(Rom) Papst Franziskus hat sich an die Spitze der antikapitalistischen „Volksbewegungen“ gestellt. Seine Reden an die Vertreter der „Bewegungslinken“ im Herbst 2014 in Rom und im vergangenen Juli in Bolivien waren diesbezüglich sehr deutlich. Wie paßt das zusammen mit der Tatsache, daß ausgerechnet mit seinem Pontifikat das Gotha der Technokraten der Weltfinanz im Vatikan Einzug gehalten habe? Versuch einer bruchstückhaften Spurenlese.
Wer sind die „Volksbewegungen“?
Wer sind aber diese „Volksbewegungen“? Sie sind ein bunter Haufen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich – wenn auch nicht dogmatisch – von der institutionalisierten sozialdemokratischen Reformlinken abgrenzen, die auch Regierungslinke genannt wird. Sie sehen sich selbst als machtferne, außerparlamentarische Basislinke mit einer auffälligen Nähe zur alten orthodoxen, kommunistischen Linken. In Wirklichkeit gibt es eine rege Zusammenarbeit mit der Regierungslinken, dann bevorzugt mit derem linken Flügel. Die kommunistische Link wird ohne Berührungsängste als integraler Teil der „Volksbewegungen“ akzeptiert. Unter gewissen Vorzeichen läßt sich eine Neuauflage des Gegensatzes zwischen Menschewiken und Bolschewiken erkennen.
Der von den „Volksbewegungen“ betonte „Antagonismus“ gegenüber dem „System“ ist um so leichter mit einer gewissen Glaubwürdigkeit zu vertreten, seit sich in der westlichen Demokratie bürgerliche, selbst christdemokratische Parteien gesellschaftspolitisch sozialdemokratisieren und Sozialdemokraten sich wirtschaftspolitisch verbürgerlichen, im Nadelstreifanzug auftreten, im Mittelmeer eine Jacht vor Anker liegen haben, in der Toskana urlauben und zum Teil unverschämt abkassieren nach dem Vorbild eines Bill Clinton, der sich für einen Auftritt mit einer 30minütigen Belanglosrede schon mal eine halbe Million Dollar auf die Hand drücken läßt. Das ist ein Teil der Nachkriegsamerikanisierung Europas, denn die amerikanische Linken, nicht zufällig „liberal“ genannt, waren schon immer Nadelstreifsozialisten.
Neoliberalismus als Synonym für jedwede Regierungspartei?
Wirklich zum Tragen konnte diese Uniformierung der politischen Eliten erst seit dem Zusammenbruch des Ostblocks kommen. Dabei schien es Anfang der 90er Jahre, als sei die politische Linke, welcher Ausprägung auch immer, definitiv desavouiert. Daß dem nicht so wurde, verdankt die Sozialdemokratie den Liberalen, die ihr bereitwillig die Hand zu einer neuen Allianz reichten unter einer Bedingung, den Klassenkampf aufzugeben und den neoliberalen Kapitalismus der Ära Clinton zu akzeptieren. Damit wurde unter der Ägide der Demokratischen Partei der USA deren Modell in Europa etabliert, das Neoliberalismus zum Synoym für (fast) jede Regierungspartei zu machen versucht, auch für die europäische Sozialdemokratie. Ein Modell, das inzwischen in alle Welt exportiert wird.
Die „antagonistische“ Linke sieht in der neoliberalen Wende der Regierungslinken Verrat und sucht nach Wegen, politischen Einfluß für einen alternativen Weg zurückzugewinnen. Papst Franziskus seinerseits besetzte den Begriff „Volksbewegungen“ und will unter dieser Bezeichung die linken globalisierungskritischen Gruppen sammeln.
Papintern als neue Komintern
Am vergangenen 13. März rief der kommunistische italienische Philosoph Gianni Vattimo, ein Star der linken Globalisierungskritik, im vollbesetzten Teatro Cervantes von Buenos Aires zur Papintern als Nachfolgeorganisation der Komintern auf. Er forderte für den „gewaltlosen Kampf gegen den Kapitalismus“ eine neue kommunistisch-papistische Internationale unter der Führung von Papst Franziskus.
Im Kontext des christlichen Abendlandes sei der Kapitalismus entstanden, so Vattimo – wobei er im Kapitalismus ein nicht-christliches Phänomen zu sehen scheint -, weshalb der Kapitalismus auch nur über das Christentum besiegt werden könne. Nur Papst Franziskus könne in diesem „ungleichen Kampf“ der „natürliche Anführer“ sein, um „die kapitalistische, imperialistische, nordamerikanische Finanzherrschaft zu besiegen“. Kurienbischof Marcelo Sanchez Sorondo, ein enger Vertrauter von Papst Franziskus, saß sichtlich zufrieden und zustimmend daneben.
Seit dem ersten Jahr seines Pontifikats fiel auf, daß Papst Franziskus zielstrebig und ohne Berührungsängste die Nähe zur radikalen Linken suchte (siehe „Der Papst ist kein Linker, aber er spricht wie ein Linker“ – Franziskus empfing radikale Linke Europas). Es wurde über einen lateinamerikanischen Anti-Gringo-Reflex spekuliert. Doch die Sache scheint tiefer zu liegen und weder ein Zufall zu sein noch ein bloß emotiver Impuls.
Daß die radikale Linke gesellschaftspolitisch (zu Fragen der Abtreibung, Verhütung, Ehe, Familie, Homosexualität, Euthanasie) nicht minder antagonistisch tickt, nur in diesem Fall nicht gegen das Kapital, sondern gegen die Kirche, ist dem Jesuiten auf dem Papstthron durchaus bewußt. Das ist ein Aspekt, der erklärt, weshalb der argentinische Papst die „nicht verhandelbaren Werte“ demonstrativ ad acta legte und dies die Welt auch wissen ließ. Die Botschaft ist angekommen. Ein Teil der Bewegungslinken ist zwar noch skeptisch, doch Vattimo betonte in Buenos Aires, daß es nicht um eine religiöse Frage, sondern um eine politische Allianz gehe. Der Papst mag dies vielleicht anders sehen, streicht es jedoch nicht hervor.
Setzt Papst Franziskus auf die richtigen Kräfte?
Papst Franziskus wirkt in seinen Bündnisplänen ganz Jesuit. Das Ergebnis dieser Aktivitäten ist indes noch ungewiß. Zahlreiche Fragen stehen im Raum, für die man sich derzeit mit Rätselraten statt einer Antwort begnügen muß. Zwei davon seien genannt, von denen eine sogar wie ein augenscheinlicher Widerspruch wirkt.
Die Kirche hat nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Kalten Krieges freiwillig darauf verzichtet, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu formulieren. Sie akzeptierte grundsätzlich die Demokratie und den ihr bis dahin im Letzten fremd gebliebenen Kapitalismus, versuchte ihn allerdings, als „soziale Marktwirtschaft“ zu bändigen. Nach dem Zusammenbruch des „Realen Sozialismus“ entledigte sich der triumphierende Kapitalismus schnell dieser Rücksichtnahmen auf die Kirche und nahm mit ungeheurer Geschwindigkeit wieder jene Züge an, nur noch radikaler, von denen sich die Kirche immer ferngehalten hatte und denen sie beispielsweise im Mittelalter mit der Entwicklung eines christlichen Bankwesens durch den Franziskanerorden ein Gegenmodell entgegengesetzt hatte. Setzt Papst Franziskus aber wirklich auf die richtigen Kräfte, wenn er eine Liaison mit der radikalen Linken sucht? Abgesehen davon stehen nicht alle Globalisierungskritiker links, keineswegs. Doch in andere Richtungen gab es bisher aus der Umgebung des Papstes keine Kontaktaufnahmen.
Globalisierungskritiker und Millionengagen für Finanzberaterfirmen?
Die zweite Frage lautet: Wenn Papst Franziskus der neue Weltführer im Kampf gegen die „Diktatur des Geldes“ (Gianni Vattimo) sein will, warum begann dann mit seinem Pontifikat auch im Vatikan ein Wettlauf, die erlesensten und kostspieligsten Beraterfirmen der Welt in Sachen Finanzkontrolle und ‑organisation zu engagieren wie McKinsey, Promontory, Ernst&Young und KPMG, die ein Spitzenprodukt der Globalisierung sind? Die Honorarnoten der Finanzberater gehen in die Millionen.
Die Welt als „globales Dorf“ macht sie unentbehrlich und vor allem sind sie es selbst, die sich immer unentbehrlicher machen. Ein System aus Effizienz und Gewinnstreben, das sich selbst ständig neu erfindet und an Macht zunimmt. Kein Finanzminister kommt mehr ohne sie aus, weil er – im Gegensatz zu ihnen – längst den Durchblick verloren hat. Aus diesem Grund schreiben die Beraterfirmen die Gesetze bereits selbst, die dann von der Politik nur mehr abgesegnet werden. Auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Politik hängt in zentralen Bereichen am Gängelband eines Dutzend internationaler Beratungsunternehmen, die in wessen Interesse arbeiten?
Widersprüchliche Strategie des Papstes gegenüber den „Supermächten der Weltfinanz“
Mit Papst Franziskus hielten die Global Players des Finanzsektors im Vatikan Einzug. Neben McKinsey ist die Promontory Financial Group eine andere der großen Beraterfirmen, die international die Szene beherrschen und laut Insidern inzwischen mehr Macht haben, als manche Regierung. Seit Mai 2013, keine zwei Monate nach der Wahl von Papst Franziskus, hat sich das Unternehmen mit Hauptsitz in Washington in der Vatikanbank IOR breitgemacht. Sie prüfen sämtliche Operationen und erhalten damit, wahrscheinlich als einzige, den perfekten Überblick über die Bank. Und Wissen ist bekanntlich Macht. Derselben Überprüfung ist auch die Apostolische Güterverwaltung des Vatikans unterworfen (siehe Der Vatikan unter Papst Franziskus ein Paradies der Berater und Homo-Lobbyismus: McKinsey, Ernst & Young, KPMG… und alle arbeiten für den Vatikan).
Führende Vertreter von Promontory sitzen inzwischen an zentralen Schalthebeln der Vatikanbank. Der neue Generaldirektor Rodolfo Marranci kommt direkt von Promontory. Elizabeth McCaul, Leiter der Promotory-Niederlassung New York, und Raffaele Cosimo, Leiter der Promontory-Niederlassung Europa, sind heute Senior Adviser der Vatikanbank. Von Übersee kommt auch Antonio Montaresi, der als neuer Chief Risk Officer der Bank des Heiligen Stuhls tätig ist. Eine Funktion, die es zuvor nicht gab. Bei Promotory arbeitet, nach seiner Lehrzeit bei Goldman Sachs, auch Louis-Victor Douville de Franssu, dessen Vater Jean-Baptiste neuer Präsident der Vatikanbank ist.
„Gegenüber den Supermächten der Weltfinanz doppelt sich Papst Franziskus“, so der Vatikanist Sandro Magister. „Auf der einen Seite knüppelt er sie unerbittlich, wie auch in der Enzyklika Laudato si, allerdings immer in einer sehr allgemeinen Form, ohne daß man je versteht, ob sein Fallbeil auch Mario Draghi und der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde und dem Weltwährungsfonds sowie Janet Yellen und der Federal Reserve gilt.
Auf der anderen Seite ruft er ausgerechnet das Gotha der Weltfinanztechnokratie, um die Finanzen des Vatikans in Ordnung zu bringen, angefangen bei der Vatikanbank IOR, die inzwischen faktisch der Promontory Financial Group mit Sitz in Washington übergeben wurde.“
Promontory’s Auftrag? – Fleck auf der weisen Weste
Promontory hat heute weltweit eine exklusive Stellung inne. Die Gruppe „arbeitet an der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem wie ein Schattenkontrolleur und ‑regulator, der von den amerikanischen Behörden eingesetzt wird, um über die Beratungstätigkeit bis zu den unsichtbarsten Operationen der Banken aller Länder vorzudringen. Eugene A. Ludwig leitete während der Präsidentschaft von Bill Clinton das Office of the Comptroller of the Currency der US-Regierung, das unter anderem für die Überwachung des nationalen Kreditwesens einschließlich Überprüfung der Zahlungs–, der Wettbewerbs– und der Funktionsfähigkeit der US–amerikanischen Kreditinstitute zuständig ist. Heute ist er Chef von Promontory. Eine ganze Reihe von Vertretern der U.S. Securities and Exchange Commission wechselten zu Promontory.
Die blütenweise Weste von Promontory, ein unerbittlicher Arm des Gesetzes zu sein, hat am 3. August allerdings einen Fleck bekommen. Das Finanzministerium des Staates New York untersagte dem Finanzkontrollunternehmen jede weitere Tätigkeit im Staat. Promontory wird vorgeworfen, Geldüberweisungen der englischen Standard Chartered Bank in Dubai zugunsten von Empfängern im Iran nicht blockiert zu haben, obwohl gegen den Iran Sanktionen verhängt sind.
Die Suspendierung im Staat New York betrifft nicht die Aktivitäten im Vatikan. Dennoch handelt es sich um einen schwerwiegenden Imageschaden für das Unternehmen, wenngleich die Hintergründe für die Entscheidung des New Yorker Finanzministeriums noch nicht ganz klar sind. Promontory hat angekündigt, gegen die Entscheidung beim Obersten Gerichtshof des Staates Rekurs einzulegen.
„Papst überzeugt, daß die Welt das Opfer eines internationalen Finanzimperiums ist“
Der Heilige Stuhl kommentierte das Ereignis nicht. „Die Irritation von Jorge Mario Bergoglio kann man sich jedoch leicht vorstellen“, so Magister. „Der Vorfall wird die Überzeugung von Papst Franziskus weiter verstärken, daß die Welt die Beute eines internationalen Finanzimperiums ist, dessen einziges Ziel der Profit und dessen Instrument das ‚Aussondern‘ der wachsenden Zahl der Armen ist“, so der Vatikanist.
Es ist nicht bekannt, ob Papst Franziskus das Buch von Thomas Piketty „Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“ gelesen hat, aber er teilt dessen Grundthese einer strukturellen Zunahme der Ungleichheit.
Papst: Mittelstand bald unbedeutend – Naomi Klein interpretiert im Vatikan Öko-Enzyklika
Am 12. Juli von einem deutschen Journalisten auf dem Rückflug von Paraguay gefragt, gab der Papst zu, daß es ein „Fehler“ war, in seiner Analyse die Mittelschicht zu vernachlässigen, fügte aber hinzu, daß diese ohnehin „immer kleiner wird“, weil sie durch die Polarisierung zwischen Reichen und Armen aufgerieben werde.
„Es spielt keine Rolle, daß die realen Zahlen das Gegenteil aussagen. Er, der Papst, hat entschieden, auf welcher Seite er steht. Er versammelte um sich, was er ‚Volksbewegungen‘ nennt, das erste Mal im Vatikan und das zweite Mal in Santa Cruz in Bolivien: die Globalisierungsgegner, die Occupy Wall Street, die Indignados, die Cocaleros, kurzum eine Vielzahl von Rebellen gegen die Herrschaft des Kapitals, in denen er die Avantgarde einer neuen Menschheit sieht“, so Magister.
Die von ihm bei den beiden Anlässen gehaltenen Reden stellen das politische Manifest von Papst Franziskus dar. Es ist kein Zufall, daß der argentinische Kurienbischof Sanchez Sorondo, der dem Papst in dieser Frage am nächsten steht, Naomi Klein, den Weltstar der Globalisierungsgegner rekrutierte, um im Vatikan die Öko-Enzyklika Laudato si zu kommentieren.
Die politische Utopie von Papst Franziskus ist wenig postmarxistisch, aber sehr argentinisch. Das entscheidende Wesensmerkmal ist ein ausgeprägter Populismus, der seine Wurzeln in der „Volkstheologie“, der „Argentinischen Schule“ der Befreiungstheologie, hat. Eine Theologie, die vom Jesuiten Juan Carlos Scannone, dem Lehrer Bergoglios vertreten wird.
„Volkstheologie“ der Erklärungsschlüssel?
Der Historiker Roberto de Mattei schrieb 2013, wenige Tage nach der Wahl von Papst Franziskus: „Die Option für die Armen von Kardinal Bergoglio wurzelt vor allem in den Lehren von Lucio Gera und Rafael Tello, den Vertretern einer Volkstheologie, deren Wesensmerkmal die Ersetzung der Ideologie des bewaffneten Kampfes durch eine praktizierte Armut ist. Carlos Pagni, der in der argentinischen Tageszeitung La Nación vom 21. März die ‚Regierungsmethode Bergoglio‘ analysierte, erklärt die theologischen Gründe, warum die „Peripherie“ eine zentrale Stellung in der ideologischen Landschaft des Erzbischofs Bergoglio einnimmt. Die ‚Armen‘ sind demzufolge primär nicht eine hilfsbedürftige soziologische Realität, sondern ein theologisches Subjekt, von dem man lernen soll: ‚Diese pädagogische Haltung hat eine religiöse Wurzel: das Verhältnis des [armen] Volkes zu Gott wäre ursprünglicher, weil die materielle Verunreinigung [in diesem Verhältnis] fehlt‘.“
Ob die Anhänger der „Volksbewegungen“ es auch so sehen? Fest steht, daß für Papst Franziskus, das „Volk“ in sich gut ist und es daher an seiner Seite zu stehen gilt. In der theologischen und nicht soziologischen Lesart der „Volkstheologie“ liegt vielleicht auch der Schlüssel, warum Papst Franziskus einerseits jene linksradikalen Globalisierungsgegner um sich schart, in denen er die „Avantgarde einer neuen Menschheit“ zu sehen glaubt, und gleichzeitig die Vatikanfinanzen den Technokraten der kritisierten Weltfinanz überträgt.
Das Ergebnis dieser zweigleisigen Haltung gegenüber der Globalisierung ist freilich völlig offen. Ein Grund dafür liegt auch darin, daß Signale ausgesendet werden, die Botschaft aber (vielleicht absichtlich) ambivalent bleibt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Movimiento Populares (Screenshot)/katholisches.info (Montage)