Das 2015 publizierte Buch von Kardinal Reinhard Marx zur kirchlichen Erneuerung enthält Bedeutendes und Banales, alte Vorurteile gegen die vorkonziliare Kirche und traditionelle Impulse für die geistliche Erneuerung, sinnvolle Organisationsregeln und überzogenen Neuerungsvorschläge.
Eine Rezension von Hubert Hecker.
Der Buchtitel von Marx’ kleiner Schrift „Kirche überlebt“ enthält Doppeldeutiges: Die Kirche wird auch die gegenwärtige Krise überleben, und: Sie ist überlebt. Der Autor wendet sich gegen letztere These, nach der Religion bei zunehmender Gesellschaftsmodernisierung verschwinden werde. Gleichwohl stehe die Kirche vor der krisenhaften Aufgabe, sich in die wandelnde plurale Gesellschaft einzupassen. Marx glaubt, für diesen Prozess brauche die Kirche eine neue Sozialgestalt. Dazu sollte dieses Büchlein beitragen. Es bleibe zwar dabei, dass Basis und Bedeutung der Kirche allein in Jesus Christus lägen. Aus ihm entspringe der evangelisierende und missionierende Auftrag der Christen. Aber zu dessen Realisierung in unserer Zeit müsse mit Herz und Verstand nach neuen Wegen gesucht werden.
Kirchenpolitische Schwarz-Weiß-Malerei
Es folgt zu Anfang des zweiten Kapitels eine verschwommene Abhandlung zu ‚Kirche und Gesellschaft’. Beide Größen könne man nicht definieren. Doch danach behauptet der Kardinal, ganz genau zu wissen, wie das bezeichnete Verhältnis in den Jahrhunderten vor dem Konzil gewesen wäre: Aufklärung und Revolution, Volkssouveränität und Menschenrechte habe die Amtskirche weitgehend abgelehnt und sich in einer Verteidigungshaltung eingeigelt. Erst mit dem Zweite Vaticanum sei diese Mentalität der Kirche aufgebrochen worden zu einer positiven Beziehung. Im Paradigmenwechsel des Konzils habe man Gesellschaft und Welt als Aufgabe der Kirche erkannt.
Zu dieser kirchengeschichtliche Schwarz-Weiß-Malerei und der entsprechenden Bruch-Hermeneutik des Konzils sind die kritischen Einwände von Papst Benedikt anzuführen: Das Konzil habe bei seinem Optimismus für die Moderne die Pathologien der Vernunft übersehen und daher auch bei der Verheutigung der Kirche die gegenstreitenden und zerstörerischen Kräfte der Welt allzu unkritisch gesehen.
Falsche Frontstellung
Aus einem längeren Zitat von Papst Franziskus zu einer lieber verbeulten, aber menschenzugewandten Kirche folgert Marx: Nicht die Verteidigung der Wahrheit oder den Streit darum pflegen, sondern Hinwendung zu den Armen und Schwachen zeigen. Auch in dieser Gegenüberstellung zeigt sich eine falsche Ausschließlichkeit: Wenn die Festigung der Wahrheit des Evangeliums im Innern der Kirche vernachlässigt wird, verflachen die sozialen Aktivitäten und verlieren sie ihr christliches Profil. Historisch zeigte sich gerade bei der von Marx verteufelten Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Aus der Konzentration auf Evangelium und Wahrheit, durch blühende Orden und Volksfrömmigkeit erwuchsen der Kirche starke missionarische und sozialen Kräfte – insbesondere auf allen Gebieten der Caritas und der sozialen Frage.
Der Münchener Kardinal sieht gegenwärtig innere Gefährdungen für das Selbstverständnis der Kirche. Da sei einerseits die Haltung, sich in die Burg der Wahrheit als selbstgewähltem Ghetto zurückzuziehen – ohne Kommunikation mit der Welt. Mit der weiteren Formulierung: Flucht in die religiösen und politischen Populismen kann eigentlich nur die katholische Bloggerszene gemeint sein, der Marx Verachtung und Verblödung zuschreibt.
Gefährdung der Kirche durch Liberale, Progressive, Reformisten
Allerdings sieht der Kardinal auch die Gefahr der Anpassung und Angleichung an die Gesellschaft. Diese Gefährdung der Kirche komme von Seiten der Liberalen, Progressiven, Reformisten, die jeder gesellschaftlichen Entwicklung als Fortschritt hinterherlaufen. Angesichts der weitverbreiteten Imperative des ökonomischen Profits und der technologischen Machbarkeit sowie der Haltung des kleineren Übels sei der blinde Fortschrittsoptimismus kirchengefährdend.
Bei Vermeidung der aufgezeigten Positionen komme der Kirche die Stellung zu, sich als kraftvolle, überzeugende, kritische Wegbegleiterin der Menschheit durch die Geschichte hindurch aufzustellen. Diese Kirchen-Konzeption ergibt sich logisch aus Marxens Argumentation – aber ist sie die von Jesus Christus intendierte?
Die große Selbstbespiegelungs-Erzählung der Moderne
Im 3. Kapitel Kirche und der Geist der Freiheit bedauert Marx, dass die Amtskirche in den 200 Jahren vor dem Konzil zu Aufklärung und Revolution, zur Freiheits- und Menschenrechtsbewegung konträr geständen hätte. Bibel und frühe Kirche hätten doch mit ihrer Hinwendung zu den sündigen, kranken und schwachen Menschen die Würde des Einzelmenschen – auch gegenüber staatlichen Gewalten – betont. Deshalb sei es geradezu tragisch, dass die Kirche der Neuzeit der politisch-gesellschaftlichen Freiheitsbewegung abweisend gegenübergestanden wäre.
Der Kardinal ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, wenn er in der Postmoderne die Selbstlegitimierungslegende der Moderne wieder aufwärmen will. Die Gegenlesart etwa lautet: Als die Kirche sich gegen den staatlichen Terror der Französischen Revolution stellte, hat sie den Grund gelegt für ihre späteren Proteste gegen die modernen Totalitarismen nationalistischer, kommunistischer und rassistischer Art. Diese und weitere Strömungen der Moderne haben sich als Kampf für Freiheit und Menschenrechte ausgegeben – und genau diesen Liberalismus hatte Pio Nono, der Syllabus-Papst, abgelehnt. Andererseits gibt es verschiedene Beispiele, wie Teilkirchen in den Kampf um die (negative) Freiheit gegenüber der staatlichen Bevormundung eingestiegen sind. In diesem Sinne hatte die Kirche in Deutschland während der 48er Revolution gegen den bedrückenden Staatsbürokratismus gekämpft und sich für die Kommunikationsgrundrechte eingesetzt.
Die (negative) Freiheit von muss in die Freiheit zu münden
Marx geht aber richtig darauf ein, dass die christliche Sicht auf den Menschen mehr zu bieten habe als die (negative) politische ‚Freiheit von’: Aus Christi Erlösung von der Sklaverei der Sünde, aus seinem Geist erwachse die ‚Freiheit zu’, nämlich zu verantwortlicher Entscheidung für das Gute; und: Die wahre Freiheit vollendet sich in der Liebe. Dieses christliche Programm einer Freiheit zu Sittlichkeit und Wahrheit ziele zunächst auf den Einzelmenschen, müsse aber auch wirksam sein zu einer Umgestaltung von Gesellschaft und Kultur, zielend auf eine österlich erneuerte Schöpfung.
Im Übrigen haben alle Päpste des 19. Jahrhunderts Freiheit in genau diesem Sinne verstanden. Man könnte ihnen höchstens vorwerfen, dass sie im Eifer für diese sittlich-personale Freiheit den Wert der abwehrend-politischen Freiheit vor Staatsbevormundung unterschätzten und sogar bekämpften. Erst in der Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips ist das Verhältnis zwischen der Freiheitssphäre des Einzelnen und den (begrenzten) Aufgaben des Staates sinnvoll definiert worden.
Das Einwirken der vorkonziliaren Päpste gegen weltliche Fehlentwicklungen
Als Beispiel für das kritisch-konstruktive Einwirken der Kirche auf den politisch-sozialen Bereich nennt Marx die katholische Soziallehre, die er für das neue Denken des Konzils bezüglich des Kirche-Welt-Verhältnisses reklamiert. Doch diese Vereinnahmung ist falsch. Gerade die vorkonziliaren Päpste Leo XIII. und Pius XI. haben sich mit ihren berühmten Enzykliken auf Augenhöhe in die gesellschaftliche Entwicklung kritisch eingemischt. Benedikt XV. gab im 1. Weltkrieg die entscheidenden politischen Impulse für die Anfänge einer Weltfriedensordnung im Völkerbund. Papst Pius XII. sprach sich in seinen Weihnachtsansprachen 1942 und 1944 gegen die rassistische Verfolgung der Nazis und für eine demokratische Nachkriegsordnung aus. Auch auf Marxens Forderung, die unzureichenden, negativen Seiten der Aufklärung kritisch zu sehen, sind schon frühere Päpste gekommen, etwa wenn sie die Volkssouveränität der Pöbeldemokratie in der Französischen Revolution ablehnten.
Kritik am flachen Aufklärungsrationalismus
Marx könnte also an die aufklärungskritische Tradition der Kirche anknüpfen, wenn er den flachen Aufklärungsrationalismus anprangert, der sich in den verkürzten Paradigmen von Naturwissenschaften und Ökonomie zeigt – etwa in den Maximen: Was bringt es? Wie funktioniert es? Das christliche Denken, aber auch das individuelle Gebet und die gemeinschaftliche Liturgie könnten rationalistische Nützlichkeitsideologie aufbrechen und das ganzmenschliche Sein und Erleben erweitern – auch in seine transzendenten Dimensionen. Das biblische Menschenbild, angefangen bei der geschöpflichen Gottesebenbildlichkeit bis hin zur Erlösung des Menschen durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, müssten als Korrektiv gegen die anthropologische Enge der Aufklärung eingebracht werden.
Notwendige Kurskorrekturen an der Konzilskirche
Marx fällt aber immer wieder in seine kirchenpolitische Schwarz-Weiß-Malerei zurück, wenn er zu Anfang eines jeden Kapitels betont, dass früher in der Kirche ziemlich viel schlechter gewesen wäre als heute – auch wenn er nicht so weit geht wie der SPIEGEL in seiner Kolumne: Früher war alles schlechter. Dagegen spricht schon das Offensichtliche: Im Vergleich zur Vorkonzilszeit ist der Glaube heute weitgehend verdunstet, die Kirchen und Priesterseminare sind entleert. Das sollte an sich ein Signal zum Innehalten, Reflektieren und letztlich zu einer Kurskorrektur in der nachkonziliaren Kirche führen. Aber von dieser nüchternen und ernüchternden Konzils-Bilanz will Marx nichts wissen. Im Gegenteil: Unter Ausblendung der kirchlichen Realität wird die allzu optimistische Konzilssicht pauschal als heutige Wirklichkeit behauptet: Die Geschichte zeigt, dass das 2. Vaticanum recht hat…(S. 61).
Eine andere Kirche?
Durch die Überschrift und zu Anfang des Kapitels Kirche – einfach anders? stellt der Kardinal wieder seine Dialektik voran: Früher hätte die Kirche ihre Andersartigkeit gegenüber der Welt betont. Die ebenso falsche Gegenposition wäre, wenn die Kirche dem Zeitgeist hinterherliefe und sich der Welt anpasste. Marx ist für die Mitte: Einerseits die dogmatische Substanz und das Glaubensgut nicht beeinträchtigen lassen, andererseits die äußere Gestalt, die Lebens- und Äußerungsformen der Kirche verändern im Rahmen der Zeitgenossenschaft. Dieses katholische ‚Sowohl – Als auch’ ist formal sicherlich richtig, hat aber schon bei den Konzilstexten und auch bei Marx eine gefährliche Tendenz, eben doch Glaubenssubstanz zur Disposition zu stellen: Der Münchener Kardinal spricht z. B. von der Veränderbarkeit der Christologie, der dogmatischen Entwicklung, der Lehre von der Kirche und der Gnade. Anders formuliert: Die Fokussierung des Kardinals auf die äußere, organisatorische Sozialform der Kirche führt zu einer Vernachlässigung, teilweise Hintanstellung oder gar Veränderung der theologisch-biblischen Positionen, auf die Kirche gegründet ist.
Der sakramentale Charakter der Kirche
Bei seinem zentralen Thema zur veränderlichen Kirche geht Marx von dem Konzilsdokument Nr. 8 in Lumen gentium aus: Danach ist die Kirche eine spezifische Gemeinschaft, die aus menschlichen Elementen (hierarchische Organe, sichtbare Versammlung) und göttlichen Dimensionen (mystischer Leib, geistliche Gemeinschaft) zusammenwächst, also nach Paulus’ Worten ein besonderer Organismus mit Christus als Haupt ist. Darin besteht letztlich das sakramentale Grundverständnis der Kirche, bei dem die innere, geistliche Wirkung durch äußere Elemente und Formen erfolgen. Sie steht in Analogie zum Ursakrament Christus, in dem die menschliche Natur dem göttlichen Wort als unlöslich verbundenes Heilsorgan diente.
Marx folgert aus dieser Analogie: In den (menschlichen) Vergesellschaftungsformen der Kirche dürfe es nicht völlig anders zugehen als in der säkularen Gesellschaft. Oder positiv formuliert mit Kardinal Kasper (1987): Alle gesellschaftlichen Prinzipien haben auch in der Kirche Geltung! Also doch totale Anpassung an die Prinzipien dieser Welt – etwa in Eigennutz und Profitinteresse? Soll sich die Kirche gar an die politischen Prinzipien von Volkssouveränität, Verbändepluralismus, Parteiendemokratie und Parlamentarismus anpassen? Man sieht gleich, dass Kasper über das Ziel hinausgeschossen ist. In die Verschränkung von geistlichen und weltlichen Dimensionen in der Kirche können und dürfen offensichtlich nicht alle Elemente der Welt aufgenommen werden. In dem Paulus-Wort: Prüft alles, das Gute behaltet! steckt eben auch drin, dass es Schlechtes oder Unpassendes in der Welt gibt.
Die Sozialgestalt der Kirche ist einzubinden in ihren theologischen Gehalt
Marx folgt diesem Kasper-Programm zunächst doch nicht. Er weiß um die Grenzen der kirchlichen Anpassung an die Gesellschaft durch das theologisch-dogmatische Selbstverständnis der Kirche, wobei er die Theologie fälschlicherweise im Begründungszwang stehen sieht bei Abweichungen von gängigen Gesellschaftspraktiken. Oder: Die Soziologie kann den spezifischen Kommunikationszusammenhang der Kirche nur erkennen, wenn sie die dogmatische Begründung und die Glaubensziele der Kirche akzeptiert. Aber am Ende steht mit einem Zitat von Pater Kerber SJ doch wieder die Trennung von sozialer und geistlicher Gestalt der Kirche : Der organisatorische Aufbau der Kirche sei losgelöst von der geistlich-transzendenten Realität der Kirche zu betrachten. Diese widersprüchliche und unausgereifte Verhältnisbestimmung der geistlich-theologischen und menschlich-sozialen Dimensionen der Kirche wirkt sich negativ auf die weiteren Ausführungen Marx’ zu der kirchlichen Sozial- und Organisationsreform aus.
Denn der Autor fordert ohne die zunächst aufgestellte theologische Begrenzung und Begründung: Die sozialethischen Grundnormen der katholischen Soziallehre für das Miteinander in der Gesellschaft sollen auch für das Sozialgefüge der Kirche angewandt werden, also die Grundsätze der Personalität, Solidarität und Subsidiarität.
Differenzierte Anwendung der Sozialprinzipien
Gegen die Befolgung des Prinzips der Personalität im kirchlichen Miteinander ist nichts einzuwenden – etwa in dem Grundsatz: Die personale Würde der Gläubigen ist in allen kirchlichen Kommunikationszusammenhängen zu beachten.
Bei der Übertragung der Solidarität muss man schon Einschränkungen machen, insofern es bei säkularen Solidarforderungen vielfach um die Stärkung von Interessengruppen geht. Die können zwar bei kirchlichen Arbeitnehmern relevant sein, nicht aber durchgehend im Miteinander der Christen im kirchlichen Raum. Warum aber, so fragt Uwe C. Lay in seiner Rezension zu Marxens Buch in Theologisches, sollen Christen statt von der Nächstenliebe oder gar dem Mitleid lieber von einem solidarischen Handeln reden? Erstere sind doch die originär katholischen, weil biblischen Begriffe – warum will Marx darauf verzichten?
Erst recht ist beim Prinzip der Subsidiarität zu differenzieren. Bei der erstmaligen Formulierung des Subsidiaritätsprinzips in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) ging es vorrangig um das Verhältnis von Einzelpersonen / kleineren Gruppen und Staat:
- Einerseits muss der Staat übernehmen, was die Einzelnen und kleinere Gemeinschaft nicht leisten können – etwa die finanzielle Absicherung von Krankheit und Alter.
- Andererseits darf der Staat nicht an sich reißen, was der Einzelne und subsidiäre Gruppen aus eigenem Antrieb leisten können.
Dieser Grundsatz enthält vorrangig eine politische Dimension – damals insbesondere gegen die Tendenzen totalitärer Staaten. Auch der Ausgangspunkt von Einzel- und Gruppeninteressen ist eher dem politischen Verbandspluralismus zuzuordnen. Daher kann das Subsidiaritätsprinzip nur eingeschränkt auf die Kirche übertragen werden – etwa darin, dass die Kirche die Aktivitäten der katholischen Vereine unterstützt. Das aber ist nichts Neues.
Auflösung der kirchlichen Hierarchie in ein subsidiares Organisationsknäuel
Neu ist, dass Marx das Prinzip der Subsidiarität gänzlich auf die Organisation und die hierarchische Struktur der Kirche anwenden will. Es geht dem Münchener Kardinal dabei zunächst um
- organisatorische Fragen – etwa bei der Bistumsverwaltung. Dabei soll es klare Rahmenbedingungen und auch eine gewisse Kontrolle geben. Klar ist auch, dass ein Bischof z. B. größere Bauvorhaben nicht im Alleingang abwickeln sollte. Transparenz in der Personalverwaltung sowie im Umgang mit Finanzen beinhalte Aufsicht, Kontrolle, externe Beratung und Überprüfung, Einbeziehung von Laien-Experten etc. In diesen Dimensionen ist Subsidiarität als Regel sozialer Vernunft in der Kirche anwendbar und sinnvoll.
- Darüber hinaus will Marx das Prinzip der päpstlichen und bischöflichen Monarchie durch das der Synodalität ergänzt wissen oder dem Zentralismus die Dezentralisierung zur Seite stellen. Die Problematik dieser Reform ist schon allein durch Marxens Wort angezeigt, dass die Ortskirchen keine ‚Filialkirchen’ der Universalkirche seien. In dogmatischen Fragen sind sie es eben doch! Und die werden oft allzuschnell als pastorale ausgegeben.
- Schließlich soll auch die kirchliche Hierarchie, die noch im Konzil als substantiell festgeschrieben worden ist, aufgelöst werden. Die Kirche sei ein Ineinander und Miteinander vieler Gemeinschaften, Gruppen, Organismen, die durch den Heiligen Geist zusammengehalten werden, wofür dann letztlich der Papst und die Bischöfe in ihrem Amt der Einheit stehen. Die hierarchische Kirche soll sich demnach aufheben in ein Organisationsknäuel gleichberechtigter Gruppe, die im gemeinsamen Geist und in großem Vertrauen auf die Dynamik des Geistes setzen, der diese manchmal unübersichtliche Vielfalt des kirchlichen Geschehens zusammenhält (S. 95).
Von einem solchen unübersichtlichen Durcheinander, bei dem der Heilige Geist dann als Notnagel vorhalten muss, könnte man auf ein gedankliches Tohuwabohu schließen, dass die Inkarnation Christi und die darauf aufbauende Sakramentalität der Kirche nicht ernst nimmt. Die Basis für diese theologisch-soziologische Verschwurbelung der Kirche mag darin bestehen, dass – wie oben schon gesagt – die Verschränkung von sozialen und geistlichen Dimensionen der Kirche nicht vorgängig und solide aufgezeigt wird.
Orientierung an Luthers häretischem Kirchenbild
Der Rezensent Lay hat auf einen schwerwiegenden Fehler in Marxens Ekklesiologie hingewiesen, der einem katholischen Theologieprofessor und Bischof nicht unterlaufen dürfte: Nach Marx baue sich die Kirche vom Einzelnen her auf, denn nur die einzelnen Personen können durch ihre Antwort auf das Wort und Ereignis Gottes zur Kirche werden (S. 70). Danach gründe sich die Kirche auf den persönlichen Glauben der Einzelpersonen, die sich dann mit anderen Einzelpersonen durch ein spezifisch gestaltete Kommunikationsform zur Kirche vergemeinschaften würden.
Dieses Konzept von Kirchwerdung der Gläubigen entspricht der frühbürgerlichen Vergesellschaftungstheorie, nach dem die vereinzelten Einzelnen durch vertragliche Übereinkunft eine politisch strukturierte Gesellschaft bildeten. Ein ähnlicher Ansatz gilt für die Vereinsbildung. Aus der Übertragung dieser bürgerlichen Gesellschafts- oder Vereinstheorie auf die Kirche folgt dann das oben erwähnte soziologische Organisationsknäuel von Personen und Gruppen, das der Heilige Geist zusammenhalten soll.
Zugleich entspricht diese Vorstellung Luthers Kirchenbild. Der Reformator lehnte bekanntlich die apostolische Kirche in ihrer sakramentalen Gestalt einschließlich der geweihten Ämter ab. Jeder Einzelchrist steht nach seiner Ansicht unmittelbar zu Gott, so dass ‚Kirche’ nur als eine sekundäre geistliche Vergesellschaftung angesehen wird. Will Kardinal Marx mit der Übernahme der protestantischen Kirchenlehre etwa in Hinblick auf das Jahr 2017 eine Hommage an Martin Luther aufsetzen als unseren gemeinsamen Lehrer des Glaubens, wie Kardinal Karl Lehmann es mehrfach ausdrückte? Nach der katholischen Lehre geht die von Jesus Christus gestiftete, apostolische Kirche immer schon dem Glauben des Einzelnen voraus bzw. ermöglicht seinen Glauben.
Die geistliche Erneuerung steht vor der organisatorischen
Man kann dem Kardinal aber trotz dieser theologischen Fehlleistung zugute halten, dass er richtigerweise vor das Kapitel Strukturelle Erneuerung die beiden Abschnitte theologische und spirituelle Erneuerung setzt. Darunter versteht er, dass die Kommunikation zwischen Lehramt und Theologie lebendig bleibt. Immerhin stellt er als Aufgabe von Papst und Bischöfe das Wächteramt heraus, in dem sie zur Überprüfung der Rechtgläubigkeit beauftragt sind. Zugleich erwartet er von den Oberhirten, dass sie aus den theologischen Erkenntnissen lehramtliche Konsequenzen ziehen.
Unter geistlicher Erneuerung versteht Marx die Entdeckung der Innerlichkeit aus dem Glaubensschatz von Taufe und Firmung. Dabei hätten die Priester die Aufgabe, die Gläubigen zu Gebet und geistlichem Leben anzuleiten. Dazu ruft er die Kirchenlehrerin Theresia von Avila in Erinnerung, die das innere Gebet als ein Verweilen bei einem guten, liebenden Freund bezeichnete.
Eine neue christliche Epoche des Gebetes, der Innerlichkeit und der Mystik stehe vor uns. Das geistliche Leben sei ein Schlüssel für die Erneuerung der Kirche. Man hört diese Worte gern – aber werden die Bischöfe auch die notwendigen Schritte zur Anleitung und Wertschätzung der Innerlichkeit in Gemeinden und Katechese tun? Völlig deplatziert ist in diesem Kapitel zur geistlichen Erneuerung das polemische Wort von der Deklerikalisierung der Macht.
Kirche überlebt nur aus der Mitte des Glaubens
Auch im Schlusskapitel Kirche überlebt! besinnt sich der Buchautor wieder darauf, dass vor der innerorganisatorischen Reformen der Kirche und ihrem äußeren Engagement in der Welt der Blick auf das Wesentliche der Religion und insbesondere die Mitte und Quelle unseres Glaubens zu richten ist: In der Feier der Eucharistie erfahren wir die menschgewordene Gegenwart Gottes. Damit sind wir hineingenommen in die Liebe der göttlichen Dreifaltigkeit. Gerade die Heilige Messe in ihrem kultischen Charakter sei wesentliches Element der ‚Unterbrechung’ aller weltlichen Logiken und Praktiken durch die Religion. Zudem bedeute die Eucharistiefeier eine Erfahrung der Bestärkung, um mit neuem Elan an die missionarischen und weltlichen Aufgaben der Christen heranzugehen. Und umgekehrt gelte: Wenn das soziale Engagement der Christen nicht aus der Kraft des Evangeliums und aus der sakramentalen Feier des Ostergeheimnisses kommt, verkommt die Kirche zu einer wohltätigen NGO – so ein Wort von Papst Franziskus.
Bedeutendes und Banales nebeneinander
Der Münchener Kardinal überrascht immer wieder mit erhellenden Perspektiven – wie dieser: Es geht darum, aus der großen theologischen und geistlichen Tradition des katholischen Glaubens der heutigen Welt und den heutigen Menschen überzeugend darzulegen und durch das Leben zu bezeugen, dass der katholische Glauben in gewisser Weise eine geistliche Fortschrittsidee ist, Zeugnis vom Ja-Wort Gottes.
Danach kommt dann wieder leeres Stroh von banalen Allgemeinplätze wie:
- Die Krise der Kirche kann auch ein Wendepunkt sein. – Darauf warten wir schon seit über 40 Jahren, aber es wendet sich kaum etwas zum Besseren.
- Es gelte, die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums zu deuten. Dieses abgemünzte, unspezifische, in jede Richtung instrumentalisierbare Konzilswort steht eher für die Tendenz von Beliebigkeit bei vielen nachkonziliaren Theologen und Kirchenleuten.
- Wir stehen am Anfang einer neuen Epoche des christlichen Glaubens (Kard. Lustiger). Wo sind denn dafür die Anzeichen zu erkennen?
Und in eigenen Worten fasst Marx seinen kirchlich-humanistischen Fortschrittsoptimismus so zusammen: Vom Menschenbild her, von der universalen Botschaft und von der Fähigkeit her, durch die eine Kirche viele Nationen und Kulturen miteinander zu verbinden, hat die Kirche echte Zukunftschancen. Das Potential ist da: der christliche Glaube befähigt zur wirklichen Freiheit, setzt den gebildeten, wirklich verantwortlichen Menschen voraus, verteidigt die Würde der Person.
Sicherlich werden manche Christen sich durch solche Worte des Kardinals ermutigt fühlen. Und bei diversen Menschen der urban geprägten Gesellschaft wird er Respekt und Anerkennung ernten. Aber ist dieses weitgehend humanistisch formulierte Programm wirklich tragfähig für die Zukunft der Kirche? Kann damit bei dem nachkonziliaren Niedergang zumindest der westeuropäischen Ortskirchen eine Wende, eine Kurskorrektur herbeigeführt werden?
Falsche Frontstellung überdenken
Mit dieser kritischen Einschätzung hat sich der Rezensent in den Augen Marxens wohl eher zu jenen kirchlichen Randgruppen zugeordnet, die er in jedem Kapitel seines Buches als Nörgler und Rückzugschristen beschimpft, an anderer Stelle sogar als verblödete Blogger. Wäre es nicht an der Zeit, solche falschen Frontstellungen zu überdenken? Viele Communities der katholischen Bloggerszene sind sehr ernsthafte und engagierte kirchliche Christen. Ihnen liegt die spirituelle Erneuerung der Kirche am Herzen, die Konzentration auf das christliche Proprium, die Verlebendigung der biblischen Botschaft – auch mit missionarischem Anspruch. Das sind – bei allen guten Ansätzen – eher die Defizitpunkte des Marx’schen Kirchenprogramms mit seiner soziologischen Schlagseite.
Text: Hubert Hecker
1. Wie will Kardinal Marx zu Dialog fähig sein oder gar evangelisierend oder missionierend die Gesellschaft und die (digitale) Welt „begleiten“, wenn er die eigenen Leute als verblödet bezeichnet?
2. Mit seiner Autonomiedrohung („keine Filiale von Rom“) hat er die seit der Königssteiner Erklärung von 1968 bestehende Abnabelung des deutschkatholischen Gewissens vom universalen Lehramt fortgesetzt. Wie sollen abgeschnürte Rebzweige Frucht bringen?
3. Wäre es nach dem Ende der Ära Lehmann, angesichts der von diesem Kardinal in dessen Zeit als Vorsitzendem der DBK vollzogenen Leugnung eines Glaubens an die Kirche (http://hpd.de/node/1361), nicht an der Zeit, den 9. Artikel des CREDO feierlich neu öffentlich zu bekennen? Deutlich zu machen, dass auch die Kirche – in ihrer transzendenten Wirklichkeit als Körper von Jesus, dem Herrn – des Glaubens würdig ist.
4. Vieles was sich im deutschsprachigen Raum als „kirchlich“ oder „katholisch“ bezeichnet, ist im Absterben begriffen. Das Evangelium von der Hl. Messe mit Papst Benedikt im Berliner Olympiastadion (Joh 15,1–9) nannte die Ursachen: Wer in Christus bleibt, bringt reiche Frucht. Wer nicht in Christus bleibt, verdorrt. So einfach (und so schwer) ist es.
Das euphemistische Wort von einer quasi meteorologischen „Glaubensverdunstung“ ist billig. Wer in seinem persönlichen Verantwortungsbereich Unfruchtbarkeit feststellt, sei dringend zur Umkehr aufgerufen. Mit weniger als Heiligkeit fruchtet da nichts. Die angemessene „Sozialgestalt“ kommt dann schon von selbst.
Kardinal Marx:
Nicht die Verteidigung der Wahrheit oder den Streit darum pflegen, sondern „Hinwendung zu den Armen und Schwachen zeigen.“
Gott sei Dank! – Heute abend erst sprach der indische Priester in der Hl. Messe die Bitte aus, dass die Priester den Mut haben mögen, den Glauben in der Wahrheit zu verkünden.
Kardinal Marx meint:
Die Kirche sei ein Ineinander und Miteinander vieler Gemeinschaften, Gruppen, Organismen, die durch den Heiligen Geist zusammengehalten werden, …
“ In der Kirche hat immer Gott den Vorrang, nicht wir. Es ist Seine Kirche, nicht unsere. Wir sind in ihr, um das Werk des Sohnes zu vollbringen, nicht das unsere.“
(Bischof Kay Martin Schmalhausen aus Peru)
Die Kirche ist kein sozialer Verein – dafür sind andere Gruppierungen zuständig! Die Kirche ist in 1. Linie die B r a u t und der L e i b C h r i t i!
Kardinal Marx sollte sich mehr um sein Apostel- und Hirtenamt kümmern, als sich als Sozialwissenschaftler hervorzutun. Das können Laien besser! Oder verlangt seine Ehrenmitgliedschaft im Rotary Club Paderborn ein solches Engagement?
Es muss natürlich heißen, die Kirche ist die Braut und der Leib Christi!