
(Rom) Die kirchlichen Bestimmungen sehen im Zusammenhang mit Erscheinungen vor, daß die zuständige kirchliche Autorität feststellt, daß die Erscheinungen „übernatürlich“ (supranaturaliter) sind, oder daß sie „nicht übernatürlich“ (non supranaturaliter) sind. Wird für Medjugorje ein dritter Weg beschritten?
Papst Franziskus erwähnte auf dem Rückflug von Sarajewo die 17köpfige Internationale Medjugorje-Untersuchungskommission, die 2010 von Papst Benedikt XVI. eingesetzt wurde, um das Phänomen angeblicher Marienerscheinungen in dem herzegowinischen Bergdorf zu untersuchen. Geleitet wird die Kommission von Kardinal Camillo Ruini, dem langjährigen Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz (1991–2007) und engen Vertrauten von Papst Johannes Paul II. Als dem Kardinal mitgeteilt wurde, daß Papst Franziskus den Abschlußbericht der Kommission mehrfach im Flugzeug gegenüber den Journalisten als „bedeutende Arbeit“ gelobt hatte, entfuhr es Ruini spontan: „Immerhin. Das freut mich.“
Bevorzugt Rom eine behutsame Lösung?

Eine Aussage, die offenbar auf die lange Dauer einer Entscheidung gemünzt ist. Die Kommission hat ihre Arbeit kurz vor dem Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. abgeschlossen. Seither liegt der Abschlußbericht in Rom. Das argentinische Kirchenoberhaupt scheint es nicht eilig zu haben. In Rom gilt die Hauptsorge nämlich dem Teil der Gläubigen, die so sehr von der Echtheit Medjugorjes überzeugt sind, daß ein negatives Urteil der Kirche sie erschüttern oder gar der Kirche und dem Glauben entfremden könnte.
Aus diesem Grund wird eine „behutsame“ Lösung gesucht, die Gegner, wie den Bischof von Mostar, und Anhänger, wie den Erzbischof von Wien, ohne Gesichtsverlust zufriedenstellt, die Gültigkeit der negativen Entscheidung der Jugoslawischen Bischofskonferenz von 1991 aufrecht läßt und die Gläubigen leitet. In der Kirche bedeutet das manchmal, nicht zu entscheiden, und eine Frage „auszusitzen“.
Interview mit dem Mariologen und Kommissionsmitglied Salvatore Maria Perrella
Am Dienstag nahm mit Pater Salvatore Maria Perrella ein weiteres Mitglied der Untersuchungskommission öffentlich Stellung. Der Servitenpater ist Rektor der Päpstlichen Theologischen Fakultät Marianum in Rom und lehrt Dogmatik und Mariologie.
„Wir haben gründlich und ernsthaft gearbeitet“, wird Pater Perrella von der Tageszeitung Avvenire zitiert. Das Urteil Roms werde der Tatsache Rechnung tragen und betonen, daß „Erscheinungen immer möglich sind“, und wenn sie als echt anerkannt werden, „ein Geschenk Gottes darstellen“, so der Mariologe.
„Die Kirche hat aber die Pflicht, den Primat der Offenbarung zu bewahren, indem sie diese besonderen Ereignisse nur als Unterstützung des Evangeliums Christi versteht“, so Pater Perrella. „Die Jungfrau Maria ist strahlend, aber dennoch immer ein Geschöpf Gottes, das nie die Begegnung mit Christus verdunkelt, sondern immer fördert. Es gelten die Worte Mariens im Johannes-Evangelium: ‚Was Er euch sagt, das tut‘. Wie Johannes Paul II. lehrte, gehören die Erscheinungen zur mütterlichen Mittlerrolle Mariens.“
Lebenswandel der „Seher“ wichtig – Botschaften auf „doktrinelle Zweideutigkeiten“ untersucht
Der Mariologe wies auf die Bedeutung eines rechten Lebenswandels der Seher hin. „Wenn sie echt sind, suchen sie die Visionen nicht. Es ist vielmehr Gott, der sie führt. Es ist zudem notwendig, daß sie ein kristallklares evangeliengemäßes Leben führen; zudem dürfen sie nicht das Rampenlicht suchen.“
Die Beurteilung des Phänomens Medjugorje durch die Untersuchungskommission erfolgte, so Pater Perrella, nach den zuletzt von Papst Paul VI. ergänzten Kriterien. Es gebe „positive Kriterien“: „Auch der Ort der Ereignisse hat seine Bedeutung, weil er reiche und dauerhafte geistliche Früchte aufweisen muß: Das heißt, Beweise für Bekehrungen, Zeugnisse der Nächstenliebe und Berufungen suchen.“
Es gebe aber auch „negative Kriterien“, so der Mariologe: „Es wird der offenkundige Irrtum im Zusammenhang mit dem Ereignis bewertet, zum Beispiel die Lüge oder das Fabulieren. Zudem werden eventuelle doktrinelle Zweideutigkeiten in den Botschaften analysiert oder Gewinnstreben geprüft, das heißt, ob die ‚Seher‘ oder andere ’Nutznießer‘ mit den Ereignissen spekulieren. Auch die Wissenschaft liefert ihren Beitrag: beispielsweise durch Feststellung psychologischer Krankheiten.“
Eine dritte Entscheidungsmöglichkeit?

Aufgrund seiner Schweigepflicht sagte der Mariologe nicht, zu welchem Schluß die Untersuchungskommission gekommen ist. Dafür sagte er aber Erstaunliches über deren Urteilsmöglichkeiten. Avvenire hob seine Worte in Fettdruck hervor. Hat der Servitenpater damit die Entscheidung des Vatikans vorweggenommen?
„Sie kann sagen, daß mit moralischer Gewißheit eine Übernatürlichkeit vorliegt. Oder daß es sich um das Ergebnis von Betrug handelt und daher nicht von Gott kommt. Sie hat noch eine dritte Möglichkeit, die nicht in den Bestimmungen des Heiligen Stuhls enthalten, aber von den Theologen überlegt wurde: Die Kommission entscheidet sich weder für ein Ja noch ein Nein, sondern stellt fest, daß derzeit nicht auf eklatante Weise eine übernatürliche Erscheinung offensichtlich ist.“
Pater Perrella nennt eine Nicht-Entscheidung als „dritten Weg“. Als Mitglied der Untersuchungskommission darf angenommen werden, daß er sich damit nicht bloß theoretischen Spekulationen hingegeben hat.
Als Gebetsstätte anerkennen, direkt Rom unterstellen und nichts definitiv zu Erscheinungen sagen
Am 14. August 2013 veröffentlichte Ignazio Ingrao im Wochenmagazin Panorama den Artikel: „Wird Papst Franziskus Medjugorje bremsen?“ Das war einen Monat, bevor das neue Kirchenoberhaupt erstmals inoffiziell zu Medjugorje Stellung nahm. Ingrao schrieb damals:
„Nach den Vorbehalten zu Medjugorje, die während des Pontifikats von Benedikt XVI. vorgebracht wurden, […] hoffen nun viele, daß die Marienverehrung Bergoglios ihn veranlassen wird, die Erscheinungen offiziell anzuerkennen.
Laut ersten Indiskretionen, die Panorama vorliegen, scheint im Gegenteil, daß die Lösung, die die Kommission dem Papst vorschlagen will, darin besteht, Medjugorje als einfache Gebetsstätte anzuerkennen, aber der direkten Kontrolle des Heiligen Stuhls zu unterstellen. Ohne sich also definitiv zu den Erscheinungen zu äußern.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Medjugorje.pro/Secretum meum mihi (Screenshots)