Die ersten drei Worte von der Kanzel des Kreuzes waren an die gerichtet, die Gott am meisten liebt: Die Feinde, die Sünder und die Heiligen. Die beiden nächsten, das vierte und das fünfte Wort, enthüllen die Leiden des Gottmenschen am Kreuz. Das vierte Wort offenbart symbolisch die Qualen des Menschen, der von Gott verlassen ist, das fünfte den Schmerz Gottes, der von den Menschen verlassen ist.
Als Unser Herr Sein viertes Wort vom Kreuz sprach, bedeckte Dunkelheit die Erde. Man sagt wohl, daß unser Kummer und unsere Sorgen die Natur nicht berühren. Ein ganzes Volk kann Hungers sterben, aber die Sonne geht auf und spielt über die mit Dürre geschlagenen Felder. Der Bruder mag sich zum Krieg gegen den Bruder erheben, so daß die roten Mohnfelder zu Äckern des Blutes werden; doch der Vogel, den Feuer und Granaten nicht versehren können, singt sein kleines, friedliches Lied. Das Herz mag brechen im Schmerz um den verlorenen Freund. Aber jubelnd spannt sich der Regenbogen über den Himmel, und sein Lächeln steht in grellem Gegensatz zu den Qualen, auf die er strahlt. Doch als Christus gekreuzigt wurde, weigerte die Sonne sich, zu scheinen. Das Licht, das den Tag beherrscht, wurde wahrscheinlich zum letzten Mal in der Geschichte wie eine Kerze ausgelöscht, obwohl es nach jeder menschlichen Berechnung hätte leuchten müssen. Aber die Natur selbst konnte das größte Verbrechen, das der Mensch beging, den Mord am Herrn der Natur, nicht gleichgültig und ohne Empörung geschehen lassen. Wenn Gottes Seele im Dunkel versank, dann verdunkelte sich auch die Sonne, die Er geschaffen hatte.
Wahrhaftig, alles war dunkel! Er hatte Seine Mutter und Seinen geliebtesten Jünger hingegeben und jetzt verließ Ihn scheinbar auch Gott. „Eli, Eli, lamma sabochtani? Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Die Worte, in der geheimnisvollen hebräischen Sprache ausgestoßen, drücken das undurchdringliche und erschreckende Geheimnis aus, daß hier Gott von Gott verlassen ist. Der Sohn ruft Seinen Vater, Gott. Wie ganz anders klingt es nun als das Gebet, das Er einst gelehrt hatte: „Vater Unser, der du bist im Himmel!“ Auf seltsame, geheimnisvolle Weise scheint Seine Menschennatur von Seinem göttlichen Vater getrennt, und doch nicht getrennt, zu sein. Denn wie könnte Er sonst sprechen: „Mein Gott! Mein Gott!“ Doch wie uns das Licht und die Sonne von den Wolken genommen werden kann, die sich vor sie schieben, obwohl die Sonne selbst am Himmel stehen bleibt, so konnte es auch geschehen, daß das Antlitz des Vaters sich in dem entsetzlichen Augenblick, da Er die Sünden der Welt auf Sich nahm, vor Ihm verbarg. Für jeden einzelnen unter uns litt er diese Qual und diese Verlassenheit, damit wir nicht vergessen, wie schrecklich es für den Menschen und seine innerste Wesenheit ist, ohne Gott, des göttlichen Trostes und der göttlichen Heilung beraubt zu sein. Hier vollzog sich der Akt höchster Sühneleistung für drei Menschengruppen: für jene, die Gott aufgeben, für jene, die an der Gegenwart Gottes zweifeln, und für jene, die gleichgültig gegen Gott sind.
Zuerst büßte Er für die Atheisten, dann für alle, die an jenem dunklen Mittag nur halb an Gott glaubten, wie sie auch heute und jetzt im Dunkel der Nacht nur halb an Ihn glauben. Er sühnte für alle, die Gott kennen, aber leben, als hätten sie nie Seinen Namen vernommen, für alle, deren Herz dem Wegsaum gleicht, auf den Gottes Liebe nur fällt, um von der Welt zertreten zu werden. Er erlöste alle, deren Herz wie steiniger Grund ist, auf den Gottes Samen der Liebe fällt, um dort schnellstens wieder zu verdorren; er litt für alle, deren Herz den Dornen ähnelt, auf die sich Gottes Liebe senkt, um von den Sorgen dieser Welt erstickt zu werden. Es war die Sühne für alle, die einmal geglaubt hatten und den Glauben verloren, die einmal Heilige waren und jetzt Sünder sind. Es vollendete sich hier der göttliche Erlösungsakt für jede Wegwendung von Gott, denn in jenem Augenblick, da Gott Ihn scheinbar verließ, erkaufte er für uns die Gnade, daß Gott uns nie vergißt.
Er büßte und sühnte auch für die zweite Gruppe von Menschen, die Gottes Gegenwart leugnen, für die Christen, die nicht mehr streben, wenn sie nicht Gottes Nähe fühlen, für alle, denen Gutsein gleich Wohlbefinden gilt, für alle Skeptiker seit jenem ersten, der die Frage stellte: „Warum hat Gott das befohlen?“ Er machte die quälenden Fragen einer vom Zweifel geplagten Welt gut, die Fragen, die da lauten: „Warum gibt es das Böse? … Warum erhört Gott mein Gebet nicht?“ .. . „Warum nahm mir Gott meine Mutter?“ … „warum?“ … „warum“ … „warum“ … Gott selbst sprach zu Gott dieses »warum“, und sühnte für all diese Fragen.
Und schließlich büßte Er mit Seiner Gottverlassenheit für alle Gleichgültigkeit dieser Welt, die dahinlebt, als habe es nie eine Krippe in Bethlehem oder ein Kreuz auf dem Kalvarienberg gegeben. Er erlöste damit alle, die den Würfelbecher schütteln, während das Drama der Erlösung abrollte, alle, die sich selbst Gott dünken und glauben, über allen Pflichten der Gottesverehrung und Religion, ohne Bindung und ohne Beziehung, zu stehen. Ich bin überzeugt, nach diesen zwanzig Jahrhunderten ist die Gleichgültigkeit der modernen Welt quälender geworden und peinigender als die Schmerzen auf dem Kalvarienberg. Sicher bohrten die Dornenkrone und die Stahlnägel nicht so brennend in das Fleisch Unseres Erlösers wie Ihn unsere moderne Gleichgültigkeit leiden läßt, die Christus zwar nicht verhöhnt, aber auch nicht zu Ihm betet.
Gebet
Jesus! Nun büßt Du für die Zeiten, da wir weder heiß noch kalt sind, weder dem Himmel noch der Erde angehören, denn jetzt leidest Du von beiden, verstoßen von der einen und vom andern verlassen. Weil Du Dich nicht von der sündigen Menschheit lossagen wolltest, verbarg Dein himmlischer Vater Sein Antlitz vor Dir. Weil Du Dich nicht von Deinem himmlischen Vater lossagen wolltest, wandte Dir die sündige Menschheit den Rücken und so bringst Du beide zu einer heiligen Gemeinschaft. Die Menschen können nicht mehr sagen, Gott weiß nichts von der Verlassenheit, die das Herz leidet, denn Du selbst bist verlassen. Die Menschen können nicht mehr klagen, Gott kenne nicht die Wunden eines suchenden, forschenden Herzens, das Gottes Nähe nicht spürt, denn nun ist die wunderbare Gegenwart Gottes scheinbar Dir entrückt. Jesus, jetzt erst begreife ich Schmerz, Verlassenheit und Leid, da ich sehe, daß sogar die Sonne sich verdunkelt hat. Doch warum lerne ich nichts daraus, mein Jesus? Wie Du nicht selbst Dein Kreuz machtest, mache auch ich das meine nicht, sondern nehme willig das auf mich, das Du für mich bereit hältst. Lehre mich, daß alles in der Welt Dein ist außer einem, und das ist mein Wille. Da er mir gehört, ist er die einzige wirkliche und echte Gabe, die ich Dir je schenken kann. Lehre mich sagen: „Nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe, o Herr.“ Gewähre mir die Gnade zu glauben, selbst wenn ich Dich nicht sehe. „Obwohl Du mich schlägst, will ich Dir vertrauen. Sag mir, wie lange, wie lange, o Herr, werde ich Dich noch am Kreuz von Schmerz zerrissen hängen lassen?
„Die Worte, in der geheimnisvollen hebräischen Sprache ausgestoßen, drücken das undurchdringliche und erschrekkende Geheimnis aus, daß hier Gott von Gott verlassen ist. Der Sohn ruft Seinen Vater, Gott.“
„(Er büßte für) … jene, die Gott aufgeben, für jene, die an der Gegenwart Gottes zweifeln, und für jene, die gleichgültig gegen Gott sind.“
Danke an die Redaktion für diese Erinnerung durch Bischof Fulton Sheen!
„Die Menschen können nicht mehr sagen, Gott weiß nichts von der Verlassenheit, die das Herz leidet, denn Du selbst bist verlassen.“
Ja, das ist es!
Man könnte aus dessen Worten fast den umstrittenen Engel aus Fatima hören!
Danke.