
Der Artikel geht auf die Frage des Forumsbeitrags vom 6. Mai 2020 ein. Dort wird im Kontext der Missbrauchsdebatte das Fehlen von pastoralen Ansätzen innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland angemahnt.
Gibt es Ansätze der pastoralen Begleitung für homosexuell empfindende Menschen im deutschsprachigen Raum? Wenn man das Wort „pastoral“ vor allem auf geweihte Seelsorger und Priester bezieht, dann muss man hier mit einem klaren Nein antworten. Bezieht man in das Wort aber auch jene Gruppen mit pastoralem Herzen ein, in denen sich von Homosexualität Betroffene für Betroffene einsetzen, dann muss die Antwort ja lauten. – Ich schreibe diesen Beitrag als ein Mann, der homosexuelles Empfinden in seinem Leben kennt, und der seit über 20 Jahren als Betroffener für Betroffene seelsorgerlich und beratend arbeitet. Im Zuge dessen habe ich viele hundert, in die tausende gehende, Geschichten gehört, bin mit betroffenen Menschen Wege gegangen, habe Vieles erlebt, habe Fehler gemacht, habe dazugelernt und meinen eigenen Blick und meine Erkenntnis durch all die Begegnungen hindurch immer wieder korrigieren lassen. Deshalb erlaube ich mir hier, das Wort zu ergreifen, um einige Erkenntnisse weiterzugeben, die für die pastorale Begleitung von Menschen, die homosexuell empfinden, wichtig sein könnten.
Allerdings muss ich zunächst die Gruppe genauer definieren, die ich im Blick habe. Denn es gibt in der Minderheit der Menschen, die homosexuell empfinden, viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Anliegen. Einige dieser Menschen begegnen uns lautstark mit der Bitte um Anerkennung ihrer Lebenspartnerschaft. Andere wollen von der Kirche gar nichts wissen, müssen sich von ihrer Moral befreien oder fühlen sich durch die bloße Existenz des Katholischen Katechismus diskriminiert. Und neben diesen Gruppen gibt es aber auch diejenigen, die in Bezug auf ihre homosexuelle Orientierung Fragen haben, und manche von ihnen empfinden in sich auch einen Konflikt und leiden. Leider ist diese Gruppe leise und kaum vernehmbar. Denn sie wurde stumm gemacht – einmal durch Äußerungen aus den Reihen der katholischen Bischöfe, die jüngst erst haben verlauten lassen: Beide (Homosexualität wie Heterosexualität A.D.V.) gehören zu den normalen Formen einer sexuellen Prädisposition, die durch keine spezifische Sozialisation veränderbar ist oder verändert werden müsste. (DBK Pressemeldung Nr. 205, 05.12.2019); ein anderes Mal durch die öffentliche Meinung, die man heute bereits im sexualpädagogischen Unterricht der Schule hört: Wer Schwierigkeiten mit seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung hat, ist in Wirklichkeit homophob und hat die Ablehnung der Homosexualität durch die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft in Wirklichkeit in sich aufgenommen. – In Bezug also auf diese Gruppe, die ihre sexuelle Orientierung konflikthaft empfindet, schreibe ich diesen Artikel. Wer in diesem Beitrag auf die übliche Schelte auf die LGBT-Bewegung wartet, sollte hier mit dem Lesen aufhören.
Damit bin ich aber schon in der Mitte der ersten Erkenntnis, die ich mir selbst als betroffener Mann erst einmal erobern musste. Will man den vielen Gesichtern und Geschichten von Menschen begegnen, die homosexuell empfinden, dann muss man manche Erklärungen, Verlautbarungen etc. hinter sich lassen, die Wissenschaftlichkeit vorgeben, und am Ende doch nur eine verkürzte Sicht auf das Thema Homosexualität gewähren. Denn bereits der Griff nach wirklichen Statistiken, Untersuchungen und Daten verrät: Was Homosexualität genau sei, ist mehr als unklar.
So zeigen unzählige Untersuchungen, dass die gleichgeschlechtliche Orientierung nur bei einer kleinen Gruppe von Menschen stabil ist. Die Zahlenwerte liegen in internationalen Untersuchungen bei unter 2 %. In Zahlenwerten, die über 2 % liegen, sind schon Menschen eingerechnet, die homosexuell und heterosexuell in unterschiedlichen Ausprägungen empfinden. Vor allem fällt auf, dass im Alter zwischen 12 und 22 Jahren die sexuelle Orientierung großen Schwankungen unterliegt. So kommt eine europaweite Untersuchung zum Schluss, dass die Varianz zwischen heterosexuell und homosexuell von 16 % Schwankung im Alter von 14–29 auf unter 8 % Schwankung zwischen homosexuell und heterosexuell fällt, und dass die Gruppe der bisexuell empfindenden Menschen beinahe doppelt so groß ist wie die Gruppe der rein homosexuell empfindenden (vgl. Based on a census-representative survey of 11.754 people across EU conducted in August 2016 by Diala research).
Sexuelle Orientierungen sind also scheinbar nicht einfach in „homosexuell“ und „heterosexuell“ einzuordnen. – Denn es ist nicht klar, worauf die durch die Untersuchungen angedeuteten Schwankungen beruhen. Sind Menschen zwischen 14 und 29 nur deshalb in ihrer sexuellen Orientierung schwankend, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der man heute sozial erlaubt zwischen der einen und der anderen Orientierung wählen kann? Oder gibt es diese Schwankung, weil ein junger Mensch im Laufe seines Erwachsenwerdens verschiedene Fragen psychischer Natur zu lösen hat, die auf die sexuelle Orientierung durchschlagen können? Für beide Annahmen gibt es wissenschaftliche Belege. Zum Beispiel wird die soziale Hypothese durch die Beobachtung gestützt, dass junge Menschen sich in ihrer Partnerwahl heute nicht mehr an heterosexuelle Standards halten. Sie haben mit den Menschen Sex, die ihnen gefallen, egal welchem Geschlecht sie angehören (vgl. Ritch Savin-Williams, The New Gay Teen). Andere Belege zeigen, dass sich mit der Sexualität nicht-sexuelle, also psychische Konflikte oder Entwicklungskonflikte (Adaptionskonflikte) funktional verbinden können, die dann auf die Ebene der sexuellen Orientierung durchschlagen. Nach Bewältigung der Entwicklungsherausforderung kommt es dann – zumindest bei einem Teil der Menschen – zu einer Verschiebung der sexuellen Orientierung.
Allein diese Andeutungen zeigen, dass sich eine vielgesichtige Welt dann offenbart, sobald man den Vorhang der scheinbar wissenschaftlich so eindeutigen „Homosexualität“ lüftet. Noch deutlicher wird dies erkennbar, wenn man bedenkt, dass unter der Überschrift „Homosexuell“ auch Menschen subsumiert werden, die bisexuell empfinden oder besser gesagt, die eher homosexuell als heterosexuell empfinden, die gleich homosexuell wie heterosexuell, und die mehr heterosexuell als homosexuell empfinden. – So sagt selbst der in christlichen Kreisen gerne beschimpfte Sexualforscher Alfred Kinsey: Die Tatsache, dass es bei über 50 % der untersuchten Männer homosexuelle und heterosexuelle Erregbarkeit im gleichen Lebensabschnitt gibt, lässt alle Theorien über angeboren, anlagebedingt, Kernhomosexuelle etc. einfach in sich zusammenfallen (vgl. Kinsey, Alfred C. (1941) Criteria For A Hormonal Explanation Of The Homosexual, The Journal of Clinical Endocrinology May 1941, Vol. 1, No. 5, S. 424–428).
Auch wenn diese Zahlen belegen, wie unwahr es ist, wenn man einfach von der Homosexualität redet, so wahr wird die Forderung, dass, wer das Thema Homosexualität pastoral wirklich verstehen und durchdringen will, hinter den Vorhang blicken und Mut zur Begegnung haben muss.
Treten wir aber hinter den Vorhang, so machen die oben nur angedeuteten Hinweise erwartbar, dass wir dort auf junge Menschen treffen, die in ihrer Entwicklung homosexuellen Gefühlen begegnen und sich fragen: Bin ich so geboren oder habe ich diese Empfindungen nur, weil ich Jungs bewundere, die weiter entwickelt, männlicher gestaltet sind als ich? Oder wir treffen auf mehr homosexuell als heterosexuell empfindende Menschen, die sich fragen: Wie kann es sein, dass ich mich doch immer wieder auch mal in eine Frau verliebe? Wie soll ich damit umgehen? Oder wir treffen auf mehr heterosexuell als homosexuell empfindende, die sich aufgrund eines Überhangs an Heterosexualität verheiratet haben, nun aber mit ihrer homosexuellen Sehnsucht konfrontiert werden – und das vielleicht als Familienvater. Oder wir treffen auf junge Menschen, die einige Zeit homosexuell gelebt haben. Und dies nicht, weil sie im Kern so empfunden hätten, sondern weil es einfacher war, an einen gleichgeschlechtlichen als an einen gegengeschlechtlichen Partner zu kommen. Nun haben sie sich aber heterosexuell verliebt und wollen Abschied nehmen von dem schnellen Sex, den sie auf der gleichgeschlechtlichen Seite konsumiert haben, merken aber, dass sie wie in einer Sucht gefangen sind.
Allein schon diese hier nur angedeuteten Fälle machen deutlich: Es gibt viele Anlässe, warum Menschen mit einer homosexuellen Orientierung eine Not oder einen Konflikt empfinden können. Die Moral als Konflikt spielt dabei meist sogar eine untergeordnete Rolle. – Daraus folgt für die pastorale Arbeit die Forderung, dass man aufhören sollte, einfach immer nur von der „Homosexualität“ zu sprechen – ganz so, als ob damit nur ein Typ Mensch gemeint wäre, nämlich der, der sich in einer monogamen homosexuellen Beziehung verwirklichen will, und dessen einzige seelsorgerliche Anforderung die Anerkennung und kirchliche Segnung seiner Partnerschaft wäre. Vielmehr sollte man endlich damit beginnen, wirklich dem einzelnen Menschen zu begegnen, der mit seinen bisexuellen, homosexuellen Empfindungen etc. auf einen zukommt. Es geht hier um eine wirkliche Begegnung, in der man nicht unter Begriffen die Individualität des Menschen begraben sollte.
Zuerst Christsein!
Wie gesagt, die erste Erkenntnis im pastoralen Zugehen auf Menschen, die einen Konflikt in Bezug auf ihre nicht-heterosexuelle Orientierung empfinden, ist, dass man den Mut haben muss, der individuellen Not dieser Menschen zu begegnen. – Die zweite Erkenntnis sollte dann aber bereits über die Not hinausgehen und das eigentliche Ziel der Seelsorge in den Blick nehmen: Menschen zu Jüngern zu machen! Scheint dieses Ziel zunächst jedem Seelsorger klar, so wird es meist dann verunklart, wenn man Menschen begegnet, die mit ihrer Homosexualität oder Bisexualität etc. in einem Konflikt stehen. Denn diese Menschen definieren ihr Christsein weniger von der Christus-Nachfolge her, sondern vielmehr aus der Perspektive ihrer Sexualität. Das liegt zum Teil an der schwierigen Geschichte, die die katholische Kirche mit Sexualität hat, dann aber auch mit der Betonung der Enthaltsamkeit bei Homosexualität, die der Katholische Katechismus fordert. Daraus folgt für viele Betroffene: Will ich ein guter Christ sein, dann muss ich meine ganze Sexualität unterdrücken und am besten sollte ich gar keine sexuellen Phantasien mehr haben. – Oft führen solche Einstellungen zu Zwängen, Verkrampfungen, zu Depression und Selbstverachtung. So kenne ich viele homosexuelle Christen, die glauben, sie können nur dann vollwertige Christen sein, wenn sich ihre Sexualität entweder verändert oder wenn sie sie völlig unterdrücken. Nicht selten werden solche Menschen dann in die Arme von Scharlatanen, Wunderheilern etc. gedrängt, oder sie werfen Gott vor, sie mit Homosexualität bestraft zu haben, oder ihr Christsein findet vor allem im Beichtstuhl statt, wo sie um ihre Sexualität kreisen und dabei den Blick auf ihr viel größeres Leben als Frau oder als Mann aus dem Blick verlieren.
Pastoral muss es daher gelingen, solche an sich und ihrer Sexualität leidenden Menschen auf die Christusnachfolge zu orientieren. Dabei sollte die Situation der Not und die Zerrissenheit dieser Menschen unbedingt in die Christusnachfolge integriert werden – was theologisch durch den Hinweis auf den am Kreuz erhöhten Christus gelingen kann. Denn dort zeigt sich der Sohn Gottes selbst als einer, der in seiner Existenz zerrissen ist. Damit kommt er unserer unfertigen irdischen Existenz aufs Äußerste nah. In dem er aber nicht in der Selbsterlösung sein Heil sucht, sondern in der Hingabe an den Vater, zeigt er uns den Weg zur Ganzheit des Lebens.
Könnte sich der Mensch, der sich aufgrund eines Konfliktes in seiner Sexualität unfertig und unvollkommen fühlt, auf die Hingabe an den Vater einlassen, dann könnte auch er sein Leben in einer von Gott geschenkten Ganzheit empfangen. Gleichzeitig würde er von der Fokussierung auf das Unvollkommene und Unfertige befreit.
Minderheitenstress, Selbsthass und Verachtung überwinden
Um aber zu einem mit dem gekreuzigten und erhöhten Herrn vereinigten Christsein hindurchzudringen, muss man sich pastoral zunächst dem Selbsthass, der angesammelten Verachtung und dem Minderheitenstress zuwenden, dem alle homosexuellen Menschen ausgesetzt sind. Dazu muss man sich als Seelsorger einen Augenblick in die Situation von Menschen hineinversetzen, die irgendwann in ihrem Leben entdecken, dass sie – ganz ohne eigenes Zutun – homosexuell empfinden. Für beinahe alle Menschen mit solchen Empfindungen beginnt dann eine Geschichte, die kaum einer je gehört hat. Es ist eine Geschichte, die sich jemand, der heterosexuell empfindet, gar nicht vorstellen kann. Denn anders als heterosexuelle Menschen kann sich der homosexuelle nicht einfach in seiner gleichgeschlechtlichen Gruppe outen, ohne sich Befremden, Spott oder Abscheu gegenüber zu sehen. Noch weniger aber kann er sich in einer christlichen Gemeinde outen. Denn dort wird einem vermittelt, dass man Ehebrecher sein kann, Alkoholiker, Dieb, Steuerbetrüger, aber niemals homosexuell. Denn während die anderen Sünder alle umkehren können, hängt am homosexuell empfindenden Menschen das Stigma des Perversen, des Kinderschänders, des „Kotstechers“ (wie auf einer katholischen Seite im Internet in der Vergangenheit zu lesen war). Dies und die Tatsache, dass man eine homosexuelle Orientierung nicht einfach ablegen oder dass man sich nicht umpolen lassen kann, erschwert die Situation von Betroffenen. – So aber zum Schweigen und zur Verzweiflung verurteilt, ist man ständigem Stress ausgesetzt und hat Angst, von irgendjemandem entdeckt oder in seiner Neigung erkannt zu werden.
Pastoral ist es daher wichtig, diesen Stress nicht nur ernst zu nehmen, sondern zu überlegen, wie man Menschen von diesem Stress befreien kann. Dazu kann eine doppelte Handlungsrichtung helfen. Auf der einen Seite muss den betroffenen Menschen vermittelt werden, dass sie sich nicht länger über die Fokussierung auf ihre sexuelle Orientierung definieren sollten. Gleichzeitig muss es aber auch in einer Gemeinde die selbstverständliche Möglichkeit geben, über solche Neigungen zu reden, ohne dass man dafür verurteilt wird. – Ich weiß, dass damit viele Fragen verbunden sind, die hier nicht erörtert werden können. – Letztlich kann aber ein homosexuell empfindender Mensch, der an seiner Orientierung leidet, dieses Leiden nur dann teilweise hinter sich lassen, wenn er in einem Umfeld sozial verankert ist, in dem er nicht ständig Stigmatisierungen, Etikettierungen, Abwertungen etc. ausgesetzt ist.
Der Konflikt mit der Enthaltsamkeit
Um es nochmal zu betonen: In diesem Beitrag spreche ich von homosexuell empfindenden Christen, die an ihrer Homosexualität leiden. Was noch nicht gesagt ist, dass solche Christen, die in der katholischen Kirche leben, sich häufig an das Gebot der Enthaltsamkeit halten wollen. Aber auch das ist schwierig. Denn nun mal haben diese Menschen sexuelle Sehnsüchte, wie viele andere Menschen auch, und zur Enthaltsamkeit fühlen sie sich genauso wenige von ihnen berufen, wie dies bei heterosexuellen Christen der Fall ist. Noch mehr hat gerade der Minderheitenstress bei manchen dazu geführt, dass sie im Verborgenen so viel psychischem Druck ausgesetzt sind, dass ihr einziges Ventil die Sexualität ist. Und selbst, wenn sie keine partnerschaftliche Sexualität suchen, dann spielen Selbstbefriedigung, Pornografie, erotische Filme etc. in ihrem Leben häufig eine Rolle. D. h., vielen Menschen, denen ich begegnet bin, ist Enthaltsamkeit ein schier unerreichbares Ziel. Denn zurückgezogen in ihr Geheimnis, sind diese Menschen schlicht und ergreifend einsam! Sehr einsam! – Und die einzige Berührung, die sie oft kennen, finden sie in der Flucht in Phantasien, in denen sie sich Berührung vorstellen. Das aber schürt in den meisten Betroffenen Selbsthass und Selbstverdammung, weshalb sie glauben, zum Christsein niemals fähig sein zu können. Denn wenn man Christ ist, dann hasst man die Sünde.
Pastoral ist es daher wichtig, auf dieses Ringen mit der Sexualität einzugehen. Vor allem sollte man den Betroffenen die Liebesreue erklären. Denn die meisten praktizieren in ihrem Herzen bereits eine Art Liebesreue, ohne es zu wissen. So erinnere ich mich an einen Mann, der mir erzählte, wie oft er darüber weint, kein echter Christ zu sein. Dabei habe er sofort, nachdem er seine Einsamkeit durch eine sexuelle Handlung erträglicher gemacht hatte, den Wunsch, Jesus mit ganzem Herzen zu lieben. Er aber leidet, weil er durch seine Homosexualität und die damit verbundenen sexuellen Phantasien und Handlungen glaubt, von Jesus abgeschnitten zu sein. – Erst als ich ihn auf die Liebe zu Jesus hinwies, die sich nach einer sexuellen Handlung sofort in ihm einstellt, und ihm die Liebesreue erklärte, atmete er auf und meinte fragend: „In mir ist dann doch etwas Gutes?“ – Gerade wenn das Ziel der Seelsorge in der Jesus-Nachfolge liegen soll, ist es wichtig, mit betroffenen Menschen ihre Sehnsucht nach Gott aufzudecken. Denn nur so wird der sexuellen Handlung das Gift entzogen, das den betroffenen Menschen noch mehr an sich zweifeln lässt. Diese Sehnsucht nach Gott, die ich bei vielen betroffenen Menschen immer wieder entdecke, muss ausgebaut werden, damit das Vertrauen in die eigene Bereitschaft zur Nachfolge aufgebaut und Selbstverdammung zurückgedrängt wird.
Die anvertrauten Pfunde
Menschen, die von einem solch schweren Schicksal betroffen sind, tragen in sich oft einen reichen Schatz. Ihr Kampf mit der Abstinenz, ihr Ringen um Gottes Nähe und ihre Verwundung, die sie durch Stigmatisierung erlitten haben, hat sie oft reifer, einfühlsamer, barmherziger gemacht als viele andere Christen. Bei nicht wenigen habe ich eine solche Barmherzigkeit entdeckt, die sie zu einer besonderen Zuwendung anderen gegenüber befähigt. Bei anderen begegne ich einer Kreativität, die aus der Not geboren wurde. Bei wieder anderen begegne ich einer Tiefe im Verständnis des Evangeliums, die mich staunen lässt.
Diese „anvertrauten Pfunde“ können meist aber erst dann ans Licht gehoben werden, wenn man mit den Betroffenen den Minderheitenstress durchgearbeitet hat, wenn man ihren durch Abwertung und Stigmatisierung verursachten Verletzungen Raum gegeben und sie auf die tiefe Jesus-Sehnsucht hingewiesen hat, die in ihrem Herzen vorhanden ist. Dann aber, wenn die durch Leid, Einsamkeit und Not (u. v. a. m.) geschärften Gaben aufgedeckt und eingeübt werden, entsteht in den Menschen, die ihre nicht-heterosexuelle Orientierung als Konflikt empfinden, langsam der Mut, sich in die Gemeinde als lebendiger Stein in einem Bau einzubringen. Jetzt entsteht ein Bewusstsein dafür, wie der heilige Johannes im Evangelium sagt, von oben geboren zu sein.
Es ist daher pastoral wichtig, neben aller Not, den Fokus der Begleitung langsam auf diese Gaben hinzulenken.
Theologische Ermutigung
Letztlich reichen Gaben aber nicht aus, um den Weg der Enthaltsamkeit zu gehen. Es braucht theologische Ermutigung. In dieser Ermutigung sollten vor allem die Krisen, die ein betroffener Mensch durchleidet, aufgefangen werden: So die Frage der durch das Schicksal aufgenötigten Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit. Dann die Herausforderung der Versuchung durch die Sexualität. Oder das Leiden, dass man sich weniger als Frau oder als Mann fühlt, weil man nicht heterosexuell empfindet oder sein Leben nicht durch Familie, Vaterschaft und Mutterschaft verwirklichen kann.
Ich erinnere mich noch gut, welches Strahlen und welche Hoffnung sich in einer Gruppe von betroffenen Menschen breit machte, als ich erklärte, dass Gott sie nicht aus der Verherrlichung und der Erfüllung seines Willens ausschließt, nur weil sie homosexuell empfinden. Vielmehr seien sie, durch die Art, wie sie ihr Lebensschicksal tragen, mitten hineingestellt in die Verherrlichung und den Lobpreis Gottes. Nicht zuletzt, weil sie durch ihre Enthaltsamkeit Gott in einer Ganzhingabe dienen und damit das Geheimnis der Einheit von Mann und Frau als Ebenbild ehren, das Gott in die Schöpfung gegeben hat.
Andere wurden ermutigt, mit der Versuchbarkeit in ihrer Sexualität entschiedener umzugehen, als ich mit ihnen das Ringen Jesu im Garten Gethsemane betrachtete. Denn so, wie unser Heiland dort mit dem ihm auferlegten Schicksal ringt, so dürfen wir uns in unserem Ringen in dieses Gebet Jesu hineingestellt wissen. Denn wenn wir den Kelch trinken, der mit der homosexuellen Zumutung in unserem Leben verbunden ist, dann vereinen wir uns mit dem Willen Gottes und ringen stellvertretend auch für diejenigen, die über ihre Sexualität immer wieder stolpern und fallen.
Natürlich muss eine solche geistliche Betrachtung immer wieder neu errungen, durchdacht und durchbetet werden. Sie muss auf geistliche Wahrheit hin geprüft werden und muss die Lebensrealität von Betroffenen aufnehmen, anstatt geistlich zu romantisieren. – Ohne theologische Ermutigung aber fehlt das Brot vom Himmel, das wir mehr brauchen als irdische Speise.
Gemeinschaft gegen Einsamkeit
Ich sagte am Anfang: Die Erkenntnisse, die ich hier weitergebe und die einem pastoralen Ansatz den Weg weisen könnten, sind aus einer Arbeit von Betroffenen für Betroffene erwachsen. – Pastorale Begleitung muss aber weiter gehen. Denn so wichtig es ist, dass es Gruppen von Betroffenen gibt, so sehr hat die genannte Arbeit aber auch ihre Grenzen. Denn eine Gemeinschaft von Betroffenen ist nicht die Kirche, und sie kann auch nicht die Gemeinschaft geben, die notwendig ist, um sich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Hier braucht es die Gemeinde. Nicht nur, weil von Homosexualität betroffene Menschen einen Ort brauchen, an dem sie ihre Gaben einbringen. Nein, sie brauchen auch Gemeinschaft, sie brauchen Beziehungen, sie brauchen Liebe, sie brauchen Nähe. Denn das Leben der Enthaltsamkeit ist ja kein selbstgewählter Zölibat. Und selbst zölibatär lebende Christen leben meist in Gemeinschaft.
Es ist daher notwendig, dass man in die pastorale Arbeit auch die Öffnung der Gemeinde für Beziehungen mit einschließt. Diese werden aber nur möglich werden, wenn die Gemeinde all die Punkte mitdenken kann, die ich hier angesprochen habe. So muss die Gemeinde aufhören, homosexuell empfindende Menschen mit Worten wie „pervers“, „Kinderschänder“ oder Schlimmerem zu bedenken. Sie muss den Minderheitenstress verstehen, dem betroffene Menschen ausgesetzt sind. Sie muss den Konflikt mit der Enthaltsamkeit verstehen. Sie muss die betroffenen Menschen in ihren Gaben ermutigen, und sie muss ihnen ein Zuhause und Beziehungen bieten, zu wahrer Liebe und Nähe bereit sein, denn sonst werden Betroffene erneut zur Einsamkeit verurteilt.
Die pastorale Arbeit muss also die Gemeinde mit in die einzelnen Erkenntnisse hineinnehmen, und sie muss das Ziel haben, dass solche Menschen aus der Einsamkeit heraustreten können, um sich als lebendige Glieder in die Gemeinde integriert zu können. – Das ist eine schwere Aufgabe. Denn viele Vorurteile stehen gegen eine Öffnung für Menschen, die mit ihren homosexuellen Gefühlen Konflikte haben.
Konflikte und die Sprache der Sexualität
In diesem Beitrag habe ich jetzt ausschließlich einige Erkenntnisse für die Seelsorge und die Pastoral weitergeben. Geschwiegen habe ich bewusst von den psychologischen Krisen, die gerade solche Menschen empfinden, die ihre sexuelle Orientierung konflikthaft empfinden. Diese Konflikte aber müssen von psychologischen Fachleuten betreut werden und können meist auch dann erst zu Tage treten, wenn pastoral gut durch die anderen Konfliktlagen, vor allem den Minderheitenstress, geführt wurde.
Um sich dann aber den evtl. psychologischen Konflikten zuzuwenden, muss man selbst den Mut haben, sich der Sprache seiner eigenen Sexualität zu stellen. Denn was in einer Sexualität konflikthaft sein könnte, ist nur individuell feststellbar. Wer aber die individuelle Sprache eigener Sexualität nicht versteht, der kann sich dieser vertieften Begleitung kaum verstehend öffnen.
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Beitrag nicht berührt habe, ist die Frage der „Veränderung sexueller Orientierungen“. Ich habe mich bewusst gegen dieses Thema entschieden, auch wenn ich selbst eine solche Veränderung in meinem Leben erfahren habe. – Der Grund für diese Entscheidung ist das Denken, das sich über viele Jahre in die Köpfe von Christen eingebrannt hat. So glauben viele, dass man eine sexuelle Orientierung, vor allem die Homosexualität oder Bisexualität, einfach verändern kann. Das aber ist falsch. Denn selbst wenn angesichts der Tatsache, dass wir solchen Veränderungsgeschichten in der psychologischen Literatur, wie in Zeugnissen von Christen und Nicht-Christen, immer wieder begegnen, so ist bis heute unklar, warum Menschen solche Veränderungen erleben. Liegt es daran, dass es sich dabei um Menschen handelt, deren sexuelle Orientierung von vornherein bereits nach verschiedenen Seiten offen ist? Liegt es daran, dass sich in einzelnen Fällen keine manifeste sexuelle Orientierung im Menschen ausgebildet hat? Oder liegt es etwa an Entwicklungs- oder Lebenslaufthemen, die sich im Leben einiger Menschen mit der Sexualität funktional verwoben haben, wie dies in psychologischen Fallbeschreibungen oft zu lesen ist? – Wir wissen es nicht. Denn Sexualität ist ein komplexes Phänomen, weshalb es eine Gefahr für die psychische Gesundheit eines Menschen darstellt, wenn man ihn – wie in christlichen Kreisen oft geschehen – einem Veränderungsdruck aussetzt.
Pastoral halte ich es für wichtig, sich nicht an Stichworten wie „Veränderung“ auszurichten. Denn Menschen, die leiden, verbeißen sich oft in solchen Worten und lassen sich nicht mehr auf den wirklich wichtigen Weg ein: den Weg zu ihrer Person, den Weg der Integration ihrer Sexualität in den Glauben, den Weg der Jesus-Nachfolge. Im Gegenteil! Viele Betroffene scheren, kaum dass sie das Wort „Veränderung“ aufgeschnappt haben, aus dem pastoralen Weg, der ihr Christsein in ihnen befestigen will, aus und denken ihr Leben nur noch in der Kategorie von Veränderung. Was dann zum Glauben führt, dass man nur ein richtiger Christ sein kann, wenn sich die eigene sexuelle Orientierung verändert hat. – Da man aber niemandem seriös eine Veränderung versprechen kann, führt ein Weg dann mittelfristig nicht nur in die Sackgasse, sondern oft auch in die Depression, an deren Ende dann der Glaube steht, von Gott verworfen zu sein, weil sich nichts verändert.
Ein pastoraler Ansatz sollte dagegen aber immer einen Weg der Hoffnung eröffnen, damit Leben morgen und übermorgen gelingt.
Am Ende
Am Ende soll noch kurz eine direkte Entgegnung auf die Anfrage des Beitrags im Forum vom 6. Mai 2020 stehen. Es gibt in Deutschland sehr wohl Ansätze und Orte für betroffene Menschen, die Redaktion wird entsprechende Anfragen dann gern an mich weiterleiten.

Autor: Siegfried Selcho
Bild: Hieronymus Bosch, Aufstieg der Seligen, (zwischen 1505 und 1515)