Der Fluch der bösen Tat. Die verfehlte Politik des Westens im Mittleren Osten


"Der Fluch der bösen Tat" von Peter Scholl-Latour, eine Buchbesprechung
„Der Fluch der bösen Tat“ von Peter Scholl-Latour, eine Buchbesprechung

Eine Buch­be­spre­chung zu Peter Scholl-Latours letz­tem Werk: Der Fluch der bösen Tat. Das Schei­tern des Westens im Ori­ent, Ber­lin 2014.

Anzei­ge

Von Hubert Hecker

Kurz vor sei­nem Tode im August 2014 konn­te der bekann­te Jour­na­list Peter Scholl-Latour das ange­ge­be­ne Buch fer­tig­stel­len. So wur­de es Abschluss und Ver­mächt­nis sei­nes 65jährigen Jour­na­li­sten­le­bens. Es ist für den Leser von gro­ßem Gewinn, wenn der weit- und welt­ge­rei­ste Jour­na­list immer wie­der Erfah­run­gen, Per­so­nen, Schau­plät­ze und Ereig­nis­se aus frü­he­ren Erkun­dungs­rei­sen in die aktu­el­len Lage­be­schrei­bun­gen einwebt.

Unabhängige Journalisten sind Pressionen ausgesetzt

Ruf und Anse­hen von Scholl-Latour grün­den dar­auf, dass er sei­ne jour­na­li­sti­sche Unab­hän­gig­keit bewah­ren konn­te, sich nicht poli­tisch vor­span­nen ließ, jeden­falls nicht von Sei­ten sei­ner Auf­trag­ge­ber. Und erst recht war er nicht käuf­lich, wie das der Kol­le­ge Ulfkot­te in sei­nem Buch „Gekauf­te Jour­na­li­sten“ bei vie­len aus der jün­ge­ren Jour­na­li­sten-Gene­ra­ti­on beklagt. (Am Schluss die­ser Rezen­si­on wird man aller­dings sehen, wie sich Scholl-Latour für eine ideo­lo­gi­sche Sicht von Koran und Islam ein­span­nen ließ.)

Im Ein­lei­tungs­ka­pi­tel „Gefan­ge­ne der eige­nen Lügen“ macht Scholl-Latour eine tour d’ hori­zont zur aktu­el­len Welt­po­li­tik. Dabei bekommt man einen Ein­druck von sei­nem sou­ve­rä­nem Urteil ange­sichts der kom­ple­xen Welt­la­ge, aber auch den Gefähr­dun­gen eines unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus. Schon vor über 50 Jah­ren wur­de Scholl-Latour unter poli­ti­sche Pres­sio­nen gesetzt, als er dem US-ame­ri­ka­ni­schen Viet­nam-Krieg einen tra­gi­schen Aus­gang vor­aus­sag­te. Heu­te sieht er gegen Russ­land und den „neu­en Zaren Putin“ eine „syste­ma­ti­sche Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne ame­ri­ka­ni­scher Pro­pa­gan­da­in­sti­tu­te“, die die „euro­päi­sche Medi­en­land­schaft gründ­lich zu mani­pu­lie­ren“ ver­moch­te. Die Euro­pä­er soll­ten dadurch gewarnt sein, wie oft sich die Ame­ri­ka­ner seit dem 2. Welt­krieg im „Netz der eige­nen Lügen“ ver­strickt hät­ten. Scholl-Latour führt auf: die geziel­te Falsch­mel­dung über den Ton­king-Zwi­schen­fall 1964, die Irre­füh­rung Sad­dam Hus­s­eins durch eine ame­ri­ka­ni­sche Gesand­te für eine unbe­hel­lig­te Kuweit-Anne­xi­on und ins­be­son­de­re die fre­che Lüge der Regie­rung Geor­ge Bush’ über das ira­ki­sche C‑Waffenarsenal, um einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg zu führen.

Unfähigkeit, sich in die Mentalitäten fremder Kulturen hineinzuversetzen

Mit dem letz­ten Punkt ist das Haupt­the­ma des Buches ange­ris­sen: „Das Schei­tern des Westens im Ori­ent“. Den ent­schei­den­den Grund für das Schei­tern der west­li­chen Füh­rungs­macht USA sieht Scholl-Latour in deren „Unfä­hig­keit, sich in die Men­ta­li­tä­ten frem­der Kul­tu­ren hin­ein­zu­ver­set­zen“. Getrie­ben von ihrem geo­stra­te­gi­schen Domi­nanz­stre­ben sowie dem Vor­rang ihrer Wirt­schafts­in­ter­es­sen, führ­ten die vie­len Fehl­ein­schät­zun­gen zu einer schwan­ken­den, inkon­se­quen­ten und zick­zack­haf­ten Ori­ent­po­li­tik. Das wird im Buch bei den Län­dern Liby­en, Ägyp­ten, Liba­non, Irak, Iran, Tür­kei und natür­lich am aktu­el­len Syri­en-Kon­flikt fall­wei­se erläutert.

Zu jedem der genann­ten Län­der berich­tet Scholl-Latour in unter­schied­li­cher Gewich­tung von histo­ri­schen und sozio­lo­gi­schen Hin­ter­grün­den, poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen sowie reli­giö­sen Grup­pen­kon­flik­ten. Die­se Gege­ben­hei­ten wer­den jeweils ver­mit­telt durch Gesprächs­part­ner, über die Beschrei­bung von geschichts­träch­ti­gen Orten, als Rei­se­be­rich­te oder im Rück­griff auf älte­re Inter­views – z. B. mit dem ira­ni­schen Aja­tol­lah Cho­mei­ni, dem ira­ki­schen Schii­ten-Ober­haupt Ali al-Sista­ni, dem tür­ki­schen Par­tei­füh­rer Recep Tayyip Erdo­gan u. a. Eine sol­che Dar­stel­lungs­form macht das Buch leben­dig und kurz­wei­lig. Die Kehr­sei­te die­ses jour­na­li­sti­schen Vor­ge­hens besteht dar­in, dass man­che Schwer­punkt-Geschich­ten eher vom Zufall des Repor­ter-Inter­es­sens als von der poli­ti­schen Wich­tig­keit gesetzt wer­den, ande­re schwer­ge­wich­ti­ge Ori­ent-Mit­spie­ler wie etwa Sau­di-Ara­bi­en oder die klei­ne­ren ara­bi­schen Ölstaa­ten sind nur am Ran­de behandelt.

Schiiten und Alawiten 

In der Reli­gi­ons­ge­schich­te des Ori­ents kennt sich Scholl-Latour am gründ­lich­sten bei der Schia-Par­tei aus. In den ent­spre­chen­den Kapi­teln ist mit Gewinn zu erfah­ren, wie tief die histo­ri­schen Erfah­run­gen der Schii­ten ihre aktu­el­len „Men­ta­li­tä­ten“ prä­gen – etwa die Selbst­op­fe­rungs­hal­tung im Iran-Irak-Krieg der 80er Jah­re. Über den Schia-Grün­der Ali Ibn Abi Talip ist die Grup­pe der Ale­vi­ten mit den Schii­ten ver­bun­den. Die etwa 12 Mil­lio­nen Anhän­ger leben weit­ge­hend in der Tür­kei; sie wur­den und wer­den viel­fach von den sun­ni­ti­schen Tür­ken unterdrückt.

Eben­falls als schii­ti­sche Deno­mi­na­ti­on gel­ten die Ala­wi­ten, die sich auf Syri­en kon­zen­trie­ren. Bei die­ser Grup­pe sei­en auch per­si­sche und pan­the­isti­sche Ein­flüs­se fest­zu­stel­len, wes­halb sie von den sun­ni­ti­schen Eife­rern noch schär­fer als Häre­ti­ker ver­folgt wur­den. Die ewig bedräng­te Min­der­heit der Ala­wi­ten nutz­te wäh­rend der fran­zö­si­schen Man­dats­zeit ihre Auf­stiegs­chan­ce in mili­tä­ri­sche, bür­ger­li­che und aka­de­mi­sche Beru­fe und Posi­tio­nen. Nach der Pro­kla­ma­ti­on der syri­schen Unab­hän­gig­keit wur­den sie und die von ihnen domi­nier­te Baath-Par­tei schnell zur füh­ren­den Grup­pe in der syri­schen Repu­blik. Scholl-Latour meint, dass die Ala­wi­ten in der säku­la­ren, natio­nal­ar­a­bi­schen und sozia­li­sti­schen Reform­be­we­gung „ihre reli­giö­se Revan­che über die Recht­gläu­bi­gen der Sun­na“ ent­fal­te­ten. Gleich­wohl war Syri­en, seit 1970 unter der Prä­si­dent­schaft des Ala­wi­ten Hafez el-Assad und danach sei­nes Sohn Bas­har, ein säku­la­rer Staat der Tole­ranz für die mus­li­mi­schen und christ­li­chen Kon­fes­sio­nen, „wie sie in der übri­gen isla­mi­schen Welt ziem­lich ein­ma­lig ist“ – so Scholl-Latour.

Syri­en hat­te sich in den 70er und 80er Jah­ren ver­schie­de­ner Auf­stän­de der fun­da­men­ta­li­sti­schen Mus­lim-Bru­der­schaft zu erweh­ren, die Assad sen. mit äußer­ster Här­te nie­der­schlug. Aber der wirt­schafts­li­be­ra­le und reli­gi­ons­to­le­ran­te Kurs des ala­wi­ti­schen Prä­si­den­ten hät­ten die sun­ni­ti­sche Mit­tel­schicht zu einem modus viven­di ani­miert. Außen­po­li­tisch waren die Rus­sen bevor­zug­te Part­ner – ins­be­son­de­re zur Lie­fe­rung von Mili­tär­gü­tern. Aber auch die USA und Isra­el hiel­ten den säku­la­ren syri­schen Staat bis 2010 eher für einen Sta­bi­li­täts­fak­tor im Nahen Osten.

Was brachte die Wende zum heutigen Bürgerkrieg in Syrien?

Scholl-Latour kann dazu die Aus­füh­run­gen eines Majors der Frei­en Syri­schen Armee anfüh­ren: Im März 2011 war die Rebel­li­on des „Ara­bi­schen Früh­lings“ in die syri­sche Grenz­stadt Deraa über­ge­schwappt. Doch die eigent­li­chen Draht­zie­her eines geplan­ten Umstur­zes saßen in Washing­ton, Riad, Amman, in Doha und auch in Jeru­sa­lem. Unter der Regie der CIA sowie finan­ziert von den Sau­dis und Qatar wur­den ab 2010 auf jor­da­ni­schem Boden die Struk­tu­ren einer schlag­kräf­ti­gen Oppo­si­ti­ons­ar­mee auf­ge­baut. Man hoff­te und plan­te, dass die fru­strier­ten Mas­sen in Syri­en beim Auf­tau­chen einer west­lich ori­en­tier­ten Resur­rek­ti­ons­ar­mee in einem Volks­auf­stand das Assad-Regime weg­fe­gen wür­de – wie in Tunis, Liby­en oder in Kairo.

Der FSA-Major nennt die­se von außen kon­zi­pier­ten Umsturz­plä­ne einen „Kom­plott“. Im Ergeb­nis sei­en die west­li­chen Geheim­dien­ste „Opfer ihrer eige­nen Wunsch- und Fehl­pla­nun­gen“ gewor­den. Scholl-Latour ergänzt dazu, dass Frank­reich, das bis 2009 die Baath-Regie­rung unter­stützt hat­te, von super­rei­chen sun­ni­ti­schen Geld­ge­bern aus Qatar für das Umsturz-Bünd­nis gegen Assad regel­recht „gekauft“ wor­den sei.

Was aber waren die Moti­ve und Zie­le der Ame­ri­ka­ner, den ein­zi­gen säku­la­ren und ver­gleichs­wei­se reli­gi­ons­to­le­ran­ten Staat im Nahen Osten zu desta­bi­li­sie­ren, sei­nen Regen­ten zu stürzen?

Die Motive der USA für den syrischen Bürgerkrieg

Seit dem Umsturz des Ruhol­la Cho­mei­ni 1979 gilt den Ame­ri­ka­nern der schii­ti­sche Iran als ein Schur­ken­staat. Daher rüste­ten sie den west­li­chen Nach­bar­staat Irak auf und trie­ben Sad­dam Hus­sein in einen Krieg mit dem Iran. Nach des­sen Kuweit-Aben­teu­er wur­de das Sad­dam-Regime zur neu­en Feind­macht erklärt und mit zwei Krie­gen über­zo­gen. Im Ergeb­nis brach­ten die Ame­ri­ka­ner die schii­ti­sche Mehr­heit an die Macht – und damit einen neu­en Ver­bün­de­ten des Iran. Zugleich war nun von der afgha­ni­schen Gren­ze bis zum Mit­tel­meer eine geschlos­se­ne Land­brücke von schii­ti­schen Mäch­ten ent­stan­den – im Iran, Irak und Syri­en. Auch im Liba­non war die schii­ti­sche Hiz­bol­la erstarkt. Für die Ame­ri­ka­ner galt in die­sem schii­ti­schen Land­gür­tel der syri­sche Assad-Staat als das schwäch­ste Glied, das man her­aus­bre­chen woll­te. Eigent­lich hät­ten die Ame­ri­ka­ner nach dem Fehl­schlag im Irak zurück­hal­ten­der sein müs­sen, aber anschei­nend waren sie auch getrie­ben von ara­bi­schem Geld und sun­ni­ti­schen Eife­rern aus Riad und Qatar.

Truppen der Nusra-Front
Trup­pen der Nusra-Front

Amerikanische Destabilisierungspolitik

Das erschüt­tern­de Ergeb­nis der ame­ri­ka­ni­schen Desta­bi­li­sie­rungs­po­li­tik ist bekannt: Der syri­sche Auf­stand unter dem Schutz der CIA-geführ­ten Frei­en Syri­schen Armee wei­te­te sich aus, der Assad-Staat schlug mit allen Mit­teln zurück. Die zuneh­men­de Anar­chie im Lan­de ließ zuerst die Nus­ra-Front wach­sen, ein sun­ni­ti­scher Al Quai­da-Able­ger, und spä­ter die Ter­ror-Armee des Isla­mi­schen Staa­tes. Gewis­se Par­al­le­len mit dem Ver­lauf des Afgha­ni­stan-Kriegs in den 90er Jah­ren und dem zwei­ten Irak-Krieg drän­gen sich auf. Scholl-Latour erin­nert noch an den Sturz des natio­nal-per­si­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Mos­sa­deq, des­sen Sturz 1951 durch die CIA er als den „Urknall“ der fehl­ge­lei­te­ten ame­ri­ka­ni­schen Desta­bi­li­sie­rungs­po­li­tik im Ori­ent dia­gno­sti­ziert. Die­ser Hin­ter­grund mag den Jour­na­li­sten zu dem Buch-Titel inspi­riert haben, im Rück­griff auf ein Schil­ler­zi­tat aus dem Stück Wal­len­stein: Es sei der Fluch der bösen Tat, dass sie fort­zeu­gend immer neu­es Böses gebä­ren müsste.

Die USA als unmoralische Giftgashändler

Für die Ver­lo­gen­heit ame­ri­ka­ni­scher Nah­ost-Poli­tik führt Scholl-Latour ein wei­te­res Bei­spiel an: Prä­si­dent Oba­ma hat­te den Ein­satz von Gift­gas durch den syri­schen Staat als Rote Linie für den Ein­satz ame­ri­ka­ni­scher Luft­an­grif­fe aus­ge­ben. Die Ame­ri­ka­ner spiel­ten sich hier als mora­li­sche Vor­rei­ter für die Äch­tung von Gift­gas auf, wobei sie selbst erst 25 Jah­re vor­her als unmo­ra­li­sche Gift­gas­händ­ler auf­ge­tre­ten waren, die dem ira­ki­schen Herr­scher Sad­dam Hus­sein Hun­der­te Gas­gra­na­ten gelie­fert hat­ten. Damit wur­den im Krieg um den Schatt al-Arab mas­sen­wei­se ira­ni­sche Sol­da­ten getö­tet. Sad­dam Hus­sein konn­te sogar damit prah­len, sei­ne rus­si­sche Scud-Rake­ten mit dem ame­ri­ka­ni­schen Gift­gas zu fül­len, um damit die Zivil­be­völ­ke­rung in Tehe­ran zu bedro­hen. Im Syri­en-Krieg wil­lig­te Assad auf Anra­ten Russ­lands schließ­lich ein, alle sei­ne Gift­gas-Reser­ven von neu­tra­len inter­na­tio­na­len Stel­len unschäd­lich machen zu lassen.

Da die Syri­en-Poli­tik der­zeit am mei­sten inter­es­siert, sind die betref­fen­den Aus­füh­run­gen in Scholl-Latours Buch hier rela­tiv aus­führ­lich dar­ge­stellt wor­den. Mit ähn­lich auf­schluss­rei­chen Ergeb­nis­sen kann sich der Leser über die poli­ti­schen und reli­giö­sen Ver­hält­nis­se in der Tür­kei unter Erdo­gan, im Iran sowie etwas weni­ger aus­führ­lich zu den Vor­gän­gen und Kon­stel­la­tio­nen in Liba­non, Ägyp­ten und Liby­en informieren.

Schwächen des Buches

Wenig erfährt man über die al-Quai­da-Ter­ro­ri­sten und noch weni­ger über die Stra­te­gie des Isla­mi­schen Staa­tes. Das sind für Scholl-Latour nichts als Row­dy-Ban­den, die mit dem regu­lä­ren Islam nichts zu tun hät­ten, allen­falls Intri­gen des „gestei­nig­ten Scheit­ans“. Nicht erst hier zei­gen sich Schwä­chen und Fehl­be­wer­tun­gen zum Islam im All­ge­mei­nen und im Beson­de­ren zu sei­nem Poten­ti­al, immer wie­der neue Gewalt-Grup­pen zu gene­rie­ren. Was Scholl-Latour an den West­mäch­ten kri­ti­siert, sich nicht in die Men­ta­li­tä­ten der Ori­en­ta­len hin­ein­ver­set­zen zu kön­nen, das gelingt ihm vor­züg­lich, aber beein­träch­tigt auch sei­ne jour­na­li­sti­sche Distanz und Unab­hän­gig­keit. Sei­ne beschrie­be­ne Nähe zu der Schia-Par­tei lässt in man­chen Pas­sa­gen Sym­pa­thie für die Poli­tik der Schii­ten durch­schei­nen. Ein Jour­na­list soll­te sich aber nicht mit der Sache sei­nes Berich­tes gemein machen – auch nicht mit einer guten. Gleich­zei­tig ver­misst man Kri­tik an dem über­heb­li­chen Domi­nanz-Ver­hal­ten, das für sun­ni­ti­sche Groß­spre­cher cha­rak­te­ri­stisch ist.

Religiös motivierte Kriege zwischen Muslimen

Der Jour­na­list Peter Scholl-Latour scheint nichts von den reli­giö­sen Dimen­sio­nen eines Krie­ges zwi­schen zwei isla­mi­schen Staa­ten zu wis­sen. Beim Irak-Iran-Krieg in den acht­zi­ger Jah­ren muss­ten sich bei­de Sei­ten laut Isla­mi­scher Rechts­re­geln wech­sel­sei­tig für Ungläu­bi­ge erklä­ren. Denn ein Krieg zwi­schen Mus­li­men ist im Koran nicht vor­ge­se­hen, sogar strikt ver­bo­ten. Die Dämo­ni­sie­rung der Kriegs­geg­ner als Ungläu­bi­ge spielt aber für die Moti­va­ti­on der Kämp­fen­den eine wich­ti­ge Rol­le. Nur so ist es zu erklä­ren, dass sich von ira­ni­scher Sei­te Hun­dert­tau­sen­de von (Kin­der-) Sol­da­ten frei­wil­lig zu Kano­nen­fut­ter und Gas­op­fern mach­ten, weil ihnen im Kampf gegen die Ungläu­bi­gen (Sun­ni­ten) das Para­dies ver­spro­chen wor­den war.

Der glei­che Vor­gang pas­siert übri­gens der­zeit bei der Mobi­li­sie­rung der ira­ki­schen Schii­ten gegen den Isla­mi­schen Staat: Der schii­ti­sche Groß-Aja­tol­lah al-Sista­ni hat in einer Fat­wa die IS-Sun­ni­ten zu Ungläu­bi­gen erklärt. Damit recht­fer­tigt er den Krieg gegen IS-Mus­li­me als gott­ge­fäl­lig und allah­ge­wollt. Die schii­ti­schen Jugend­li­chen mel­den sich dar­auf­hin in Scha­ren als Frei­wil­li­ge für die­sen Hei­li­gen Krieg. Wer um die­se reli­giö­sen Quel­len und Moti­ve für einen inner­is­la­mi­schen Krieg nicht weiß und sie nicht in sei­ne jour­na­li­sti­schen Dar­stel­lun­gen ein­be­zieht, kann sich nicht rüh­men, ein Ken­ner der Levan­te zu sein.

Islamischer Staat
Isla­mi­scher Staat (IS)

Mit Bomben das Feuer der Hölle anfachen

Noch deut­li­cher wird der reli­giö­se Cha­rak­ter inner­is­la­mi­scher Krie­ge im eska­lie­ren­den Kampf zwi­schen Jor­da­ni­en und dem Isla­mi­schen Staat. Die ISla­mi­sten hat­ten Anfang Janu­ar 2015 einen gefan­ge­nen jor­da­ni­schen Pilo­ten bei leben­di­gem Lei­be ver­brannt. Bei der spä­te­ren Ver­öf­fent­li­chung erklär­ten sie, so wer­de ein Ungläu­bi­ger behan­delt, der die (IS)Muslime angrei­fe. Ein Ver­tre­ter der ägyp­ti­schen Al-Azhar-Uni­ver­si­tät dozier­te, Mus­li­me dürf­ten ande­re nicht bei leben­di­gem Lei­be ver­bren­nen, nur Allah dür­fe Men­schen in der Höl­le ver­bren­nen. Jor­da­ni­sche Pilo­ten woll­ten die­se Höl­len­zeit nicht abwar­ten. Sie schrie­ben auf ihre Maschi­nen Koran­ver­se, nach denen sie mit ihren Rake­ten den ungläu­bi­gen ISla­mi­sten das Feu­er der Höl­le schon jetzt berei­ten wollten.

Der Schrift­stel­ler Navid Ker­ma­ni, aus dem Iran stam­mend, hat­te kürz­lich bei sei­ner jour­na­li­sti­schen Erkun­dungs­rei­se durch den Irak Gele­gen­heit, eben­falls das öffent­lich­keits­scheue Schii­ten-Ober­haupt al-Sista­ni zu inter­view­en. Dabei stell­te er auch eine kri­ti­sche Fra­ge zur isla­mi­schen Tra­di­ti­on der Ein­heit von Poli­tik und Reli­gi­on. Al-Sista­ni reagier­te brüsk mit der vier­ma­li­gen Gegen­fra­ge: Habe Moham­med nicht die Ein­heit von Islam und Staat prak­ti­ziert? Von Scholl-Latour hat man sol­che kri­ti­sche Fra­gen zur Reli­gi­ons­po­li­tik nie gehört. Aus sei­nem Buch ergibt sich, dass er unkri­tisch das moham­me­da­nisch-isla­mi­sche Dog­ma zur Ein­heit von Reli­gi­on und Poli­tik, Islam und Staat als gege­ben akzep­tiert, ohne dar­in die Basis für isla­mi­sche Into­le­ranz und reli­giö­se Legi­ti­mie­rung von Gewalt zu sehen.

Der sunnitische Dschihadismus basiert auf dem Wahabismus der Saudis

Ker­ma­ni berich­tet von Zusam­men­hän­gen, die Scholl-Latour ver­bor­gen blei­ben – wohl wegen sei­ner Islam-Sym­pa­thie: Der Isla­mi­sche Staat wird von Ira­kern als west­li­ches Pro­dukt wahr­ge­nom­men. Das hat rea­le Grün­de in dem sau­di-ara­bi­schen Geld­strom und Waf­fen­lie­fe­run­gen, durch die die ISla­mi­sten lan­ge Zeit auf­ge­päp­pelt wur­den. Sau­di-Ara­bi­en ist nun mal der eng­ste Ver­bün­de­te des Westens im Nahen Osten. Daher wird sein Han­deln als Ver­län­ge­rung der west­li­chen Poli­tik gese­hen. Außer­dem beruht der isla­mi­sche Dschi­ha­dis­mus auf der fun­da­men­ta­li­sti­schen Ideo­lo­gie der Sau­dis, dem Waha­bis­mus. 92 Pro­zent der Sau­dis sehen im Isla­mi­schen Staat den wah­ren Islam verkörpert.

Der blinde Fleck im leuchtenden Auge des Journalisten

Wie oben ange­deu­tet, will Scholl-Latour nicht erken­nen und wahr­ha­ben, dass die neu­en isla­mi­schen Gewalt-Bewe­gun­gen wie Al Quai­da, Isla­mi­scher Staat oder El Schee­bab sich als Teil der sala­fi­sti­schen Reak­ti­on strikt und streng­gläu­big auf Moham­med und den Früh­is­lam bezie­hen. Die­ser blin­de Fleck des Jour­na­li­sten beruht wohl auch dar­auf, dass er beim Namen des Pro­phe­ten leuch­ten­de Augen bekommt oder bei der „Erwäh­nung Allahs ehr­fürch­tig“ wird (Sure 8,3). Die­sen Ein­druck hat man in einer Pas­sa­ge auf Sei­te 41, in der er ein über­schwäng­li­ches Preis­lied auf Moham­med singt:

Scholl-Latour zitiert einen Koran­spruch Moham­meds, nach dem Allah sowohl der Ori­ent als auch der Okzi­dent, also Mor­gen­land und Abend­land gehört. Die­sen Macht- und Erobe­rungs­an­spruch im Namen Allahs, den der Kriegs­herr Moham­med und sei­ne Nach­fol­ger mit Feu­er und Schwert durch­setz­ten, ver­nied­licht Scholl-Latour zu einem „edlen und erha­be­nen Wunsch“ des Pro­phe­ten. Gegen­über sol­chem sanft-harm­lo­sen Ansin­nen wür­den sich die heu­ti­gen Kräf­te des Islam „in sein dia­bo­li­sches Gegen­teil ver­keh­ren“. Scholl-Latour ver­kennt oder will nicht wahr­ha­ben, dass die heu­ti­gen Isla­mi­sten sich bei allen aggres­si­ven Erobe­rungs­krie­gen, beim Beu­te­ma­chen und Töten, prä­zi­se auf Moham­med und sei­ne Gefähr­ten beru­fen kön­nen. Es ist also das Gegen­teil von dem der Fall, was der Jour­na­list bejam­mert: Es sei eine „grau­si­ge Ver­zer­rung des hei­li­gen Tex­tes, wenn man an die Greu­el von Liby­en über Syri­en und Irak bis zu den ent­fes­sel­ten Pira­ten von Abu Say­yaf auf den Süd-Phil­ip­pi­nen denkt“.

Die Saat der Gewalt ist in der islamischen Urschrift angelegt

Scholl-Latour scheint nur die fried­lich-freund­li­chen Stel­len des Korans zu ken­nen: „Man könn­te mei­nen, die erha­be­nen Bot­schaft des Pro­phe­ten Moham­med sei ver­drängt wor­den durch die Ein­flü­ste­run­gen des Bösen“. Ist es eine erha­be­ne Bot­schaft, wenn Moham­med zu Kampf, Ver­fol­gung und Töten von Anders­gläu­bi­gen auf­ruft? Die Zitie­rung der ent­spre­chen­den Koran­stel­len wür­de meh­re­re Sei­ten ausfüllen.

Eine ande­re Ver­brä­mung des Koran besteht dar­in, die isla­mi­sche Urschrift allein auf den Begriff „Islam ist Barm­her­zig­keit“ zu brin­gen, wie man das von dem Mün­ste­ra­ner Islam-Leh­rer Khor­chi­de kennt. In die­sem Gei­ste schwärmt Scholl-Latour von dem „heh­ren Bekennt­nis Moham­meds, das unzäh­li­ge Male die „Barm­her­zig­keit und das Wohl­wol­len Allahs auf sei­ne Gläu­bi­gen nie­der­ruft“. Die Sure acht beginnt unter der Über­schrift „Die Beu­te“ mit der Anru­fung „Allahs, des All­barm­her­zi­gen“, um dann sei­ten­lang über Krieg gegen Anders­gläu­bi­ge und Beu­te­ver­tei­lung zu dozie­ren: „Mit dem Schwert zer­stört allen Göt­zen­dienst, mit dem Schwert ver­brei­tet den Islam.“ – so die Text­va­ri­an­te zum Suren-Vers 8,40.

Zwiespältiges Gesamturteil

Auf dem Hin­ter­grund die­ser letz­ten Über­le­gun­gen fällt das Gesamt­ur­teil zu Scholl-Latours letz­tem Buch zwie­späl­tig aus: Es bleibt sein Ver­dienst, vie­le poli­ti­sche und reli­giö­se Kon­stel­la­tio­nen, Stim­mun­gen und Strö­mun­gen des Ori­ents kennt­nis­reich aus­ge­leuch­tet zu haben. Auf­grund sei­ner mehr als 60jährigen Erfah­run­gen und Erkun­dun­gen vor Ort kann er das Schei­tern der zick­zack­haf­ten west­li­chen Inter­ven­ti­ons­po­li­tik, ins­be­son­de­re der USA, kri­tisch und über­zeu­gend dar­le­gen. Aber die reli­giö­se Basis der „ori­en­ta­li­schen Men­ta­li­tät“ scheint er nicht rea­li­stisch zu sehen, er redet wie ein Islam-Sym­pa­thi­sant vom „edlen“ Moham­med und sei­nen „erha­be­nen“ Reden. Wer aber die Saat der reli­giö­sen Gewalt- und Kriegs­auf­ru­fe Moham­meds aus­blen­det, wer die dämo­ni­sie­ren­den Ver­nich­tungs­re­den gegen alle „Ungläu­bi­gen“ nicht wahr­neh­men will, wer die Wucht der früh-isla­mi­schen Erobe­rungs­krie­ge unter den Tisch fal­len lässt, wer den tau­send­jäh­ri­gen Skla­ven­han­del aller isla­mi­schen Rei­che nicht erwäh­nens­wert fin­det, der kann kaum bean­spru­chen, die isla­mi­sche Men­ta­li­tä­ten in Geschich­te und Gegen­wart ver­stan­den zu haben.

Text: Hubert Hecker
Bild: AmmanNews/​Morocoon (Screen­shots)

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Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

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