Wenn man im Kontext des Disputs über die Liebe schreiben will, riskiert man viel. Gerade hier darf die Art der Rede den Inhalt nicht diskreditieren. – Von daher sind folgende Zeilen ein Wagnis.
Näherhin geht es um das Liebesgebot. John Lamont hat auf dem Blog Rorate-Caeli gegen Vatikanum II, Gaudium et Spes Nr. 24 den Vorwurf erhoben, hier würde mit der konkreten Kennzeichnung des Liebesgebotes bzw. der Liebesgebote (und hier beginnt schon das Problem) geradewegs gegen die Treue zum Herrenwort im Neuen Testament gesündigt.
Die faktische Bedeutung dieser Notiz für das Gespräch mit „den Traditionalisten“ (wobei sich Lamont gerade nicht der FSSPX oder deren Umkreis zurechnet) ist wohl eher gering zu veranschlagen. De jure handelt es sich jedoch um einen Vorwurf von enormem Gewicht. – Und ich möchte die Gelegenheit ergreifen, auf diesem Blog den Vorwurf wenigstens entschieden zu entkräften.
Denn: Wenngleich ich – vor dem Hintergrund der Causa FSSPX – stets für eine größere Offenheit in Sachen Vatikanum II plädiert habe, allerdings unter entschiedener Wahrung bestimmter „Untergrenzen“, so liegt mir im Gegenzug daran, nach Möglichkeit die tatsächliche Vertrauenswürdigkeit der Konzilsaussagen (eben auch anhand inhaltlicher Kriterien) herauszuarbeiten. Und so erfüllt es mich auch mit einem gewissen Unwillen, wenn immer wieder und dabei überflüssigerweise neue Hürden errichtet werden.
Und so eine Hürde sehe ich mit Lamonts Einspruch denn auch errichtet. – Wie lautet nun aber sein Einspruch? Das Konzil hatte an besagter Stelle (GS 24) so formuliert: „Deshalb ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten das erste und größte Gebot.“ – Im Neuen Testament lesen wir aber (unter anderem) bei Matthäus (22,37–39): „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben … Dies ist das große [/ größte] und erste Gebot. Ein zweites aber ist diesem ähnlich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – Hat somit nicht das Konzil die vom göttlichen Meister selbst vorgenommene Hierarchisierung verraten, indem es (schon schier blasphemisch) die Liebe zu Gott und zum Nächsten unter das „erste und größte Gebot“ subsumierte? Wird damit nicht dem säkularen Humanismus gehuldigt?
Ein Vorbild oder wenigstens einen Vorgänger für die formelhaft-gedrängte Ausdrucksweise des Konzils weiß ich nun, zumal in der Kürze der Zeit, nicht zu benennen. Aber, im Sinne eines methodisch vielleicht etwas einsilbigen, aber ebenso bewährten wie ergiebigen „Geht zu Thomas!“ („Ite ad Thomam!“) läßt sich nach meinem Dafürhalten das Recht der Ausdrucksweise des Konzils massiv erhärten, ohne daß dies Verrat bedeutet an jener Hierarchisierung, wie sie das Herrenwort deutlich einfordert.
Nahezu vorexerziert bekommen wir die Antwort vom Aquinaten in dessen Summe, und zwar unter II/II, 44,2. Ich kann nur die gründlich-meditierende Lektüre empfehlen! Knapp läßt sich die Erläuterung des heiligen Thomas so zusammenfassen: Wie im Theoretischen die Reichweite („Kraft“) der Prinzipien mitumfaßt die Folgerungen, derer wir uns wegen unserer Begrenztheit eigens vergewissern müssen, so ist im Praktischen im Ja zum Ziel eo ipso mitgegeben das Ja zu dem, was auf das Ziel hingeordnet ist (wenn nämlich das Ja zum Ziel mit dem Nicht-Ja zu dem auf das Ziel Hingeordneten unvereinbar ist); entsprechend ist im Gebot zur Bejahung oder Realisierung des Ziels das Gebot zur Bejahung oder Realisierung des darauf Hingeordneten eingeschlossen, noch bevor letzteres ausdrücklich gemacht wird, und zwar mit Notwendigkeit ausdrücklich gemacht wird. Von daher Thomas‘ Resümee: „Und deshalb mußte nicht nur das Gebot über die Liebe zu Gott gegeben werden, sondern auch über die Liebe zum Nächsten, [und zwar] wegen denjenigen mit geringerer Fassungskraft, die nicht mit Leichtigkeit in Betracht ziehen würden, daß das eine dieser Gebote im anderen enthalten ist.“ – Ich zitiere noch das Ad-secundum und das Ad-quartum: „Gott wird im Nächsten geliebt wie das Ziel in dem, was auf das Ziel hin ist. Und dennoch mußten betreffs beiderlei [nämlich Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten] Gebote gegeben werden, aus bereits besagtem Grund.“ – „In der Liebe zum Nächsten ist eingeschlossen die Liebe zu Gott wie das Ziel in dem, was auf das Ziel hin ist, und umgekehrt. Und dennoch mußte jedes Gebot explizit gegeben werden, aus bereits besagtem Grund.“
Also: Mit Blick auf das Einschlußverhältnis (wonach Gottesliebe und Nächstenliebe – auf je andere Weise – einander einschließen) ist „das Liebesgebot“ ein einziges Gebot; hinsichtlich der Explikation sind es zwei Gebote. – Von daher: Wenn beziehungsweise insoweit die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten unter ein einziges Gebot fallen, ist dieses eine, beides umfassende Gebot auch das „erste und größte“; nicht wegen der gebotenen Nächstenliebe, sondern wegen der gebotenen Liebe zu Gott (in der ja jene finalisiert ist). – Wenn beziehungsweise insoweit es (hinsichtlich der Explikation) zwei Gebote sind, besteht ein hierarchisches Gefälle zwischen diesen Geboten, und dies gemäß dem unermeßlichen Hiat von Schöpfer und Geschöpf, höchstem Gut und daran bloß Teilhabendem: der Inhalt des Gebotes der Liebe zu Gott ist Ziel des Inhaltes des Gebotes der Nächstenliebe (so wie Summum-Bonum und das dessen Gleichnis Partizipierende [1]Konkret: Gottes seliger Selbstbesitz und die in der Gnade daran (aktuell oder potentiell) Teilnehmenden. sich zueinander als Ziel und Hin-auf-das-Ziel verhalten). Entsprechend steht der Inhalt des Gebotes der Nächstenliebe, insofern er präzis gegen den Inhalt des Gebotes der Liebe zu Gott abgehoben wird, und so dieses Gebot selber gemäß dem Wort unseres Herrn erst an zweiter Stelle, um dem ersten und größten Gebot (der Liebe zu Gott) nur ähnlich zu sein. – Ergo: Die sehr knappe Fassung in Vatikanum II GS 24 läuft in gar keiner Weise auf eine vermessene Verfälschung der Herrenworte zu den Grundgeboten der Liebe hinaus!
Da meine Notiz auf Knappheit angelegt ist, darf ich nicht überbordend werden. Aber man verzeihe mir, daß ich kaum widerstehen kann, noch aus dem Matthäuskommentar des hl. Thomas zu zitieren; just zur Stelle (22,38) hat er folgendes zu sagen:
„Nachdem Er dies [nämlich: ‚Du sollst den Herrn, Deinen Gott etc.‘] gesetzt hat, fügt Er bei: ‚Das ist das erste und größte Gebot.‘ Das größte dem Umfang nach: dieses nämlich ist es, in dem alle [Gebote] enthalten sind, da in diesem die Liebe zum Nächsten enthalten ist, demgemäß es in 1 Joh 4,21 heißt: ‚Wer Gott liebt, liebt auch seinen Bruder.‘ Und deshalb ist es das größte. Außerdem das erste dem Ursprung nach und das größte der Würde und dem Umfang nach …“
Selbstredend hindert dies den heiligen Thomas nicht, nachfolgend im Kommentar eigens auf die „Setzung“ des zweiten (Liebes-)Gebotes, des der Liebe zum Nächsten, einzugehen. Den theoretischen Unterbau bieten die Erläuterungen der Summe.
Einen Kommentar des Konzilstextes muß ich mir nun vollends ersparen: Nach Textcollage und Kontextierung mag man problematische Anknüpfungen an das Fluidum der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts ausfindig machen, Tendenzen und Akzentuierungen, die sich längst nicht nur als fruchtbar, vielleicht sogar als verhängnisvoll erwiesen haben. Das mag so sein, und ich sage nicht, daß der Konzilstext „toll“ ist (wie ich ihn noch weniger vorschnell und vermessen disqualifizieren will). Ich will nur dokumentiert haben: Eine Apologie des Textes zugunsten seiner Treue zur Tradition und zumal zum Herrenwort ist möglich; möglich hinsichtlich dessen, was diese Worte strikt an ihnen selber besagen.
Damit endet denn auch mein knapper Debatteneinwurf. – Den Lesern des Forums möchte ich nun noch die Gelegenheit geben, sich zum Gebot der Liebe, wie der Scholastiker sagt, nicht nur in actu signato, sondern auch in actu exercito zu bekennen.
*Dr. theol. Klaus Obenauer ist Privatdozent für Dogmatische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Bild: sspx.org/Iteadthoman
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↑1 | Konkret: Gottes seliger Selbstbesitz und die in der Gnade daran (aktuell oder potentiell) Teilnehmenden. |
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„Hat somit nicht das Konzil die vom göttlichen Meister selbst vorgenommene Hierarchisierung verraten, indem es (schon schier blasphemisch) die Liebe zu Gott und zum Nächsten unter das „erste und größte Gebot“ subsumierte? Wird damit nicht dem säkularen Humanismus gehuldigt?“
Das Konzil ist an sich dazu nicht in der Lage zu solchen Spielchen. Aber sein Geist dieser raffinierte Iltis war und ist ruhelos.
Ich habe so ein ähnliches Problem. Was ist richtig?
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“ oder heisst es vielleicht so „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden seiner Gnade“. Ich sehe schon einen Unterschied.
Per Mariam ad Christum.
Die Summa Theologica des heiligen Thomas von Aquin würde ich gerne meditierend lesen. Können Sie eine gute deutsche Übersetung empfehlen, wenn möglich Latein-Deutsch?
Wulfila:
Die Summa kann man zweisprachig lesen unter http://www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel1.htm.
Inwiefern das am PC meditierend geht, ist eine andere Frage.
Aber besser als gar nicht!
37 Ait autem illi: “ Diliges Dominum Deum tuum in toto corde tuo et in tota anima tua et in tota mente tua:
38 hoc est magnum et primum mandatum.
39 Secundum autem simile est huic: Diliges proximum tuum sicut teipsum.
40 In his duobus mandatis universa Lex pendet et Prophetae.“
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Darin ist eine Hierarchie erkennbar: „Hoc est magnum et primum mandatum.“
Es ist allerdings die Frage, wie man das „similie est“ korrekt übersetzt. Ich kann das nicht als ein „nur ähnlich“ (also „niedriger“) sehen! Denn das entspricht nicht der biblischen Diktion!
„Similis“ bedeutet viel mehr als „nur“ ein „ähnlich“!
Es bedeutet stets ein „von gleicher Art“. „Similis“ ist ein Kind seinen Eltern. „Similis“ sind in der Schrift Mann und Frau („Fleisch von meinem Fleisch etc.). Und in „similitudo“ steht der Mensch – unfassbar! – als Mann und Frau zu Gott nach der Genesis.
Wenn man „similis“ sagt, meint man nicht, das dass weniger sei oder „rangniederer“, sondern im Gegenteil: es ist v.a. gleichartig, unabhängig von einer möglichen Hierarchie!
Das Kind ist dem Vater und der Mutter „similis“, mag ihrer Autorität anvertraut sein, aber es ist nicht i.S. einer wertloseren Substanz von ihnen abgesetzt. In diesem Sinne ist jegliche Hierachie im christlichen Denken zu sehen: wer Autorität hat, hat sie gerade weil er von gleicher Art ist wie der, der ihm anvertraut ist – nicht weil er ontologisch „höher“ stünde als er.
Dass Gott den Menschen so hoch angesiedelt hat, dass Er ihn ursprünglich als seine Similitudo sehen wollte und Seine Imago, führt uns mit Bestürzung vor Augen, was wir verloren haben… aber Er hat uns wieder zurückerworben als „Adoptiv„kinder und Erben aus Gnade.
Doch zurück zum „Similis“ der Nächstenliebe.
Da Jesus sagt „In his duobus mandatis universa Lex pendet et Prophetae“ siedelt Er selbst sie auf einer gleichartigen und nicht voneinander zu trennenden Ebene an.
Vielleicht spielt hier das „Ungetrennt“ und „unvermischt“ eine Rolle – so wie Christus der Gottmensch ist, ja, WEIL Er als Gott Mensch wurde, muss zwingend jede Gottesliebe auch Menschenliebe sein und jede echte Menschenliebe auch Gottesliebe sein. Und so wie der Gottmensch von seiner göttlichen Persönlichkeit her gedeutet werden muss, so muss auch die Nächstenliebe von ihrer Gottesliebe her gedeutet werden.
Das Ärgernis nach dem Konzil ist nicht, dass das nicht so richtig zitiert worden wäre, sondern dass man aufgehört hat, die Einheit beider „Lieben“ zu bekennen und nun die Menschenliebe ausspielt gegen die Gottesliebe, wobei auch die Gottesliebe all zu oft ausgespielt wurde gegen den Menschen.
Wenn man die Verse Text-immanent interpretiert, heißt es:
Das Gebot der Gottesliebe ist das erste und höchste Gebot, aber das Gebot der Nächstenliebe ist gleich wichtig.
Dieses Verständnis passt auch zu Markusversion:
„Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“.
Im weiteren Zusammenhang betrachtet:
Aus Liebe zu Gott sollen die Menschen (auch die Feinde) geliebt werden – die Hierarchie ist evident – trotzdem ist Gottesliebe ohne Nächstenliebe nicht denkbar.