Von Wolfram Schrems*
Nach der französischen Übersetzung von Roberto de Matteis Apologia della Tradizione (2011) (Katholisches.info berichtete im September 2015) erschien nun die lange erwartete deutsche Version. Sie wurde vom Sankt-Grignion-Verlag (Altötting) auf den Markt gebracht. Dem aufmerksamen Leser von Katholisches.info werden die entsprechenden Werbeeinschaltungen bereits aufgefallen sein.
Der tradierte Glaube – unveränderliche Richtschnur für Hierarchie und Gläubige
Dieser Traktat eines großen katholischen Intellektuellen unserer Tage, geboren 1948 in Rom, ist als „Postskriptum“ zu dessen preisgekröntem Werk Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte (Turin 2010, deutsch 2011 bei Sarto) konzipiert. Er ist eine historische und theologische Fundierung für die kritische Analyse der ideologischen Weichenstellungen am jüngsten Konzil.
Die Hauptaussage de Matteis ist, daß der Glaube der Kirche, also die „Tradition“, ein für allemal festgelegt ist: Die Glaubensinhalte unterliegen keinen Veränderungen, werden im Lauf der Geschichte aber unter dem Beistand des Heiligen Geistes besser verstanden und sprachlich präziser gefaßt. Das Lehramt der Kirche ist daher keine zusätzliche Glaubensquelle. Papst, Bischöfe und Konzilien sind an das gebunden, was im Glaubensgut ausgesagt ist. Krisen in der Geschichte der Kirche wurden nur durch den Rückgriff auf die Tradition gemeistert.
Nun hat sich durch das II. Vatikanische Konzil ein neuer und unbekannter Geist in der Kirche breitgemacht, ein Übergang „vom Expliziten zum Impliziten, vom Bestimmten zum Unbestimmten, vom Klaren zum Verworrenen“ (166). Dieser stark suggestive Geist verlangt apodiktisch, das Konzil als neue und maßgebliche Glaubensquelle anzuerkennen, ist also de facto ein Bruch mit der Tradition (vgl. 170).
Papst Benedikt XVI. „schlug […] die Verwendung der Methode der ‚Hermeneutik der Kontinuität‘ vor, die der Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches entgegengesetzt ist. Dadurch hat [er] das Zweite Vatikanische Konzil sowohl zur theologischen Reflexion als auch zur historischen Erörterung freigegeben“ (15).
Wie wir wissen, wurde die „Hermeneutik der Kontinuität“ jedoch niemals kirchenoffiziell an den Texten des II. Vaticanums durchgeführt. Die „Konformität mit der Tradition“ wurde nicht aufgezeigt, sondern nur behauptet (166). Das Konzil blieb unangetastet, mit ihm blieb die Verwirrung.
Mit Papst Franziskus ist sie gewissermaßen zum Leitmotiv des Papsttums geworden.
Unter den neuen Umständen erweist sich das vorliegende Werk als noch wichtiger als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung.
Es legt dar, wie sehr der Glaube der Gesamtkirche, der als „Tradition“ von den Aposteln auf uns kam, und der sich im Laufe der Jahrhunderte entfaltete und in bestimmten Formen ausprägte, Grundlage jeden kirchlichen Lehramtes ist. Kein Bischof und kein Papst und keine Kirchenversammlung sind befugt, im Namen eines sogenannten „lebendigen Lehramtes“ diese „Tradition“ zu ändern oder zu relativieren.
Damit wird das Buch zur profunden Kritik am Zweiten Vatikanischen Konzil.
Die Kirchen- und Papstgeschichte als Beweis für die Kraft des überlieferten Glaubens
Der erste, historische Teil des Traktats („Die streitende Kirche in den schwierigsten Stunden ihrer Geschichte“) zeigt anhand schwerer Krisen in der Kirchengeschichte (Arianische Krise im 4. Jahrhundert, Exil von Avignon und Großes Abendländisches Schisma, „Reformation“ im 16. Jahrhundert) auf, wie jeweils die Rückkehr zum überlieferten Glauben die Kirche rettete. Die Krisen bzw. Apostasien waren immer mit einem Versagen des Papstes in doktrinärer und disziplinärer Hinsicht verbunden. Die Initiative zur Behebung der Krise ging jeweils besonders von den Laien aus. Diese empfanden z. B. die Definition des Konzils von Nizäa (325) von der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater nicht als „Neuerung“ sondern als begriffliche Entfaltung der Offenbarung und daher des immer Geglaubten. Auch das Tridentinum brachte nichts „Neues“, sondern verteidigte und präzisierte den überlieferten Glauben gegen die Angriffe der irrigerweise so genannten „Reformatoren“.
Der zweite, systematische Teil („Die regula fidei der Kirche in den Epochen der Glaubenskrisen“) entfaltet die Lehre von der Tradition und ihr Verhältnis zum Lehramt. Ansatzpunkt ist die Lehre der „Theologischen Orte“ (loci theologici) des Dominikanertheologen Melchior Cano (1509 – 1560).
De Mattei erinnert daran, daß nicht alle Päpste Vorbilder waren. Gerade in unserer heutigen Zeit, die einem in der Kirche bislang unbekannten und oft ganz grotesken Papalismus huldigt, muß etwa das Wesen des Konklaves richtig verstanden werden:
Im Zusammenhang mit Papst Clemens XIV., der nach Ludwig von Pastor „einer der schwächsten und unglücklichsten in der langen Reihe der Päpste“ war (84), fragt de Mattei:
„Sollte der Heilige Geist in diesem oder in anderen Konklaven etwa der Kirche nicht beigestanden sein? Der Beistand durch den Heiligen Geist bedeutet nicht, dass die Wahl des Papstes ‚unfehlbar‘ ist, wie er auch nicht bedeutet, dass im Konklave notwendiger Weise der beste Kandidat gewählt wird. Wenn die Wahl gültig ist, bleibt nach Kardinal Journet die Gewissheit, dass selbst eine Wahl, die auf Intrigen und schlechte Entscheidungen zurückzuführen ist, vom Heiligen Geist um höherer und mysteriöser Ziele willen zugelassen wird. Er hilft der Kirche und wendet das Böse zum Guten“ (85).
So wird es wohl sein.
Gehorsam der Gläubigen in doktrinären Fragen und Widerstand
Der Glaubenssinn der Gläubigen wurde durch die konziliaren Neuerungen von der kirchlichen Obrigkeit selbst massiv verletzt. Dennoch fügten sich viele in als „Reformen“ verkaufte Revolutionen (oder wandten sich ab). „Mechanisch“ und „passiv“ den Hirten zu gehorchen ist aber nicht die Aufgabe der Gläubigen (124).
Die Hirten müssen sich ihrerseits selbstverständlich im Rahmen des Glaubens bewegen:
„Die Tatsache, dass die Kirche die Tradition weitergibt, bedeutet nicht, dass sie sie bis hin zur Leugnung oder zum Widerspruch ‚interpretieren‘ könnte“ (130).
Alleine schon das heutzutage so exorbitante Interesse an „Interpretation“ müßte ein Alarmsignal sein. „In claris non fit interpretatio“ (168): Und der Glaube der Kirche ist ja an sich klar. Daß man dagegen die Konzilstexte schon seit fünfzig Jahren „interpretieren“ muß, zeigt deren verwirrende Vieldeutigkeit an.
Für die Aufgabe der Gläubigen bedeutet das alles:
„[Es] kann der sensus fidei in Ausnahmefällen die Gläubigen dazu bewegen, ihre Zustimmung zu einigen kirchlichen Dokumenten zu verweigern und sich gegenüber den höchsten Autoritäten sogar in eine Situation des Widerstandes oder des scheinbaren Ungehorsams zu bringen. Der Ungehorsam ist nur scheinbar, weil in diesen Fällen des legitimen Widerstandes das Prinzip gilt, nach dem man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (Apg 5,29)“ (148).
In Zeiten von Amoris laetitia ist das schon fast eine Platitüde.
Das II. Vaticanum und die Tradition
De Mattei legt den Finger in die Wunde: Das als reines „Pastoralkonzil“ konzipierte II. Vaticanum kann nicht gleichzeitig das Interpretationskriterium der Tradition sein (154).
Folgende Frage stellt sich immer drängender: Ist das II. Vaticanum im Licht der Tradition zu lesen oder – wie man seit Jahren den Eindruck hat – die Tradition im Licht des II. Vaticanums (170)?
De Mattei zur Frage der Priorität:
„Die Überlegenheit des Konzils – irgendeines Konzils – über die Tradition zu behaupten, entbehrt des logischen Sinnes, noch bevor es des theologischen Sinnes entbehrt. Kein Konzil, auch nicht das Tridentinum oder das Erste Vatikanische Konzil, steht über der Tradition. Die Tradition ist in ihrer Gesamtheit anzunehmen“ (157).
Appell an den damaligen Papst Benedikt XVI.
De Mattei greift das berühmte Wort von Papst Benedikt von den „Wölfen“ auf, das er anläßlich seiner Wahl geäußert hat:
„Als einfache Gläubige, die wir Glieder des Mystischen Leibes sind, wenden wir uns an den heute regierenden Hirten der Hirten, um ihn zu bitten ‚nicht vor den Wölfen zu fliehen‘ und uns im Glauben zu stärken und dadurch seine Sendung zu erfüllen“ (175).
Diese Bitte, im Jahr 2011 geäußert, wurde bekanntlich nicht erhört. Allerdings wird sich Papst emeritus Benedikt XVI. daran noch gut erinnern.
Zwischenzeitlich trat – zumindest vorläufig – mehr oder weniger ein, was de Mattei in ominösen Worten als dramatische Möglichkeit in Aussicht stellte:
„Würde auch der Stellvertreter Christi schweigen, so würde doch der Heilige Geist niemals aufhören – auch nicht für einen Moment – seiner Kirche beizustehen, in der auch in den Zeiten des Glaubensabfalls ein Teil der Hirten und der Gläubigen, und sei er auch verschwindend klein, immer die Bewahrung und Weitergabe der Tradition fortsetzen wird. Ihr Vorbild ist dabei die Allerseligste Jungfrau Maria, die am Sabbat, der der Auferstehung vorausging, als einzige am Glauben festhielt“ (175f).
Resümierende Bewertung
Der historische Teil ist spannend und lebendig geschrieben. De Mattei stellt das phasenweise Versagen der Päpste und deren Korrektur durch das Glaubensgut an sich, also die „Tradition“, plastisch dar. Der systematische Teil fordert naturgemäß mehr Aufnahmefähigkeit für grundsätzliche, theoretische Abhandlungen.
Beide Teile des Traktates sind profund aber nicht uferlos. Hier ist ein gutes Maß gefunden worden. De Mattei zog hervorragende Autoritäten heran, blieb darin aber ebenfalls maßvoll.
Aus der Sicht des Rezensenten ist es allerdings bedauerlich, daß der berühmte und hier einschlägige Traktat des seligen John Henry Newman Development of Christian Doctrine (1845, revidiert 1878), der viele Konversionen auslöste, nicht eingearbeitet wurde.
Erfreulich ist, daß Büchner-Preisträger Martin Mosebach (bekannt für Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, 2003 und erweiterte Auflagen) für die Verfassung eines Vorwortes gewonnen werden konnte.
Der Verleger hat mit diesem Werk sein Verlagsprogramm entscheidend bereichert. Es ist ihm auch eine optisch sehr qualitätsvolle Ausgabe gelungen (Umschlaggestaltung, Satz, Typen). Von daher gebührt den für die Gestaltung Verantwortlichen Lob und Anerkennung.
Die von de Mattei zitierten Stellen deutscher Autoren (Kardinal Josef Hergenröther, Matthias Joseph Scheeben, Ludwig von Pastor) wurden nicht rückübersetzt, sondern aus dem jeweiligen Original herausgesucht. Dabei wurden auch fehlerhafte Angaben, die im italienischen Original vorkommen (etwa zwei oder drei) stillschweigend ausgebessert. Für die Durchführung dieser mühsamen Aufgabe gebührt allen, die dabei mitgeholfen haben, Dank und Anerkennung.
Dasselbe gilt für alle anderen, die die Entstehung des Buches angeregt, ermöglicht und durchgeführt haben.
Postskriptum zur Übersetzung
Da der Rezensent gleichzeitig der Übersetzer des vorliegenden Traktates ist, noch eine autobiographische Bemerkung zur deutschen Version:
Als ich im Frühjahr 2012 das vorliegende Buch zum ersten Mal in die Hand bekam, hatte ich wenige Wochen zuvor Das Zweite Vatikanische Konzil – Eine bislang ungeschriebene Geschichte in einem Vortrag in Wien einem für die Umstände unüblich großen Publikum von etwa hundert Personen vorgestellt. Ganz offenkundig artikulierten Vortrag und Buch ein Unbehagen im gläubigen Volk. Es überrascht nicht, daß sich das Buch im Anschluß an das Referat gut verkaufte.
Danach wurde mir vorgeschlagen, das gegenständliche, damals neu erschienene Buch zu lesen. Aufgrund (widriger) äußerer Umstände hatte ich überraschend etwa drei Monate Zeit, auch gleich eine Übersetzung anzufertigen. Im Rückblick wird man hier das Walten der Vorsehung erkennen können.
Ein erster, 2013 hergestellter, Verlagskontakt brachte kein konkretes Ergebnis, danach lag das Projekt brach. Wiederum griff die Vorsehung ein, die in Form eines aufmerksamen Seminaristen den Kontakt zum neu übernommenen Sankt-Grignion-Verlag herstellte. Auch dort stieß die Veröffentlichung zunächst auf überraschende Hindernisse.
Das providentiell späte Erscheinen der deutschen Version hat nunmehr den Vorteil, daß ein Pontifikat, das die Zerstörung der Tradition ins Extreme treibt, die Grundaussage des Buches umso drastischer unterstreicht: Jedes Abweichen der Hierarchie vom überlieferten Glauben, schon jede Zweideutigkeit in der Verkündigung, führt die Gläubigen in die Irre und schädigt die Kirche. Die politische Implikation dieses Abfalls ist die Machtübernahme der „Welt“, die bekanntermaßen unter der Macht des Bösen steht (1 Joh 5,19). Das alles ist derzeit deutlich sichtbar.
Leider ist die deutsche Version nicht vollständig geglückt. Dem Lektorat sind einige Verschreibungen und etliche Interpunktionsfehler entgangen. Der Übersetzer muß zugeben, daß manche Formulierungen holprig sind bzw. zu sehr nach Übersetzung klingen. Ein Grammatikfehler ist auch dabei (65). Insofern ist das Übersetzerdebüt nicht meisterlich ausgefallen.
Der Verlag entschloß sich, die Anmerkungen des Übersetzers (mit besonderen Erklärungen für den deutschsprachigen und nicht akademisch theologisch ausgebildeten Leser) zu streichen. Das liegt natürlich in seinem Ermessensspielraum, aber vermutlich wären manche Anmerkungen für den Leser hilfreich gewesen.
Das ist alles für unsere Zeit sinnbildlich: Ein hervorragender katholischer Intellektueller als Autor, der im deutschen Sprachraum von den Hauptstromtheologen und ‑verlagen ignoriert wird. Ein kleiner bayerischer Verlag in der Provinz, der aus Verantwortung gegenüber dem Glauben das Risiko einer deutschen Ausgabe eingeht. Und ein Amateurübersetzer, der nur zufällig zu diesem Projekt dazukam. Das sind also die berühmten „Ränder“.
Wie auch immer: Dem Buch ist große Verbreitung zu wünschen. Es wird zur Entwirrung der verworrenen Situation maßgeblich beitragen können.
Audiant pastores.
Roberto de Mattei, Verteidigung der Tradition – Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Grignion-Verlag, Altötting, 2017; 192 S. (Original: Apologia della Tradizione. Poscritto a Il Concilio Vaticano II. Una storia mai scritta, Lindau s.r.l, Turin 2011)
*MMag. Wolfram Schrems, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist
Bild: Corrispondenza Romana
Die große Demut ehrt den Autor.
Er sollte jedoch die Worte des Hl. Giovanni Don Bosco in Erinnerung haben:
„Tut was Ihr könnt; Gott wird das tun, was Ihr nicht könnt.“
Und die 5. und letzte Strophe des Kirchenlieds „Wer nur den lieben Gott läßt walten“:
„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
Verricht das Deine nur getreu
Und trau des Himmels reichen Segen,
so wird Er bei dir werden neu.
Denn welcher seine Zuversicht
auf Gott setzt, den verläßt Er nicht“.
In Gottes Nahmen! Vorwärts!
Vor Kurzem ist mir aufgegangen, daß „die Schrift“, also das Evangelium nur ein Teil der Überlieferung, bzw. der Tradition ist.
Dazu gibt es sogar einen Satz im Evangelium, etwa so: Wenn alles aufgeschrieben worden wäre, dann …
Bei der Predigt des Apostels Petrus an Pfingsten war kein Notar, kein Urkundsbeamter dabei, aber viele Menschen mit nicht zugemüllten Köpfen. Die haben bedacht und aufgeschrieben; Lukas hat gesammelt und dann geschrieben. So kam es zur Schrift. Matthäus als Augenzeuge soll bei einem anderen abgeschrieben haben?