Quintus Ennius, bis dahin nur fragmentarisch überliefert, deren Text mit Hilfe der Zeitmaschine im Ton aufgezeichnet werden konnte, wurde von der Altphilologin Katherine Owen Eldred der Universität Princeton als Fälschung entlarvt.
War P. Ernetti als Betrüger überführt? So schien es. Allerdings schrieb Maddaloni sowohl die Fotos als auch den Ennius-Text seiner anonymen Quelle und nicht P. Ernetti zu. Der Benediktiner nahm dazu nicht Stellung. Er warnte im Interview vor der von ihm erfundenen Maschine. Sie sei eine Gefahr für die Gedankenfreiheit, aber auch für die Freiheit der Meinung und des Handelns, denn die Maschine könne auch Gedanken erfassen.
Er verwahrte sich auch dagegen, daß seine Forschungen etwas mit Parapsychologie oder mit Kontakt zum Jenseits zu tun hätten.
Gegen Angriffe setzte er sich nicht zur Wehr. Aus seinem Umfeld hieß es, ihm sei von kirchlicher Autorität Schweigen auferlegt worden.
Auch Brune bekam übrigens die Maschine nie zu Gesicht. Laut Maddaloni wurde der Chronovisor seit den 60er Jahren im Vatikan aufbewahrt. P. Ernetti habe ihn im Auftrag des Heiligen Stuhls zerlegen und im Kirchenstaat abliefern müssen.
1974 veröffentlichte die Zeitschrift Arcani – Zeitschrift der okkulten und geheimnisvollen Welt einen Artikel über die Forschungen zur Neutrinophysik von Don Luigi Borello (1924–2001), einem anderen Priester und Physiker. Auch sie haben mit dem Hör- und Sichtbarmachen der Vergangenheit zu tun. Es wurde ein Buch von Don Borello über die Chronovision angekündigt, das kurz vor der Veröffentlichung stehe. In einer weiteren Ausgabe von Arcani führte Don Borello die Unterschiede zwischen seiner Theorie und jener von Pater Ernetti aus. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung der Theorie des leeren Raumes.

Don Borellos Buch „Die Steine erzählen“ („Le pietre raccontano“) erschien schließlich erst 1989. Darin wurde P. Ernetti gleich im Vorwort angegriffen und die Erfindung einer Zeitmaschine durch ihn in Frage gestellt.
1990, vier Jahre vor seinem Tod, replizierte der Benediktiner. Die Existenz der Zeitmaschine sei eine „sakrosankte Wahrheit“. Das Christus-Foto sei echt. Es sei 1953 aufgenommen worden, während die Christus-Figur des spanischen Künstlers Lorenzo Coullaut Valera erst 1964 nach Italien ins Heiligtum von Collevalenza kam. Mutter Speranza, die Gründerin von Collevalenza, hatte die Figur 1930 bei Coullaut Valera in Auftrag gegeben. Sie sei genau nach den Eingebungen der Mystikerin geschaffen worden. Nach einer Überlieferung habe Christus selbst dem Künstler Modell gestanden. Das unbekannte Modell sei nämlich am Tag verschwunden, als die Arbeit abgeschlossen war, ohne seinen Lohn in Empfang zu nehmen. P. Ernetti schrieb, daß Mutter Speranza hocherfreut gewesen sei, als er ihr das Foto des Gekreuzigten gezeigt habe.
Der Benediktiner P. Pellegrino Ernetti
Pater Pellegrino Ernetti, bekannt als Don Erno, wurde 1925 als Marcello Alfredo Ernetti in dem kleinen Ort Rocca Santo Stefano östlich von Rom geboren. Bei seinem Eintritt in den Benediktinerorden erhielt er den Namen Pellegrino. Er studierte am Päpstlichen Konservatorium Santa Cecilia in Rom und war ein anerkannter, hochgeschätzter Musikwissenschaftler. Er publizierte mehrere Bücher zur Musikgeschichte, vor allem zur Geschichte des Gregorianischen Chorals, aber auch theologische Schriften, darunter über Dämonologie.

Am 17. September 1952 führten er und der Franziskanerpater Agostino Gemelli (1878–1959), nach dem die Päpstliche Universitätsklinik in Rom benannt ist, an der Katholischen Universität Sacro Cuore in Mailand, deren Rektor Gemelli war, Aufnahmen zur Gregorianik durch, die mit akustischen Experimenten verbunden waren. Die Zusammenarbeit zwischen dem Mediziner und Quantenphysiker Gemelli und dem Musikwissenschaftler Ernetti bestand seit den 40er Jahren. Für ihre Experimente benutzten sie ein Drahttongerät. Als P. Gemelli, „wie es seine Angewohnheit“ war, den Stoßseufzer „Papa, hilf mir“ von sich gab, hörten sie eine Stimme, die antwortete. Pater Gemelli versicherte, die Stimme seines Vaters gehört zu haben, der den Sohn mit einem Kosenamen ansprach, wie es in seiner Kindheit nur sein längst verstorbener Vater zu tun pflegte. Da das Aufnahmegerät an war, hatten sie unabsichtlich auch die Stimme aufgezeichnet. Daraus folgten eine Reihe neuer Experimente, die so nicht geplant waren. Als Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften gelang es P. Gemelli, für sich und P. Ernetti eine Audienz bei Pius XII. zu erhalten, um den Papst über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zu informieren. Eine Reaktion des Papstes ist nicht bekannt. Das Erlebnis von September 1952 sei für P. Ernetti zum Anstoß geworden, eine Zeitmaschine zu entwickeln.
Ab 1955 hatte P. Ernetti den damals weltweit einzigen Lehrstuhl für Präpolyphonie am Konservatorium „Benedetto Marcello“ von Venedig inne, ein Fachbereich, der sich mit der Musik von 1500 vor Christus bis 900 nach Christus befaßt. Seither lebte er im wiedergewonnenen Benediktinerkloster San Giorgio Maggiore auf der gleichnamigen Insel gegenüber dem Markusplatz. Von Venedig aus wirkte er unter anderem als Chormeister am Benediktinerinnenkloster Sant’Antonio in Polesine in Ferrara. Zudem war er bis zu seinem Tod als Exorzist tätig. Als solcher wurde er von P. Gabriele Amorth, dem langjährigen Hauptexorzisten der Diözese Rom, in dessen Büchern erwähnt.
Der Chronovisor soll Schwarzweißbilder als dreidimensionale Hologramme projizieren, dazu den entsprechenden Originalton. Alle Projektionen seien von der Maschine als Film aufgezeichnet worden. Das geschah in den 50er Jahren.

1994 starb P. Pellegrino Ernetti im Inselkloster San Giorgio Maggiore. Laut P. Brune wurden der Benediktiner und zwei noch lebende Wissenschaftler, die an der Erfindung mitgewirkt hatten, Anfang der 90er Jahre in den Vatikan zitiert, wo sie vor einer Kommission internationaler Wissenschaftler und Religionsvertreter einer langen Befragung unterzogen wurden. Brune nennt weder die Namen der beiden noch jener der Kommissionsmitglieder und auch kein Ergebnis der Anhörung.
Auf der Klosterinsel in Venedig machten die Mönche nach Ernettis Tod gegenüber Neugierigen kein Hehl daraus, die Geschichte der Zeitmaschine für eine Marotte ihres Mitbruders zu halten. Ein renommierter Musikwissenschaftler, beliebter Seelsorger und ernsthafter Exorzist mit einer „Schwäche“? Oder machte er sich über seine Zeitgenossen gar lustig? Jedenfalls konnten seine Mitbrüder, wie beteuert wurde, in seiner Hinterlassenschaft keine Aufzeichnungen, Pläne oder andere Hinweise auf die Existenz einer Zeitmaschine finden.
Ein angeblicher „geistlicher Sohn“ Ernettis, der anonym bleiben wollte, behauptete nach dessen Tod, dieser habe ihm auf dem Sterbebett anvertraut, die Geschichte der Zeitmaschine frei erfunden zu haben, weil er hoffte, eine solche eines Tages erfinden zu können. Allerdings erwies sich die Darstellung des Unbekannten in zahlreichen Punkten als wenig glaubwürdig.
Was aber ist an der ganzen Geschichte glaubwürdig?
P. Brune jedenfalls zeigte sich überzeugt, daß Ernettis Zeitmaschine irgendwann wieder zusammengebaut und benützt werde. Der Autor dieser Zeilen ist davon nicht ganz so überzeugt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
Typisch Italien: „Crematorio Kikeriki“