De Mattei: Die „arme Kirche“ vom Zweiten Vaticanum bis Papst Franziskus


Domitilla-Katakomben: HIer wurde 1965 der "Katakombenpakt" unterzeichnet
Domitilla-Katakomben: HIer wurde 1965 der "Katakombenpakt" unterzeichnet

von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Die Doku­men­te von Papst Fran­zis­kus sind, nach dem vor­herr­schen­den Urteil der Theo­lo­gen, all­ge­mei­ne Hin­wei­se pasto­ra­len und mora­li­schen Cha­rak­ters ohne signi­fi­kan­te lehr­amt­li­che Qua­li­tät. Das ist ein Grund, wes­halb die­se Doku­men­te auf freie­re Wei­se dis­ku­tiert wer­den, als es bis­her bei päpst­li­chen Tex­ten gesche­hen ist. Zu den gründ­lich­sten Ana­ly­sen die­ser Tex­te gehört die Stu­die eines Phi­lo­so­phen der Uni­ver­si­tät Peru­gia, Fla­vio Cuni­ber­to, mit dem Titel Madon­na Pover­tà . Papa Fran­ces­co e la rif­on­da­zio­ne del cri­stia­ne­si­mo (Madon­na Armut. Papst Fran­zis­kus und die Neu­grün­dung des Chri­sten­tums), erschie­nen im Ver­lag Neri Poz­za (Vicen­za 2016). Die Stu­die ist beson­ders den Apo­sto­li­schen Schrei­ben Evan­ge­lii gau­di­um (2013) und Lau­da­to si (2015) gewid­met. Die Prü­fung, der Prof. Cuni­ber­to die Tex­te unter­zieht, ist die eines Gelehr­ten, der die zugrun­de­lie­gen­de The­se zu ver­ste­hen ver­sucht, die häu­fig hin­ter einer gewollt zwei­deu­ti­gen und ellip­ti­schen Spra­che ver­steckt ist. Zum The­ma Armut bringt Cuni­ber­to zwei Wider­sprü­che ans Licht: der erste Wider­spruch ist theo­lo­gisch-dok­tri­nä­rer, der zwei­te prak­ti­scher Natur.

Was den ersten Punkt betrifft, so weist er dar­auf hin, daß Papst Fran­zis­kus, im Gegen­satz zu dem, was man aus dem Evan­ge­li­um fol­gert, aus der Armut einen mehr mate­ri­el­len als spi­ri­tu­el­len Zustand macht, um ihn in eine sozio­lo­gi­sche Kate­go­rie zu ver­wan­deln. Die­se Exege­se schim­mert bei­spiels­wei­se in der Ent­schei­dung durch, für die Rede über die Selig­prei­sun­gen Lukas 6,20 zu zitie­ren, und nicht den prä­zi­se­ren Mat­thä­us 5,3 (der den Begriff pau­pe­res spi­ri­tu gebraucht, jene, die demü­tig vor Gott leben). Die Armut scheint gleich­zei­tig ein Übel und ein Wohl zu sein. Cuni­ber­to schreibt dazu:

„Wenn die Armut als mate­ri­el­les Elend, Aus­schluß, Ver­nach­läs­si­gung von Anfang als zu bekämp­fen­des Übel, um nicht zu sagen, als das Übel aller Übel bezeich­net wird und daher das vor­ran­gi­ge Ziel des mis­sio­na­ri­schen Han­delns ist“, macht die neue chri­sto­lo­gi­sche Bedeu­tung, die ihr Fran­zis­kus zuweist, „zugleich einen Wert, viel­mehr einen höch­sten und exem­pla­ri­schen Wert daraus.“

Es han­delt sich, wie der Phi­lo­soph aus Peru­gia betont, um ein kom­pli­zier­tes Gewirr.

„War­um die Armut bekämp­fen und aus­rot­ten, wenn sie umge­kehrt ein ‘kost­ba­rer Schatz’ und sogar der Weg ins Reich ist? Zu bekämp­fen­der Feind oder kost­ba­rer Schatz?“ (S. 25f).

Luigi Bettazzi beim Konzil (links Erzbischof Heenan von Westminster)
Lui­gi Bet­taz­zi beim Kon­zil (links Erz­bi­schof Heen­an von Westminster)

Der zwei­te Kno­ten betrifft die „struk­tu­rel­len Ursa­chen“ der Armut. In der Annah­me, es han­delt sich um ein radi­ka­les Übel, scheint Papst Berg­o­glio die ent­schei­den­de Ursa­che in der „Ungleich­heit“ zu sehen. Die von ihm auf­ge­zeig­te Lösung, um die­ses Übel aus­zu­rot­ten, sei die mar­xi­sti­sche und Drit­te-Welt-Lösung der Umver­tei­lung der Reich­tü­mer: den Rei­chen weg­neh­men und den Armen geben. Eine glei­che Neu­ver­tei­lung, die durch eine grö­ße­re Glo­ba­li­sie­rung der Res­sour­cen erfol­gen sol­le, die nicht mehr nur west­li­chen Min­der­hei­ten vor­be­hal­ten sein soll­ten, son­dern der gan­zen Welt. Die Grund­la­ge der Glo­ba­li­sie­rung bil­det jedoch die Logik des Pro­fits, die einer­seits kri­ti­siert, aber ande­rer­seits als Weg zur Besie­gung der Armut vor­ge­schla­gen wird. Der Super­ka­pi­ta­lis­mus braucht eine immer grö­ße­re Men­ge an Kon­su­men­ten, doch die Aus­wei­tung des Wohl­stan­des im gro­ßen Maß­stab nährt in Wirk­lich­keit die Ungleich­hei­ten, die man vor­gibt, besei­ti­gen zu wollen.

Das Buch von Prof. Cuni­ber­to ver­dient es zusam­men mit dem eines nea­po­li­ta­ni­schen Gelehr­ten gele­sen zu wer­den, dem Buch Pover­tà  e ric­chez­za. Ese­ge­si dei testi evan­ge­li­ci (Armut und Reich­tum. Exege­se der evan­ge­li­schen Tex­te) von Don Benia­mi­no Di Mar­ti­no, erschie­nen im Ver­lag Editri­ce Domi­ni­ca­na Ita­lia­na (Nea­pel 2013). Das Buch ist sehr tech­nisch. Don Di Mar­ti­no zer­pflückt durch eine rigo­ro­se Text­ana­ly­se die The­sen einer gewis­sen pau­pe­ri­sti­schen Theo­lo­gie. Die Aus­sa­ge „Gegen den Geiz, nicht gegen den Reich­tum“ faßt, laut Autor, die Leh­re der Evan­ge­li­en zusam­men, die er analysiert.

Woher rührt aber die theo­lo­gi­sche, exege­ti­sche und mora­li­sche Ver­wir­rung zwi­schen spi­ri­tu­el­ler Armut und mate­ri­el­ler Armut?

In die­sem Zusam­men­hang kann der soge­nann­te „Kata­kom­ben­pakt“ nicht über­gan­gen wer­den, der am 16. Novem­ber 1965 in den Domi­til­la-Kata­kom­ben von Rom von rund 40 Kon­zils­vä­tern unter­zeich­net wur­de, die sich dar­in ver­pflich­te­ten, für eine „arme und glei­che“ Kir­che zu leben und zu kämpfen.

Zu den Grün­dern der Grup­pe gehör­te der Prie­ster Paul Gaut­hi­er (1914–2002), der die Erfah­rung als „Arbei­ter­prie­ster“ von Kar­di­nal Emma­nu­el Suhard gemacht hat­te, die vom Hei­li­gen Stuhl 1953 ver­ur­teilt wor­den war. Dann grün­de­te er 1958 mit Unter­stüt­zung von Bischof Geor­ges Hakim, des­sen Kon­zils­theo­lo­ge er war, in Palä­sti­na die reli­giö­se Gemein­schaft der Les com­pa­gnons et com­pa­gnes de Jésus Char­pen­tier (Gefähr­ten und Gefähr­tin­nen von Jesus Zim­mer­mann). Gaut­hi­er wur­de von sei­ner Kampf­ge­fähr­tin Marie-Thérà¨se Laca­ze beglei­tet, mit der zusam­men­leb­te, nach­dem er sein Prie­ster­tum auf­ge­ge­ben hatte.

KP-Chef Enrico Berlinguer
KP-Chef Enri­co Berlinguer

Zu den Unter­stüt­zern der Bewe­gung gehör­ten Msgr. Charles-Marie Him­mer, der Bischof von Tour­nai (Hen­ne­gau, Bel­gi­en), der die Tref­fen im Bel­gi­schen Kol­leg in Rom durch­füh­ren ließ, Dom Hel­der Cama­ra, der damals noch Weih­bi­schof von Rio de Janei­ro war und dann Bischof von Reci­fe wur­de, und Kar­di­nal Pierre-Marie Ger­lier, der Erz­bi­schof von Lyon. Zudem bestand ein enger Kon­takt mit Kar­di­nal Gia­co­mo Ler­ca­ro, dem Erz­bi­schof von Bolo­gna, der sich von sei­nem Bera­ter Giu­sep­pe Dos­set­ti und sei­nem Weih­bi­schof Lui­gi Bet­taz­zi ver­tre­ten ließ. Mehr dazu fin­det sich in Il pat­to del­le Cat­a­com­be. La mis­sio­ne dei poveri nella Chie­sa (Der Kata­kom­ben-Pakt. Die Auf­ga­be der Armen in der Kir­che), her­aus­ge­ge­ben von Xabier Piza­ka und José Antu­nes da Sil­va (Edi­zio­ni Mis­sio­na­rie Ita­lia­ne, Bolo­gna 2015).

Msgr. Bet­taz­zi, der ein­zi­ge noch leben­de ita­lie­ni­sche Bischof, der am Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil teil­nahm, war auch der ein­zi­ge Ita­lie­ner, der den „Kata­kom­ben-Pakt“ unter­zeich­ne­te. Bet­taz­zi, heu­te 93 Jah­re alt, nahm an drei Sit­zungs­pe­ri­oden des Zwei­ten Vati­ca­num teil. Von 1966 bis 1999 war er Bischof von Ivrea, bis er aus Alters­grün­den eme­ri­tiert wurde.

Wenn Dom Hel­der Cama­ra der „rote Bischof“ Bra­si­li­ens war, so ging Msgr. Bet­taz­zi als „roter Bischof“ Ita­li­ens in die Geschich­te ein. Im Juli 1976, als der Kom­mu­nis­mus unmit­tel­bar davor zu ste­hen schien, die Macht in Ita­li­en zu über­neh­men, schrieb Bet­taz­zi einen Brief an den dama­li­gen Gene­ral­se­kre­tär der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Ita­li­ens (KPI), Enri­co Ber­lin­guer, dem er die Nei­gung zusprach, „eine ori­gi­nel­le Erfah­rung des Kom­mu­nis­mus, die ver­schie­den von den Kom­mu­nis­men ande­rer Natio­nen ist“, ver­wirk­li­chen zu wol­len. Gleich­zei­tig bat er dar­um, die Kir­che „nicht zu bekämp­fen“, son­dern deren „Wei­ter­ent­wick­lung zu sti­mu­lie­ren, gemäß den Not­wen­dig­kei­ten der Zeit und den Erwar­tun­gen der Men­schen, vor allem der Armen, die Ihr viel­leicht recht­zei­ti­ger inter­pre­tie­ren könnt oder zu inter­pre­tie­ren versteht“.

Der KP-Chef ant­wor­te­te dem Bischof von Ivrea mit dem Schrei­ben Comu­ni­sti e cat­to­li­ci: chia­rez­za di princà¬pi e basi di inte­sa (Kom­mu­ni­sten und Katho­li­ken: Klar­heit der Grund­sät­ze und Grund­la­gen eines Bünd­nis­ses), das am 14. Okto­ber 1977 in der Wochen­zei­tung Rina­s­ci­ta der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei abge­druckt wurde.

Bischof Bettazzi mit Papst Franziskus
Bischof Bet­taz­zi mit Papst Franziskus

In die­sem Schrei­ben leug­ne­te Ber­lin­guer, daß die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Ita­li­ens expli­zit die mar­xi­sti­sche Ideo­lo­gie als mate­ria­li­sti­scher, athe­isti­scher Phi­lo­so­phie beken­ne, und bestä­tig­te die Mög­lich­keit einer Begeg­nung zwi­schen Chri­sten und Kom­mu­ni­sten auf der Ebe­ne der „Ent-Ideo­lo­gi­sie­rung“. Das bedeu­te nicht, so Ber­lin­guer, das Glei­che zu den­ken, aber den­sel­ben Weg gemein­sam zu gehen in der Über­zeu­gung, daß man nicht durch das Den­ken Mar­xist ist, son­dern in der Pra­xis wird.

Das mar­xi­sti­sche Pri­mat der Pra­xis ist heu­te in die Kir­che ein­ge­drun­gen, indem die Leh­re durch die Pasto­ral absor­biert wird. Die Kir­che ris­kiert in der Pra­xis mar­xi­stisch zu wer­den und auch das theo­lo­gi­sche Ver­ständ­nis der Armut zu ver­fäl­schen. Die wah­re Armut ist die Abkehr von den Gütern die­ser Erde, in dem Sinn, daß sie der Ret­tung der See­len die­nen sol­len und nicht damit sie ver­lo­ren­ge­hen. Alle Chri­sten müs­sen sich von den Gütern der Erde los­sa­gen, denn das Him­mel­reich ist den „Armen im Geist“ vor­be­hal­ten, und eini­ge von ihnen sind beru­fen in wirk­li­cher Armut zu leben, indem sie auf den Besitz und den Gebrauch der mate­ri­el­len Güter verzichten.

Die­se Ent­schei­dung hat aber des­halb Wert, weil sie frei erfolgt und von nie­man­dem auf­er­legt wird. Die häre­ti­schen Sek­ten hin­ge­gen woll­ten seit den ersten christ­li­chen Jahr­hun­der­ten die Güter­ge­mein­schaft auf­zwin­gen mit dem Ziel, bereits auf die­ser Erde eine Gleich­heits-Uto­pie zu verwirklichen.

Auf die­ser Linie bewegt sich heu­te, wer die reli­giö­se Kate­go­rie der Armen im Geist durch die sozio­lo­gi­sche Kate­go­rie der mate­ri­ell Armen erset­zen will. Msgr. Lui­gi Bet­taz­zi, Autor des Büch­leins La chie­sa dei poveri dal con­ci­lio a Papa Fran­ces­co (Die Kir­che der Armen vom Kon­zil bis Papst Fran­zis­kus“, erschie­nen im Ver­lag Pazzini (Vil­la Veruc­chio 2014), wur­de am 4. April 2016 die Ehren­bür­ger­schaft des „roten“ Bolo­gna ver­lie­hen. Von Papst Fran­zis­kus könn­te er die Kar­di­nals­wür­de erhal­ten, denn unter sei­nem Pon­ti­fi­kat, habe sich – laut dem ehe­ma­li­gen Bischof von Ivrea – der Kata­kom­ben­pakt ent­fal­tet „wie ein Wei­zen­korn, das – in die Erde gelegt – lang­sam, lang­sam gewach­sen ist, bis es sei­ne Früch­te trägt“.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt erschie­nen: Vica­rio di Cri­sto. Il pri­ma­to di Pie­tro tra nor­ma­li­tà  ed ecce­zio­ne (Stell­ver­tre­ter Chri­sti. Der Pri­mat des Petrus zwi­schen Nor­ma­li­tät und Aus­nah­me), Vero­na 2013; in deut­scher Über­set­zung zuletzt: Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil – eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, Rup­picht­eroth 2011. Die Zwi­schen­ti­tel stam­men von der Redaktion.

Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons/​Quotidianoeuropeo (Screen­shot)

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