Ab Ende Januar 2010 walzte eine Medienkampagne von riesigem Ausmaß das Ansehen der katholischen Kirche nieder. Im März und April vor fünf Jahren hatte die mediale Missbrauchs-Skandalisierung ihren Höhepunkt erreicht. Die Frankfurter Neue Presse stellte in einem Interview alle katholischen Priester unter Missbrauchsverdacht.
Von Werner Rothenberger
Vor 15 Jahren deckte die Frankfurter Rundschau auf, dass Direktor und Lehrer der hessischen Odenwaldschule ihre anvertrauten Schüler „in inflationärem Umfang“ missbraucht hatten. Dieser erstmaligen Enthüllung von ungeheuerlichen Vorgängen folgten keine weiteren Presseberichte. Lag es an der reformpädagogisch und linksorientierten Schule, dass die Journalisten ihrer Pflicht zu Recherche und Information der Öffentlichkeit nicht nachkamen? Waren die Medienleute zu feige, am Image der Unesco-Schule zu kratzen? Hatten die prominenten Eltern der Schüler die Medien eingeschüchtert, bedroht oder gar Journalisten für ihr Schweigen gekauft? Jedenfalls hätten vor 14 Jahren der Direktor und einige seiner Missbrauchslehrer noch zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn die Medien damals an dieser und anderen öffentlichen Heimschulen zu den vertuschten Missbräuchen recherchiert hätten.
Die Medien betreiben Rufschädigung der Kirche
Ganz anders reagierten die Medien, als die Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg von sich aus zu vergangenen Missbrauchsvorfällen aktiv wurde, indem die Schulleitung die ehemaligen Schüler anschrieb. In den Monaten ab Ende Januar 2010 verbreitete die Presse auf allen Kanälen Hunderte von Artikeln über Missbräuche im kirchlichen Bereich seit 1945. Das Ergebnis dieser Medienkampagne war eine manipulierte Sicht der Gesellschaft auf die Kirche: Die Mehrheit der Bevölkerung war danach der Ansicht, dass Missbräuche im kirchlichen Bereich häufiger als in anderen gesellschaftlichen Institutionen wie Schulen, Internaten oder Vereinen vorkämen. Dagegen bewegen sich die tatsächlichen Zahlen nach den Forschungen der Professoren Pfeiffer und Körber eher im Promille-Bereich.
Wie kommt es, dass die Medien jederzeit „sprungbereit“ sind zur Auswalzung von Mißständen in der Kirche? Warum werden tatsächliche oder vermeintliche sexuelle Verfehlungen im kirchlichen Bereich von der Presse unverhältnismäßig aufgebauscht und skandalisiert?
Vor zwei Jahres lief eine Neuverfilmung von Diderots „Die Nonne“ in den Kinos an. Der französische Aufklärer hatte sich in seinem gleichnamigen Roman darum bemüht, Stereotype über katholisches Ordensleben zu verbreiten: In Klöstern herrsche Unfreiwilligkeit und Unterdrückung. Und: Das Gelübde der Ehelosigkeit bei Nonnen, Mönchen und Priestern führe zu sexuellen Verfehlungen. Seither sind diese antikatholischen Klischees tief in der europäischen Literatur und Publizistik verankert.
Ein anti-katholischer Pogrom als Signal zu Bismarcks Kulturkampf

Der Preußische Kulturkampf gegen die katholische Kirche (1872–78) war durch eine Medienkampagne von Berliner Zeitungen gegen zwei Klostergründungen in Berlin-Moabit vorbereitet worden. Eine durch Medienhetze aufgepeitschte Menge von 3.000 Menschen stürmte im August 1869 in einem antikatholischen Pogrom die beiden Klöster, um die angeblichen Sittlichkeitsverbrechen von katholischen Ordenleuten aufzudecken und vermeintlich eingesperrte Nonnen zu befreien.
In den Kulturkampfjahren wurde die antikatholische Polemik verbreitert. Die weitgehend von liberal-protestantischen Kräften beherrschte Presse bediente dabei ein anti-klerikales Vorurteilsmuster, dass seit der Aufklärung gepflegt wurde: In den Priesterseminaren und Knabenkonflikten sowie den Klöstern würde eine jährlich steigende Zahl von Sittlichkeitsverbrechen vorkommen. Diese Fälle seien in der „Natur der Kirche“ begründet – so der Mediziner Virchow damals. Denn Zölibat und Klostergelübde würden zu geheimen und unnatürlichen Befriedigungen des Sexualtriebs verleiten. Nachdem sich die Presse auf die Jesuiten als die eigentlichen klerikalen Drahtzieher eingeschossen hatte, wurden sie als „Ungeziefer“ und „Volksschädlinge“ vom Staat verboten bzw. ausgewiesen.
Ohne die lang andauernde Medienkampagne wären die massiven Eingriffsgesetze Bismarcks gegen die katholische Kirche kaum durchsetzbar gewesen. Schlimmer noch: Die Kanzel-Gesetze sowie das Verbot und die Ausweisung katholischer Orden waren eindeutige Verstöße gegen die zumindest in Preußen verfassungsmäßig garantierten Grundrechte von Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. In dieser Situation prostituierte sich das Gros der Medien an den allmächtigen Staat und verkaufte ihren Auftrag zur Kritik an unrechtmäßigen staatlichen Übergriffen für das Linsengericht der staatlichen Belobigung.
Die Kampagne der Goebbelspresse zu kirchlichen „Sittlichkeitsverbrechen“

Was die national-liberale und staatstreue Presse im Kulturkampf an anti-katholischen Berichtsmustern hervorgebracht hatte, sollte 60 Jahre später die Nazis wieder hervorholen. In den Jahren 1936/37 führte die Goebbelspresse eine konzentrierte Kampagne gegen die Kirche durch. Die damals gleichgeschalteten Medien waren von der NS-Schaltzentrale angewiesen worden, detailliert und mit vorgegebenen Folgerungen über die sogenannten Sittlichkeitsprozesse zu kirchlichen Personen zu berichten. Es ging dabei hauptsächlich um homosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen bei Priestern und Ordensangehörigen. Bei den insgesamt ca. 250 Prozessen in zwei Jahren wurden weit unter einem Promille der Geistlichen in Deutschland verurteilt. Im gleichen Zeitraum führten die Nazi-Gerichte mehr als 16.000 Prozesse gegen zivile Homosexuelle durch, von denen aber die Presse keine längeren Berichte bringen durfte.
Das von den Nazis erstrebte Ergebnis in der öffentlichen Meinung war es, dass „Sittlichkeitsverbrechen“ vorwiegend mit katholischen Geistlichen, dem Zölibat und Klöstern in Verbindung gebracht werden sollten. Die Wirkung der nationalsozialistischen Rufmordkampagne gegen die Kirche fruchtete vor allem in den Köpfen und Vorurteilen der nicht-katholischen Bevölkerung. Bei den Katholiken gab es von 1937 bis 1939 nur einen geringen Anstieg der Kirchenaustrittszahlen.
Mediale Manipulation der Öffentlichkeit zum Schaden der Kirche
Die monatelange Konzentration der Presse auf Missbräuche in Bereich der katholischen Kirche im Frühjahr 2010 zeigte frappierende Parallelen und ähnliche Ergebnisse zu früheren antikatholischen Medienkampagnen. Wie in der Bismarckzeit traten fast alle Medien ohne irgendwelchen staatlichen Gleichschaltungsdruck, gleichwohl gleichgerichtet auf gegen Missbräuche in katholischen Einrichtungen. Die Medien vermittelten der Bevölkerung den Eindruck, als wenn ein Riesenanteil an der Gesamtzahl von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige im Bereich der Kirche geschehen würde. Tatsächlich stammten nur 0,1 Prozent der Missbrauchstäter aus dem kirchlichen Bereich – so der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer. Die Medien hatten durch die gleichgerichtete Fokussierung ihrer Missbrauchspublikation auf die Kirche ein grotesk verzerrtes Bild von der Wirklichkeit konstruiert. Durch die hochgepeitschten Skandalisierungsmeldungen wurde die öffentliche Meinung extrem manipuliert: Im Sommer 2010 glaubte nach einer Allensbach-Befragung 47 Prozent der Deutschen, dass Missbräuche in der katholischen Kirche „häufig“ vorkämen.
An einer einzigen öffentlichen Schule mehr Missbrauchsopfer als in drei hessischen Bistümern

In Wahrheit kommen Missbrauchsfälle im kirchlichen Bereich signifikant weniger vor als in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Familie, Nachbarschaft, Vereinen, Schulen etc. In einer repräsentativen Studie des Kriminalistischen Forschungsinstituts Niedersachsen bezeichneten sich von 11.500 Befragten 683 als Opfer von sexuellem Missbrauchserfahrungen. Aber nur eine einzige Person gab an, von einem Priester missbräuchlich belästigt worden zu sein. Knapp 60 Personen (8,6 Prozent der Opfer) erwähnten Lehrpersonen als Missbrauchstäter. Als Quote von Missbrauchsopfern ermittelte das Institut die Zahl von 6,4 Prozent für Frauen und 1,3 Prozent für Männer.
Die vergleichsweise niedrigen Missbrauchszahlen im kirchlichen Bereich werden auch durch die Entschädigungspraxis bestätigt. Seit März 2011 konnten Geschädigte Anträge auf Geld- oder Therapie-Zahlungen bei den Bistümern stellen. In den drei hessischen Diözesen Fulda, Limburg und Mainz wurde an 61 Opfer von Missbrauchshandlungen von der Kirche „in Anerkennung des Leids“ eine Art Schmerzensgeld zwischen 1.000 und 13.000 Euro gezahlt. Diese Zahl der Missbrauchsopfer aus allen hessischen Pfarreien, kirchlichen Vereinen, Schulen und sonstigen Einrichtungen war demnach nur halb so hoch wie die an einer einzigen öffentlichen Schule: An der Odenwald-Internatsschule zählt man 132 Schulkindern als Vergewaltigungsopfer vom Schuldirektor Becker und sieben weiteren Lehrpersonen.
Priester und Zölibat unter Generalverdacht
Neben dieser Verzerrung und Manipulation zu den quantitativen Dimensionen des gesellschaftlichen Missbrauchsskandals hatten die Medien gleichzeitig auch eine inhaltliche Kampagne zur Rufschädigung der Kirche angefahren. Die aufgebauschten Missbrauchsfälle und –zahlen wurden wie seit 150 Jahren vielfach mit dem Zölibat in strukturelle Beziehung gebracht. Dutzende Presse-Kommentatoren frönten der Boulevard-Psychologie, dass die durch den Zölibat „unterdrückte natürliche Sexualität“ sich ein Ventil suche müsse. Auf dem Höhepunkt des anti-kirchlichen Skandalisierungsprozesses hatten sogar seriöse Presseorgane keine Bedenken mehr, pauschale Verleumdungen wie die von Oswalt Kolle zu präsentieren, mit denen alle Priester unter den Generalverdacht von potenziellen Missbrauchstäter gestellt wurden: „So wie die Priester Pfarrer geworden sind, damit sie leichter an Kinder herankommen können mit ihrem priesterlichen Gehabe. Ich sag’ immer: Die Soutane ist deshalb so groß, weil sich darunter so leicht Zwölfjährige verbergen lassen“ (Frankfurter Neue Presse vom 9. 3. 2010, inzwischen gelöscht). Das Pariser Schmutz-Satireblatt „Charlie Hebdo“ stellte auf einer Titelseite Papst Benedikt XVI. als Kinderschänder dar. Die Zeichnung wurde mit den Worten unterlegt: „Mal was anderes als immer diese Messdiener“.
In den vergangenen 15 Jahren wurde in Deutschland gegen etwa 150 Priester wegen Missbrauchs ermittelt – das ist ein Promille der Tatverdächtigen in diesem Bereich. Für Prof. Pfeiffer sind diese Zahlen und weitere Studien ein Beleg dafür, dass die Gruppe der zölibatären Priester signifikant weniger häufig in Missbrauchsverhalten verwickelt ist als andere Männer der entsprechenden Altersgruppe. Noch deutlicher ergibt sich diese kirchen-entlastende Tendenz aus den Forschungen des Kriminologen Hans-Ludwig Kröber – wie Pfeiffer ein unverdächtiger Fachmann bei nicht-katholischer Konfession. Demnach sind die Missbrauchszahlen bei katholischen Geistlichen 36 Mal niedriger als beim männlichen Durchschnitt der Bevölkerung.
Die Medien schaden der gesellschaftlichen Missbrauchsprävention
Die katholische Kirche war und ist Opfer der verzerrten Mediendarstellung. Ebenso fatal wie die Rufschädigung der Kirche war aber auch der gesellschaftliche Schaden der einseitigen Medienberichterstattung. Dazu Prof. Kröber: „Das Ärgerliche an der Debatte ist unter kriminologischem und Kinderschutz-Aspekt, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Bereich gelenkt wird, aus dem den Kindern in Wahrheit am wenigsten Gefahr droht.“ Oder anders gesagt: Mit der Fokussierung auf den kirchlichen Bereich signalisierten die Medien den 99 Prozent der nicht-kirchlichen Missbrauchstätern in anderen Bereichen, dass sie relativ ungestört weitermachen könnten und wenig an medial-öffentlicher Aufdeckung befürchten müssten. Der von den Medien inszenierte Missbrauchsskandal zu Lasten der Kirche war eigentlich ein Medienskandal zum Nachteil der großen Masse der Missbrauchsopfer.
Selbstkritische Reflexion ist Sache der großen Medienhäuser offenbar nicht. Obwohl in den letzten fünf Jahren in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen Missbräuche aufgedeckt wurden (Odenwaldschule, DDR-Heime etc.), reproduziert eine neuere ARD-Dokumentation den alten Tunnelblick allein auf die katholische Kirche. Schon der Titel „Das Schweigen der Männer“ deutet die Tendenz an, der Kirche etwas anheften zu wollen. Doch dazu später eine genauere Medienanalyse.
Bild: Trashget/Wikicommons/tomschrat