
(Venedig) Was drängt eine Familie im Jahr 1965, den eigenen Sohn im Alter von zwölf Jahren ins Ausland zu schicken, allein, um in einem fremden Land zu leben und zu studieren, fern von allem und allen, die ihm vertraut sind? Die Frage läßt sich nicht mit ein, zwei Sätzen beantworten, denn sie schließt die Tragödie eines ganzen Volkes mit ein, des armenischen Volkes. Es ist die Geschichte von Baykar Sivazliyan (Bild).
Geboren wurde Baykar Sivazliyan in Istanbul, wenige Jahre, nachdem die türkische Regierung das alte Konstantinopel so umbenannt hatte. Die Eltern schickten den Sohn bereits als Kind nach Venedig. Heute ist er Vorsitzender der Vereinigung der Armenier in Italien. Am vergangenen 12. April stand er auf dem Petersplatz, als Papst Franziskus die Vernichtung von anderthalb Millionen Armeniern vor hundert Jahren als „Völkermord“ bezeichnete und damit die Türkei in Rage versetzte.
„Nach 100 Jahren war das ein sehr wichtiger Schritt. Die Worte von Papst Franziskus sind eine würdige Bestattung unserer Märtyrer, die vielfach kein Grab gefunden haben“, so Baykar Sivazliyan in einem Interview mit der katholischen Wochenzeitung Tempi. „Die Türkei versteift sich, eine historische Wahrheit zu leugnen und schadet damit heute den jungen türkischen Generationen weit mehr als den Armeniern.“
Sie nannten mich „Gavur“, Ungläubiger – Auf den Mauern stand: „Bürger, sprich türkisch“
Sie wurden 1953 in der Türkei geboren, die Sie 1965 verlassen. Warum?
Baykar Sivazliyan: Sie müssen sich vorstellen, wie das Leben damals war, als meine Eltern beschlossen haben, mich so jung nach Venedig zu schicken, nur damit ich in einem freien Land leben und unter Christen und geordneten und demokratischen Verhältnissen aufwachsen konnte.
Haben Sie eine schlechte Erinnerung an Ihre Kindheit?
Baykar Sivazliyan: Niemand hat auf mich geschossen oder versucht, mir die Kehle durchzuschneiden, doch das Klima, das damals herrschte, war alles andere als ideal. Ich hatte keine sorglose Kindheit.
Ein Beispiel?
Baykar Sivazliyan: Ich bin damit aufgewachsen, daß mich die anderen Kinder, einschließlich meiner Spielkameraden „Gavur“ nannten, „Ungläubiger“. In der Öffentlichkeit war es uns strikt verboten, armenisch zu sprechen. Ich sprach eine Sprache, die ich nur im Verborgenen gebrauchen durfte. In der ganzen Stadt war auf den Mauern zu lesen: „Bürger, sprich türkisch“. Der türkische Nationalismus war sehr stark. Und dann war da noch der Personalausweis…
Wir waren vom Staat stigmatisiert
Was meinen Sie?

Baykar Sivazliyan: Ich erinnere mich noch heute mit Horror, daß auf der zweiten Seite meines Personalausweises in großen Buchstaben geschrieben stand: Armenier. Das war kein Bekenntnis von uns, sondern ein Stigma, das der Staat uns aufdrückte. Wir waren gekennzeichnet. Das war Ausdruck der vorherrschenden Armenierfeindlichkeit. Auch in der Schule konnte ich nicht mit den anderen Kindern sein. Wir mußten unsere eigenen besuchen. Es ist ein Unterschied, ob eine Gemeinschaft etwas will, oder es ihr vom Staat zum Zweck der Segregation aufgezwungen wird.
Erst in Italien haben Sie vom Völkermord an den Armeniern erfahren?
Baykar Sivazliyan: Ja. Zu Hause wurde über bestimmte Dinge nicht gesprochen. Ich war natürlich noch sehr jung und die Eltern wollten mich wohl schützen. Ich spürte aber, daß bei einem bestimmten Moment immer ein abruptes Schweigen einsetzte. Das galt vor allem für meine Großeltern. Es gibt Menschen, die über ihr erlittenes Leid frei und offen erzählen konnten und damit auch ihr Leid öffentlich beklagen konnten. Und es gibt solche, die das nicht dürfen. Wir Armenier in der Türkei gehörten zu Letzteren.
Als ich das erste Mal aus Venedig nach Hause zurückkam und meine Großmutter merkte, daß ich alles wußte, begann sie unter Tränen die Geschichte unserer Familie zu erzählen.
13 von meiner Familie haben überlebt, 48 kamen ums Leben
Was haben Sie entdeckt?
Baykar Sivazliyan: Eine Tragödie. Mein Urgroßvater war ein Offizier der osmanischen Armee. Er wurde in seiner Uniform des Osmanischen Reiches ermordet. Das spielte für die Täter keine Rolle. Während der ersten Phase des Völkermords wurden 400.000 Armenier, die in der Armee Dienst taten, in ihren Kasernen massakriert. Man hatte sie gewissermaßen zur Hand, fast eine gesamte Generation junger Männer. Es war das erste Mal in der Geschichte, daß ein Staat die systematische Vernichtung einer bestimmten Ethnie unter den eigenen Staatsbürger plante und exekutierte. Und meine Familie wurde davon hart getroffen, wie viele andere Familien. Es gibt wohl keine armenische Familie, die nicht direkt von diesem Genozid betroffen ist.
Was ist Ihrer Familie geschehen?
Baykar Sivazliyan: Vor mir liegen zwei Photographien. Die erste wurde 1926 in Konstantinopel aufgenommen. Auf diesem Familienphoto der Verwandtschaft meiner Mutter sollten 36 Personen zu sehen sein. Es sind aber nur zehn Personen, einschließlich meiner Mutter abgebildet. Die anderen waren alle ermordet worden. Das andere Photo zeigt die Verwandtschaft väterlicherseits. Es sind nur mein Großvater, meine Großmutter und mein noch ganz junger Vater zu sehen. Sie haben nur zu dritt überlebt, dabei waren sie 25 gewesen. Ich denke, damit habe ich alles gesagt.
Mit jeder Leugnung des Völkermords wird unser Volk noch einmal getötet
100 Jahre danach: Was stört Sie am meisten daran?
Baykar Sivazliyan: Zwei Dinge: Die Türkei gibt sich als großes Land, hat aber nicht die Zivilcourage, seine jüngere Geschichte anzuerkennen.
Und das Zweite?
Baykar Sivazliyan: Der verbreitete Negationismus, die Leugnung des Völkermordes, die unser Volk immer neu ein weiteres Mal tötet. Die westlichen Staaten sollten das Schweigen Ankaras nicht unterstützen. Im Gegenteil: Politiker und Religionsführer sollten der Türkei dabei helfen, ihre Leichen im Keller auszugraben.
Würde die Wahrheit den Armeniern dabei helfen, dieses Jahrhundert zu verarbeiten?
Baykar Sivazliyan: Die Wahrheit würde vor allem der Türkei helfen. Vor einem Monat habe ich an einer Tagung über den Völkermord in Venedig teilgenommen. Am Ende kam eine Studentin mit Tränen in den Augen auf mich zu und sagte zu mir: „Ich bin Türkin und wollte Ihnen nur sagen, daß wir aufzuwachen beginnen“. Dann hat sie geweint. Ich war sehr berührt und habe sie in die Arme genommen und ihr gesagt, daß es nicht ihre Schuld ist. Ich habe es ihr auf türkisch gesagt.
Leugnung ist eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz
Belastet die Erinnerung nicht den Dialog?
Baykar Sivazliyan: Im Gegenteil. Auf diese Weise hilft man den Türken, mit ihrer eigenen Geschichte ins Reine zu kommen. Schweigen und Leugnen lösen nichts. Man muß den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Der Dialog wird dann die Frucht dieser Ehrlichkeit sein, auch die Vergebung, denn kein Armenier haßt die Türken heute. Das eine ist vom anderen zu unterscheiden.
Ist es nicht eine Beleidigung, wenn die Türkei den Völkermord leugnet?
Baykar Sivazliyan: Ja, das ist es. Es ist aber auch eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz. Die UNESCO sagt, daß 2.600 Kirchen zerstört wurden. Allein daraus ergibt sich, daß es Millionen Menschen gab, die diese Kirchen aufsuchten, um zu beten. Da die Türken keine Kirchen betreten, wer soll also dort hingegangen sein? Jemand wird es ja gewesen sein. Wo sind sie geblieben? Man kann das Verschwinden von anderthalb Millionen Menschen nicht leugnen. Das ist nicht eine Frage der Vergebung, sondern der Gerechtigkeit.
100 Jahre hat die Türkei eine falsche Parallelgeschichte erzählt
Warum denken Sie, leugnet die Türkei noch immer den Völkermord? Was fehlt, damit sie den Schritt setzt, den Deutschland gegenüber den Juden gesetzt hat?
Baykar Sivazliyan: Die Türkei krankt an ihrem Nationalismus unter welchen Vorzeichen auch immer. Erdogan will den Völkermord nicht anerkennen, weil ein Türke kein schlechter Mensch sein kann, erst recht nicht ein Mörder, um so weniger kann also, nach dieser Logik, der türkische Staat ein Mörder sein. 100 Jahre lang haben sie eine falsche Parallelgeschichte erzählt.
Nun sagen sie aber, die Archive öffnen zu wollen.
Baykar Sivazliyan: Archive? Nachdem ich die Augen meiner Großmutter gesehen habe: Was brauche ich da Archive? Seit zehn Jahren drucken wir als Vereinigung der Armenier in Italien alle diplomatischen Akten des italienischen Außenamtes, die mit dem Völkermord an den Armeniern zu tun haben. Dazu gehören vor allem die Berichte des damaligen italienischen Generalkonsuls von Trapezunt, der für die Armenier ein Gerechter ist. In diesen Berichten ist alles genau verzeichnet und geschildert. Wenn Erdogan von Archiven spricht, dann nur, um uns zu demütigen und das ärgert uns sehr.
Es bleibt die christliche Hoffnung – Nach 400 Jahren wieder erste Heiligsprechung
Wie werden Sie dieses Hundertjahrgedenken erleben?
Baykar Sivazliyan: Es ist mit Sicherheit ein Moment großer Traurigkeit, denn hundert Jahre nach diesem Greuel können wir mit der Türkei noch immer nicht darüber sprechen. Jeder Armenier denkt in diesen Tagen auch an seine Familienangehörigen. Jede armenische Familie beklagt mindestens drei oder vier Tote. Ich muß aber auch sagen, daß die Traurigkeit etwas gelindert wird, wenn ich die vielen Stimmen ehrlicher Türken höre, vor allem von jungen Menschen und Intellektuellen, die heute ohne Angst sagen, daß der Zeitpunkt gekommen ist, den Völkermord anzuerkennen. Und es sind viele, die inzwischen so denken.
Sie haben also nach 100 Jahren der Leugnung noch Hoffnung?
Baykar Sivazliyan: Ja, es ist eine christliche Hoffnung. Armenier sein heißt Christ sein. Denken Sie daran: Am Abend des 23. April wird die Armenisch-Apostolische Kirche, die seit 400 Jahren keine Heiligsprechungen mehr vorgenommen hat, diese anderthalb Millionen Märtyrer des Völkermordes zu Heiligen erklären. Viele von ihnen hätten sich retten können, wenn sie es akzeptiert hätten, sich islamisieren zu lassen. Wir haben unsern Glauben an unseren Erlöser Jesus Christus immer mit Freude und Innigkeit gelebt, auch wenn wir die Entscheidung, im Jahr 301 der erste christliche Staat der Welt zu werden, teuer bezahlt haben. Nun, man stelle sich das vor, wird jeder in seiner Familie einen oder mehr Heilige haben. Das erfüllt uns mit großer Freude und ist Labsal für unser Herz und unsere Seele.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi
Man sollte sich hüten, die Darstellung der türkischen seite zu übersehen. zur zeit geht es doch überhaupt nicht um irgendwelche Opfer, sondern darum, den erfolgreichen Präsidenten Erdogan zu diskriminieren. Vergessen wir auch nicht, dass die Türkei nicht nur aus Anhängern des Islam besteht.