von Wolfram Schrems*
Im Anschluß an die Buchbesprechungen Vinzenz von Lérins, Kardinal Louis-Édouard Pie und Kardinal Louis Billot SJ, die alle das Thema Tradition und Entfaltung des Glaubens behandelten, soll hier ein weiterer Klassiker präsentiert werden. Das aus zwei Gründen: Erstens, um noch einmal einzuschärfen, wie widersinnig und destruktiv jede falsch, nämlich modernistisch, verstandene Entwicklungslehre in Theologie und Kirche ist – die heute aber auch in der Hierarchie allgegenwärtig ist. Zweitens, um in Erinnerung zu rufen, daß unsere Zivilisation (noch immer) aus den kirchlichen Wurzeln, d. h. aus der Botschaft Jesu Christi, wie wir sie aus Bibel und kirchlicher Tradition empfangen, lebt. (Ob man nicht-christliche Gebilde auch als „Zivilisation“ bezeichnen kann und soll, ist eine andere Frage.)
Wie nun diese Botschaft durch die Jahrhunderte weitergegeben und entfaltet worden ist, ist Thema eines Traktates des bedeutenden Tiroler Jesuitentheologen Johann Baptist Franzelin (geb. 1816 in Aldein, heutiges Südtirol, gest. 1886 in Rom).
Dieser wurde im vergangenen Jahr erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht.
Autor und Buch – ein praktisch unerreichbares Niveau
Franzelin wurde 1876 vom seligen Papst Pius IX. zum Kardinal ernannt (was dem begeisterten akademischen Lehrer und demütigen Ordensmann zutiefst widerstrebte). Damit wurde er auch in heikle kirchenpolitische Verhandlungen mit dem Deutschen Reich und mit Rußland involviert. Franzelins Wirken war äußerst fruchtbar und trug zur weiteren Ausbildung der „Römischen Schule“ bei (Matthias Josef Scheeben als bedeutendster Schüler Franzelins).
Franzelin war ein innerlicher und asketischer Mensch mit einem Zug ins Skrupulöse. Bei seinem Ableben waren die Zeitgenossen, unter ihnen Papst Leo XIII., überzeugt, einen heiligmäßigen Mann unter sich gehabt zu haben.
Claudia und Peter Barthold, aus dem Schülerkreis des Trierer Theologen und Autors Michael Fiedrowicz, bieten eine umfangreiche Hinführung zum Thema, einschließlich einer Biographie Franzelins und einer theologiegeschichtlichen Einordnung.
Der Traktat selbst besteht aus auf vier Abschnitte aufgeteilte 26 Thesen. In ihnen geht es um eine Begriffsklärung des Begriffs Tradition, deren Verhältnis zur hl. Schrift, die Organe der Tradition bzw. die sichtbare Kirche, die Monumente der Tradition, die private und amtliche Autorität der hl. Väter und die Entfaltung der katholischen Lehre.
Um niemandem falsche Vorstellungen zu machen, sei für die interessierte Leserschaft warnend festgehalten, daß diese Publikation die Fassungskraft auch eines geübten theologischen Lesers, wie es der Rezensent ist, übersteigt. Der Traktat ist so umfangreich, detailliert und schwierig, daß er vermutlich nur von akademisch tätigen Theologen und Historikern wirklich mit Nutzen konsultiert werden kann. Kardinal Franzelin war fraglos ein Spitzentheologe, er galt beispielsweise als Experte für die hebräische Sprache und lehrte auch Syrisch und Chaldäisch. Seine Vorlesungen hielt er in anspruchsvollem Latein. Genauso liest sich der Traktat – überlange Sätze inklusive.
Zu den Fußnoten des Autors kommen die der Herausgeber, sodaß sich auf gut 300 Seiten knapp 900 Fußnoten finden.
Darum erscheint es auch dem Rezensenten so gut wie unmöglich, den Traktat kurz zusammenzufassen.
Im Gegensatz zu dem (kürzeren und besser lesbaren) Traktat von Louis Billot (s. o.) wird sich der Franzelinsche kaum außerhalb eines akademisch tätigen Publikums verbreiten lassen.
Der Verlag hat zweifellos eine sehr gute Entscheidung getroffen, Franzelin auf Deutsch herauszubringen. Es handelt sich aber eben um eine wissenschaftliche Publikation und entsprechend spezifisch wird der Adressatenkreis sein.
Als Kostprobe ein kurzer Blick in den Inhalt des Traktats
Angesichts kirchlicher Verirrungen, die Revolte Martin Luthers im kommenden Jahr feiern zu wollen (wobei sogar schon eine protestantische Stimme Unbehagen an übertriebenen Feiern ihres Gewährsmannes angemeldet hat), seien zunächst diesbezügliche Ausführungen Franzelins erwähnt:
Die Tradition ist der Schrift vorgängig und inhaltlich umfangreicher als diese
Franzelin wendet sich gegen die protestantische Auffassung von der Verwerflichkeit der mündlichen Tradition in der Kirche und von der alleinigen Autorität des Wortlautes der hl. Schrift als vollständiger Offenbarung Christi:
„Doch für einen Auftrag, diese Offenbarung vollständig in Büchern festzuhalten, findet sich weder in den Worten Christi, noch in den Worten der Apostel, noch in der Art und Weise der von ihnen und den übrigen hll. Verfassern ausgeübten Wirk- und Schreibtätigkeit, noch in Charakter, Struktur, Zweck und Anlaß der Bücher, noch in der Glaubensüberzeugung der Christen bis zum 16. Jh. irgendein Hinweis“ (53).
Er schreibt weiter unten,
„daß (…) [die Bibel] durch ihre eigene Natur nicht so beschaffen ist und deshalb auch nicht den Zweck hat, daß die Einzelnen sich unabhängig vom authentischen Lehramt aus ihr den Glauben konstruieren, sondern daß sie dazu da ist, um in der Kirche und unter dem authentischen Lehramt der apostolischen Sukzession als Instrument der Lehre zu dienen“ (205).
Eine sehr wichtige Einsicht ist, daß sich die Häresien letztlich immer gegen die hl. Schrift richten. Das ist zwar im Fall Luthers, der sich ja auf die Bibel berief, auf den ersten Blick paradox. Bei genauerem Hinschauen wird aber klar, daß er die Bibel rabulistisch interpretiert und mit ideologischer Voreingenommenheit übersetzt hat.
Zudem findet sich das Sola-Scriptura-Prinzip in der Bibel einfach nicht:
„Man kann (…) immer einen Nachweis dafür erbringen, daß sich die Neuerungen der Häretiker nicht in der Schrift finden; dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, daß Irrtümer gegen den Glauben nicht im Wort des Glaubens enthalten sind“ (205).
Sehr wichtig ist, daß „Tradition“, katholisch verstanden, keine Geheimtradition sondern eine öffentliche und grundsätzlich von jedermann einsehbare Tradition meint:
„[Der hl. Irenäus von Lyon] stimmt mit den Gnostikern im gemeinsamen Prinzip überein, daß es außer der Schrift auch eine Tradition gibt, die von Christen und den Aposteln empfangen wurde. Aber die Häretiker vertraten die Auffassung von einer geheimen Tradition, die nur auf die Gnostiker durch Abfolge der Generationen übergegangen sei. Irenäus dagegen zeigt auf, daß es in der Gesamtkirche eine öffentliche Tradition gibt und daß ihr Organ die Sukzession der Bischöfe von den Aposteln ab darstellt, wodurch die Integrität der Lehre stetswährend bewahrt wird“ (60).
Das „Tausendjährige Reich“
Äußerst interessant sind die Ausführungen des Autors über das „Tausendjährige Reich“ (nach Offb 20, 4). Franzelin führt mit exzellenter Quellenkenntnis aus, daß sich die Lehre vom „Millennium“, also dem Tausendjähriges Reich Christi vor dem Weltgericht im buchstäblichen und physischen Wortsinn, nicht behaupten konnte.
Obwohl der „Chiliasmus“ von einigen Kirchenschriftstellern vor dem Konzil von Nizäa (325) vertreten wurde, wurde er von einigen ihrer Zeitgenossen und vor allem von den Späteren als nicht apostolisch und nicht traditionsgemäß verworfen. Franzelin verweist – nach langen und komplizierten Ausführungen – für eine katholische Interpretation von Offb 20 etwa auf Augustinus, De civ. Dei, 20, 7ff u. a. (181)
Der volle Sinn dieser Stellen sei uns eben noch unbekannt (180).
„Privatoffenbarungen“
Schließlich beschäftigt er sich mit der Frage von „Privatoffenbarungen“, die er genau untersucht. Er steht – auch mit Blick auf seinen Ordensvater Ignatius und dessen Privatoffenbarungen (247) – diesen positiv gegenüber, allerdings ist bedauerlich, daß er keine konkreten Beispiele bringt.
Da zu seinen Lebzeiten Rue du Bac und Lourdes besonders bekannt geworden sind, wird er vermutlich diese Ereignisse im Hinterkopf gehabt haben, wenn er schreibt:
„Wenn eine derartige Anerkennung [von Privatoffenbarungen] seitens der Kirche erfolgt ist, oder wenn auch ohne bisheriges Vorliegen eines Urteils triftige Gründe existieren, die für eine Echtheit sprechen, so ist es sicher nicht rechtens, derartige Offenbarungen zu verachten“ (248).
Resümee
Es ist zu wünschen, daß Hierarchie und akademische Theologie das Erbe Franzelins wieder aufgreifen und die modernistischen Irrwege beenden. Möge das Buch daher besonders bei den „Hirten und Lehrern“ (Eph 4, 11) weite Verbreitung finden.
Möge der Jesuitenorden ein Seligsprechungsverfahren für ihren Mitbruder Johann Baptist Franzelin einleiten, das kurz nach seinem Tod schon angedacht wurde. Auch die Bischöfe von Bozen-Brixen und Trient sollten hier ihr Interesse zeigen.
Dank und Anerkennung einem Großen der Theologie. Dank und Anerkennung dem Verlag, der ihn dem Vergessen entreißt.
A. M. D. G.
Johann Baptist Franzelin, Traktat über die göttliche Tradition, eingeleitet und übersetzt von Claudia und Peter Barthold, Carthusianus-Verlag, Fohren-Linden 2015, 304 S.; www.carthusianus.de
*MMag. Wolfram Schrems, katholischer Theologe und Philosoph, Katechist, reiche Erfahrung im interkonfessionellen Austausch
Bild: Footage/Carthusianus-Verlag/Dorfmuseum Aldein (Screenshots)