Eine Buchbesprechung zu Peter Scholl-Latours letztem Werk: Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient, Berlin 2014.
Von Hubert Hecker
Kurz vor seinem Tode im August 2014 konnte der bekannte Journalist Peter Scholl-Latour das angegebene Buch fertigstellen. So wurde es Abschluss und Vermächtnis seines 65jährigen Journalistenlebens. Es ist für den Leser von großem Gewinn, wenn der weit- und weltgereiste Journalist immer wieder Erfahrungen, Personen, Schauplätze und Ereignisse aus früheren Erkundungsreisen in die aktuellen Lagebeschreibungen einwebt.
Unabhängige Journalisten sind Pressionen ausgesetzt
Ruf und Ansehen von Scholl-Latour gründen darauf, dass er seine journalistische Unabhängigkeit bewahren konnte, sich nicht politisch vorspannen ließ, jedenfalls nicht von Seiten seiner Auftraggeber. Und erst recht war er nicht käuflich, wie das der Kollege Ulfkotte in seinem Buch „Gekaufte Journalisten“ bei vielen aus der jüngeren Journalisten-Generation beklagt. (Am Schluss dieser Rezension wird man allerdings sehen, wie sich Scholl-Latour für eine ideologische Sicht von Koran und Islam einspannen ließ.)
Im Einleitungskapitel „Gefangene der eigenen Lügen“ macht Scholl-Latour eine tour d’ horizont zur aktuellen Weltpolitik. Dabei bekommt man einen Eindruck von seinem souveränem Urteil angesichts der komplexen Weltlage, aber auch den Gefährdungen eines unabhängigen Journalismus. Schon vor über 50 Jahren wurde Scholl-Latour unter politische Pressionen gesetzt, als er dem US-amerikanischen Vietnam-Krieg einen tragischen Ausgang voraussagte. Heute sieht er gegen Russland und den „neuen Zaren Putin“ eine „systematische Desinformationskampagne amerikanischer Propagandainstitute“, die die „europäische Medienlandschaft gründlich zu manipulieren“ vermochte. Die Europäer sollten dadurch gewarnt sein, wie oft sich die Amerikaner seit dem 2. Weltkrieg im „Netz der eigenen Lügen“ verstrickt hätten. Scholl-Latour führt auf: die gezielte Falschmeldung über den Tonking-Zwischenfall 1964, die Irreführung Saddam Husseins durch eine amerikanische Gesandte für eine unbehelligte Kuweit-Annexion und insbesondere die freche Lüge der Regierung George Bush’ über das irakische C‑Waffenarsenal, um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu führen.
Unfähigkeit, sich in die Mentalitäten fremder Kulturen hineinzuversetzen
Mit dem letzten Punkt ist das Hauptthema des Buches angerissen: „Das Scheitern des Westens im Orient“. Den entscheidenden Grund für das Scheitern der westlichen Führungsmacht USA sieht Scholl-Latour in deren „Unfähigkeit, sich in die Mentalitäten fremder Kulturen hineinzuversetzen“. Getrieben von ihrem geostrategischen Dominanzstreben sowie dem Vorrang ihrer Wirtschaftsinteressen, führten die vielen Fehleinschätzungen zu einer schwankenden, inkonsequenten und zickzackhaften Orientpolitik. Das wird im Buch bei den Ländern Libyen, Ägypten, Libanon, Irak, Iran, Türkei und natürlich am aktuellen Syrien-Konflikt fallweise erläutert.
Zu jedem der genannten Länder berichtet Scholl-Latour in unterschiedlicher Gewichtung von historischen und soziologischen Hintergründen, politischen Entwicklungen sowie religiösen Gruppenkonflikten. Diese Gegebenheiten werden jeweils vermittelt durch Gesprächspartner, über die Beschreibung von geschichtsträchtigen Orten, als Reiseberichte oder im Rückgriff auf ältere Interviews – z. B. mit dem iranischen Ajatollah Chomeini, dem irakischen Schiiten-Oberhaupt Ali al-Sistani, dem türkischen Parteiführer Recep Tayyip Erdogan u. a. Eine solche Darstellungsform macht das Buch lebendig und kurzweilig. Die Kehrseite dieses journalistischen Vorgehens besteht darin, dass manche Schwerpunkt-Geschichten eher vom Zufall des Reporter-Interessens als von der politischen Wichtigkeit gesetzt werden, andere schwergewichtige Orient-Mitspieler wie etwa Saudi-Arabien oder die kleineren arabischen Ölstaaten sind nur am Rande behandelt.
Schiiten und Alawiten
In der Religionsgeschichte des Orients kennt sich Scholl-Latour am gründlichsten bei der Schia-Partei aus. In den entsprechenden Kapiteln ist mit Gewinn zu erfahren, wie tief die historischen Erfahrungen der Schiiten ihre aktuellen „Mentalitäten“ prägen – etwa die Selbstopferungshaltung im Iran-Irak-Krieg der 80er Jahre. Über den Schia-Gründer Ali Ibn Abi Talip ist die Gruppe der Aleviten mit den Schiiten verbunden. Die etwa 12 Millionen Anhänger leben weitgehend in der Türkei; sie wurden und werden vielfach von den sunnitischen Türken unterdrückt.
Ebenfalls als schiitische Denomination gelten die Alawiten, die sich auf Syrien konzentrieren. Bei dieser Gruppe seien auch persische und pantheistische Einflüsse festzustellen, weshalb sie von den sunnitischen Eiferern noch schärfer als Häretiker verfolgt wurden. Die ewig bedrängte Minderheit der Alawiten nutzte während der französischen Mandatszeit ihre Aufstiegschance in militärische, bürgerliche und akademische Berufe und Positionen. Nach der Proklamation der syrischen Unabhängigkeit wurden sie und die von ihnen dominierte Baath-Partei schnell zur führenden Gruppe in der syrischen Republik. Scholl-Latour meint, dass die Alawiten in der säkularen, nationalarabischen und sozialistischen Reformbewegung „ihre religiöse Revanche über die Rechtgläubigen der Sunna“ entfalteten. Gleichwohl war Syrien, seit 1970 unter der Präsidentschaft des Alawiten Hafez el-Assad und danach seines Sohn Bashar, ein säkularer Staat der Toleranz für die muslimischen und christlichen Konfessionen, „wie sie in der übrigen islamischen Welt ziemlich einmalig ist“ – so Scholl-Latour.
Syrien hatte sich in den 70er und 80er Jahren verschiedener Aufstände der fundamentalistischen Muslim-Bruderschaft zu erwehren, die Assad sen. mit äußerster Härte niederschlug. Aber der wirtschaftsliberale und religionstolerante Kurs des alawitischen Präsidenten hätten die sunnitische Mittelschicht zu einem modus vivendi animiert. Außenpolitisch waren die Russen bevorzugte Partner – insbesondere zur Lieferung von Militärgütern. Aber auch die USA und Israel hielten den säkularen syrischen Staat bis 2010 eher für einen Stabilitätsfaktor im Nahen Osten.
Was brachte die Wende zum heutigen Bürgerkrieg in Syrien?
Scholl-Latour kann dazu die Ausführungen eines Majors der Freien Syrischen Armee anführen: Im März 2011 war die Rebellion des „Arabischen Frühlings“ in die syrische Grenzstadt Deraa übergeschwappt. Doch die eigentlichen Drahtzieher eines geplanten Umsturzes saßen in Washington, Riad, Amman, in Doha und auch in Jerusalem. Unter der Regie der CIA sowie finanziert von den Saudis und Qatar wurden ab 2010 auf jordanischem Boden die Strukturen einer schlagkräftigen Oppositionsarmee aufgebaut. Man hoffte und plante, dass die frustrierten Massen in Syrien beim Auftauchen einer westlich orientierten Resurrektionsarmee in einem Volksaufstand das Assad-Regime wegfegen würde – wie in Tunis, Libyen oder in Kairo.
Der FSA-Major nennt diese von außen konzipierten Umsturzpläne einen „Komplott“. Im Ergebnis seien die westlichen Geheimdienste „Opfer ihrer eigenen Wunsch- und Fehlplanungen“ geworden. Scholl-Latour ergänzt dazu, dass Frankreich, das bis 2009 die Baath-Regierung unterstützt hatte, von superreichen sunnitischen Geldgebern aus Qatar für das Umsturz-Bündnis gegen Assad regelrecht „gekauft“ worden sei.
Was aber waren die Motive und Ziele der Amerikaner, den einzigen säkularen und vergleichsweise religionstoleranten Staat im Nahen Osten zu destabilisieren, seinen Regenten zu stürzen?
Die Motive der USA für den syrischen Bürgerkrieg
Seit dem Umsturz des Ruholla Chomeini 1979 gilt den Amerikanern der schiitische Iran als ein Schurkenstaat. Daher rüsteten sie den westlichen Nachbarstaat Irak auf und trieben Saddam Hussein in einen Krieg mit dem Iran. Nach dessen Kuweit-Abenteuer wurde das Saddam-Regime zur neuen Feindmacht erklärt und mit zwei Kriegen überzogen. Im Ergebnis brachten die Amerikaner die schiitische Mehrheit an die Macht – und damit einen neuen Verbündeten des Iran. Zugleich war nun von der afghanischen Grenze bis zum Mittelmeer eine geschlossene Landbrücke von schiitischen Mächten entstanden – im Iran, Irak und Syrien. Auch im Libanon war die schiitische Hizbolla erstarkt. Für die Amerikaner galt in diesem schiitischen Landgürtel der syrische Assad-Staat als das schwächste Glied, das man herausbrechen wollte. Eigentlich hätten die Amerikaner nach dem Fehlschlag im Irak zurückhaltender sein müssen, aber anscheinend waren sie auch getrieben von arabischem Geld und sunnitischen Eiferern aus Riad und Qatar.
Amerikanische Destabilisierungspolitik
Das erschütternde Ergebnis der amerikanischen Destabilisierungspolitik ist bekannt: Der syrische Aufstand unter dem Schutz der CIA-geführten Freien Syrischen Armee weitete sich aus, der Assad-Staat schlug mit allen Mitteln zurück. Die zunehmende Anarchie im Lande ließ zuerst die Nusra-Front wachsen, ein sunnitischer Al Quaida-Ableger, und später die Terror-Armee des Islamischen Staates. Gewisse Parallelen mit dem Verlauf des Afghanistan-Kriegs in den 90er Jahren und dem zweiten Irak-Krieg drängen sich auf. Scholl-Latour erinnert noch an den Sturz des national-persischen Ministerpräsidenten Mossadeq, dessen Sturz 1951 durch die CIA er als den „Urknall“ der fehlgeleiteten amerikanischen Destabilisierungspolitik im Orient diagnostiziert. Dieser Hintergrund mag den Journalisten zu dem Buch-Titel inspiriert haben, im Rückgriff auf ein Schillerzitat aus dem Stück Wallenstein: Es sei der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer neues Böses gebären müsste.
Die USA als unmoralische Giftgashändler
Für die Verlogenheit amerikanischer Nahost-Politik führt Scholl-Latour ein weiteres Beispiel an: Präsident Obama hatte den Einsatz von Giftgas durch den syrischen Staat als Rote Linie für den Einsatz amerikanischer Luftangriffe ausgeben. Die Amerikaner spielten sich hier als moralische Vorreiter für die Ächtung von Giftgas auf, wobei sie selbst erst 25 Jahre vorher als unmoralische Giftgashändler aufgetreten waren, die dem irakischen Herrscher Saddam Hussein Hunderte Gasgranaten geliefert hatten. Damit wurden im Krieg um den Schatt al-Arab massenweise iranische Soldaten getötet. Saddam Hussein konnte sogar damit prahlen, seine russische Scud-Raketen mit dem amerikanischen Giftgas zu füllen, um damit die Zivilbevölkerung in Teheran zu bedrohen. Im Syrien-Krieg willigte Assad auf Anraten Russlands schließlich ein, alle seine Giftgas-Reserven von neutralen internationalen Stellen unschädlich machen zu lassen.
Da die Syrien-Politik derzeit am meisten interessiert, sind die betreffenden Ausführungen in Scholl-Latours Buch hier relativ ausführlich dargestellt worden. Mit ähnlich aufschlussreichen Ergebnissen kann sich der Leser über die politischen und religiösen Verhältnisse in der Türkei unter Erdogan, im Iran sowie etwas weniger ausführlich zu den Vorgängen und Konstellationen in Libanon, Ägypten und Libyen informieren.
Schwächen des Buches
Wenig erfährt man über die al-Quaida-Terroristen und noch weniger über die Strategie des Islamischen Staates. Das sind für Scholl-Latour nichts als Rowdy-Banden, die mit dem regulären Islam nichts zu tun hätten, allenfalls Intrigen des „gesteinigten Scheitans“. Nicht erst hier zeigen sich Schwächen und Fehlbewertungen zum Islam im Allgemeinen und im Besonderen zu seinem Potential, immer wieder neue Gewalt-Gruppen zu generieren. Was Scholl-Latour an den Westmächten kritisiert, sich nicht in die Mentalitäten der Orientalen hineinversetzen zu können, das gelingt ihm vorzüglich, aber beeinträchtigt auch seine journalistische Distanz und Unabhängigkeit. Seine beschriebene Nähe zu der Schia-Partei lässt in manchen Passagen Sympathie für die Politik der Schiiten durchscheinen. Ein Journalist sollte sich aber nicht mit der Sache seines Berichtes gemein machen – auch nicht mit einer guten. Gleichzeitig vermisst man Kritik an dem überheblichen Dominanz-Verhalten, das für sunnitische Großsprecher charakteristisch ist.
Religiös motivierte Kriege zwischen Muslimen
Der Journalist Peter Scholl-Latour scheint nichts von den religiösen Dimensionen eines Krieges zwischen zwei islamischen Staaten zu wissen. Beim Irak-Iran-Krieg in den achtziger Jahren mussten sich beide Seiten laut Islamischer Rechtsregeln wechselseitig für Ungläubige erklären. Denn ein Krieg zwischen Muslimen ist im Koran nicht vorgesehen, sogar strikt verboten. Die Dämonisierung der Kriegsgegner als Ungläubige spielt aber für die Motivation der Kämpfenden eine wichtige Rolle. Nur so ist es zu erklären, dass sich von iranischer Seite Hunderttausende von (Kinder-) Soldaten freiwillig zu Kanonenfutter und Gasopfern machten, weil ihnen im Kampf gegen die Ungläubigen (Sunniten) das Paradies versprochen worden war.
Der gleiche Vorgang passiert übrigens derzeit bei der Mobilisierung der irakischen Schiiten gegen den Islamischen Staat: Der schiitische Groß-Ajatollah al-Sistani hat in einer Fatwa die IS-Sunniten zu Ungläubigen erklärt. Damit rechtfertigt er den Krieg gegen IS-Muslime als gottgefällig und allahgewollt. Die schiitischen Jugendlichen melden sich daraufhin in Scharen als Freiwillige für diesen Heiligen Krieg. Wer um diese religiösen Quellen und Motive für einen innerislamischen Krieg nicht weiß und sie nicht in seine journalistischen Darstellungen einbezieht, kann sich nicht rühmen, ein Kenner der Levante zu sein.
Mit Bomben das Feuer der Hölle anfachen
Noch deutlicher wird der religiöse Charakter innerislamischer Kriege im eskalierenden Kampf zwischen Jordanien und dem Islamischen Staat. Die ISlamisten hatten Anfang Januar 2015 einen gefangenen jordanischen Piloten bei lebendigem Leibe verbrannt. Bei der späteren Veröffentlichung erklärten sie, so werde ein Ungläubiger behandelt, der die (IS)Muslime angreife. Ein Vertreter der ägyptischen Al-Azhar-Universität dozierte, Muslime dürften andere nicht bei lebendigem Leibe verbrennen, nur Allah dürfe Menschen in der Hölle verbrennen. Jordanische Piloten wollten diese Höllenzeit nicht abwarten. Sie schrieben auf ihre Maschinen Koranverse, nach denen sie mit ihren Raketen den ungläubigen ISlamisten das Feuer der Hölle schon jetzt bereiten wollten.
Der Schriftsteller Navid Kermani, aus dem Iran stammend, hatte kürzlich bei seiner journalistischen Erkundungsreise durch den Irak Gelegenheit, ebenfalls das öffentlichkeitsscheue Schiiten-Oberhaupt al-Sistani zu interviewen. Dabei stellte er auch eine kritische Frage zur islamischen Tradition der Einheit von Politik und Religion. Al-Sistani reagierte brüsk mit der viermaligen Gegenfrage: Habe Mohammed nicht die Einheit von Islam und Staat praktiziert? Von Scholl-Latour hat man solche kritische Fragen zur Religionspolitik nie gehört. Aus seinem Buch ergibt sich, dass er unkritisch das mohammedanisch-islamische Dogma zur Einheit von Religion und Politik, Islam und Staat als gegeben akzeptiert, ohne darin die Basis für islamische Intoleranz und religiöse Legitimierung von Gewalt zu sehen.
Der sunnitische Dschihadismus basiert auf dem Wahabismus der Saudis
Kermani berichtet von Zusammenhängen, die Scholl-Latour verborgen bleiben – wohl wegen seiner Islam-Sympathie: Der Islamische Staat wird von Irakern als westliches Produkt wahrgenommen. Das hat reale Gründe in dem saudi-arabischen Geldstrom und Waffenlieferungen, durch die die ISlamisten lange Zeit aufgepäppelt wurden. Saudi-Arabien ist nun mal der engste Verbündete des Westens im Nahen Osten. Daher wird sein Handeln als Verlängerung der westlichen Politik gesehen. Außerdem beruht der islamische Dschihadismus auf der fundamentalistischen Ideologie der Saudis, dem Wahabismus. 92 Prozent der Saudis sehen im Islamischen Staat den wahren Islam verkörpert.
Der blinde Fleck im leuchtenden Auge des Journalisten
Wie oben angedeutet, will Scholl-Latour nicht erkennen und wahrhaben, dass die neuen islamischen Gewalt-Bewegungen wie Al Quaida, Islamischer Staat oder El Scheebab sich als Teil der salafistischen Reaktion strikt und strenggläubig auf Mohammed und den Frühislam beziehen. Dieser blinde Fleck des Journalisten beruht wohl auch darauf, dass er beim Namen des Propheten leuchtende Augen bekommt oder bei der „Erwähnung Allahs ehrfürchtig“ wird (Sure 8,3). Diesen Eindruck hat man in einer Passage auf Seite 41, in der er ein überschwängliches Preislied auf Mohammed singt:
Scholl-Latour zitiert einen Koranspruch Mohammeds, nach dem Allah sowohl der Orient als auch der Okzident, also Morgenland und Abendland gehört. Diesen Macht- und Eroberungsanspruch im Namen Allahs, den der Kriegsherr Mohammed und seine Nachfolger mit Feuer und Schwert durchsetzten, verniedlicht Scholl-Latour zu einem „edlen und erhabenen Wunsch“ des Propheten. Gegenüber solchem sanft-harmlosen Ansinnen würden sich die heutigen Kräfte des Islam „in sein diabolisches Gegenteil verkehren“. Scholl-Latour verkennt oder will nicht wahrhaben, dass die heutigen Islamisten sich bei allen aggressiven Eroberungskriegen, beim Beutemachen und Töten, präzise auf Mohammed und seine Gefährten berufen können. Es ist also das Gegenteil von dem der Fall, was der Journalist bejammert: Es sei eine „grausige Verzerrung des heiligen Textes, wenn man an die Greuel von Libyen über Syrien und Irak bis zu den entfesselten Piraten von Abu Sayyaf auf den Süd-Philippinen denkt“.
Die Saat der Gewalt ist in der islamischen Urschrift angelegt
Scholl-Latour scheint nur die friedlich-freundlichen Stellen des Korans zu kennen: „Man könnte meinen, die erhabenen Botschaft des Propheten Mohammed sei verdrängt worden durch die Einflüsterungen des Bösen“. Ist es eine erhabene Botschaft, wenn Mohammed zu Kampf, Verfolgung und Töten von Andersgläubigen aufruft? Die Zitierung der entsprechenden Koranstellen würde mehrere Seiten ausfüllen.
Eine andere Verbrämung des Koran besteht darin, die islamische Urschrift allein auf den Begriff „Islam ist Barmherzigkeit“ zu bringen, wie man das von dem Münsteraner Islam-Lehrer Khorchide kennt. In diesem Geiste schwärmt Scholl-Latour von dem „hehren Bekenntnis Mohammeds, das unzählige Male die „Barmherzigkeit und das Wohlwollen Allahs auf seine Gläubigen niederruft“. Die Sure acht beginnt unter der Überschrift „Die Beute“ mit der Anrufung „Allahs, des Allbarmherzigen“, um dann seitenlang über Krieg gegen Andersgläubige und Beuteverteilung zu dozieren: „Mit dem Schwert zerstört allen Götzendienst, mit dem Schwert verbreitet den Islam.“ – so die Textvariante zum Suren-Vers 8,40.
Zwiespältiges Gesamturteil
Auf dem Hintergrund dieser letzten Überlegungen fällt das Gesamturteil zu Scholl-Latours letztem Buch zwiespältig aus: Es bleibt sein Verdienst, viele politische und religiöse Konstellationen, Stimmungen und Strömungen des Orients kenntnisreich ausgeleuchtet zu haben. Aufgrund seiner mehr als 60jährigen Erfahrungen und Erkundungen vor Ort kann er das Scheitern der zickzackhaften westlichen Interventionspolitik, insbesondere der USA, kritisch und überzeugend darlegen. Aber die religiöse Basis der „orientalischen Mentalität“ scheint er nicht realistisch zu sehen, er redet wie ein Islam-Sympathisant vom „edlen“ Mohammed und seinen „erhabenen“ Reden. Wer aber die Saat der religiösen Gewalt- und Kriegsaufrufe Mohammeds ausblendet, wer die dämonisierenden Vernichtungsreden gegen alle „Ungläubigen“ nicht wahrnehmen will, wer die Wucht der früh-islamischen Eroberungskriege unter den Tisch fallen lässt, wer den tausendjährigen Sklavenhandel aller islamischen Reiche nicht erwähnenswert findet, der kann kaum beanspruchen, die islamische Mentalitäten in Geschichte und Gegenwart verstanden zu haben.
Text: Hubert Hecker
Bild: AmmanNews/Morocoon (Screenshots)