
Können barbarische Mittel einer Kriegführung die Wertung eines anfänglich ‚gerechtfertigten Krieges’ in sein Gegenteil verkehren?
Ein Gastbeitrag von Hubert Hecker
In Paderborn war die 1.200jährige Geschichte von Kaiser, Reich und Kirche in Stein, Schrift und Bild präsent. Am 27. März 1945 starb die Kulturstadt den Feuertod – abgefackelt von 276 britischen Bombern.
Die Jesuitenkirche wurde bis auf die Hauptmauer zerstört. Die Franziskanerkirche und das Jesuitenkolleg brannten aus. Der Dom erhielt einen Bombenvolltreffer. Alle Dächer und Turmhelme verbrannten wie auch die Bücher der erzbischöflichen Akademie.
In dem Scheiterhaufen der ehemaligen Stadt Karls des Großen verbrannten 330 Zivilisten, davon im Altersheim ‚Westphalenhof’ 21 Insassen und sieben Ordensschwestern.
Churchills Heimzahlung für Coventry – und noch eine Draufgabe
Angeblich musste die Stadt an den Paderquellen dem Brand geopfert werden, weil sich hier die letzte offene Stelle vom Ruhrkessel der US-Truppen befand. Doch in Wahrheit lagen solche bodenstrategische Überlegungen dem britischen ‚Bomber Command’ eher fern.
Im Frühstadium des Bombenkriegs rechtfertigte Winston Churchill, der verantwortliche Premierminister der britischen Kriegsregierung, die Flächenbombardierung von Wohnstädten mit folgender Begründung:
Deutschland hätte mit der Bombardierung von Rotterdam und Warschau, Coventry und London eine barbarische Kriegsführung mit abscheulichen Kriegsverbrechen an den Tag gelegt. „Wir werden es den Deutschen mit gleicher Münze und noch einer Draufgabe heimzahlen“, pflegte Churchill zu sagen. Das belegt der englische Schriftsteller A. C. Grayling.
Mit diesem Muster einer Rache-Argumentation, die aufgezeigten Kriegsverbrechen der Faschisten zu wiederholen und sogar noch zu übertreffen, schoss der britische Premier freilich ein moralisches Eigentor. Gleichwohl schlachtete die englische Presse das Rache-Motiv in maßloser Eskalation weiter aus: „Hamburg bekam das Äquivalent von mindestens 60 ‘Coventrys’ zu spüren, Köln 17, Düsseldorf 12, Essen 10.“
Die Rechtfertigung der britischen Städtebombardierung nach dem jus talionis – Auge um Auge, Zahn um Zahn – ist auch in Deutschland noch gelegentlich zu hören, insbesondere aus linken Kreisen:
Weil die nationalsozialistische Kriegsführung Coventry und London bombardiert hätte, deshalb wäre die gleichartige Zerstörung von Hamburg, Dresden und 160 weiteren deutschen Städten gerechtfertigt, erklären sie.
Gegen die Instrumentalisierung der Zivilopfer zu Rachezwecken
Einwohner von Coventry – 150 Kilometer nordwestlich von London – und anderer zerbombten englischen Städte wehrten sich in Leserbriefen gegen die mörderische Instrumentalisierung ihrer Leiden zu Rachezwecken:
„Nach dem gnadenlosen Bombenangriff auf unsere Stadt Hull, bei dem Zivilpersonen die Hauptleidtragenden waren, verurteilen wir gleichermaßen solche Methoden der barbarischen Kriegführung von unserer Seite gegen deutsche Städte und Zivilisten.“
Churchill und sein Luftkriegs-Marschall Artur Harris ließen sich aber durch Volkes Stimme nicht von ihrem Bombenpfad abbringen und führten die Massentötungen durch den Verbrennungskrieg fort.
Den Sadismus Hitlers übertreffen

Eine andere Rechtfertigung Churchills in den ersten Kriegsjahren bestand in dem bedingungslosen Kampf gegen die NS-Diktatur, die er als Kräfte der „Finsternis und des dunklen Zeitalters“ brandmarkte. Deswegen seien alle Terrormittel seiner Bombergeschwader gerechtfertigt. Als seine Ziele stellte er heraus, die „christliche Kultur“ zu verteidigen: „Wir kämpfen für den Erhalt der Zivilisation, der Feind nicht“.
Doch wie kann ein Staatsmann die Zivilisationsethik für sich beanspruchen, wenn er gleichzeitig Befehle gibt, in einem Nachbarland die Stätten und Denkmäler einer tausendjährigen (christlichen) Zivilisation und Kultur auszulöschen?
Verräterisch war auch, dass Churchill sich in Rache-Argumentationen mehrfach auf die faschistischen Mittel eines Vernichtungskrieges bezog: Ein Leitartikler der englischen Zeitung ‘Sunday Express’ zeigte die Zuspitzung von Churchills Rache-Philosophie, wenn er den Deutschen einen „Bombenterror mit einer Wucht“ versprach, „die selbst Hitler in seinen sadistischsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte“.
Damit hatte sich der britische Premier moralisch selbst diskreditiert, wenn er den Kampf für die lichte Zivilisation mit den Terrormitteln der dunklen Kräfte der Finsternis führen wollte. Letztlich sprach er ein Urteil über sein moralisches Versagen in der Kriegsführung selbst aus:
Kurz vor Beginn seiner Regierungszeit betonte er in einer Rede, die britische Regierung werde niemals dem Beispiel der Nationalsozialisten folgen und die „neue, abscheuliche Form des Bombenangriffs“ auf Städte und Zivilisten übernehmen.
Zwei Jahre später gab der Premierminister seinem Luftwaffenchef Artur Harris freie Hand, die Zivilbevölkerung deutscher Städte gezielt mit Terror zu überziehen und zu töten.
Kampf gegen das deutsche Volk

Im Verlauf des britischen Bombenkriegs änderten sich die Begründungen und Ziele mehrfach. Schon Ende 1943 verkündete der britische Informationsminister Brendan Bracken: Wir beabsichtigen, „das deutsche Volk, das für diesen Krieg verantwortlich ist, in jeder möglichen Weise zu bombardieren, in Flammen aufgehen zu lassen und erbarmungslos zu vernichten.“
Vor dieser Endlösungsphantasie verblasste das anfängliche Argument, die Städtebombardierung würde die Durchhaltemoral der Deutschen brechen wollen und damit den Krieg verkürzen.
Bemerkenswert ist auch, dass sich mit der britischen Strategieänderung auf Flächenbombardements ab 1942 im Laufe des Krieges die Definition des Kriegsgegners änderte: Nicht mehr die „finstere“ Nazi-Führung, die Kriegsindustrie und die deutschen Militärs sollten als Feinde bekämpft werden wie zu Kriegsanfang, sondern das deutsche Volk mit damals 80 Millionen Menschen sei „verantwortlich für diesen Krieg“ und damit der Kriegsgegner.
Diese Beobachtung würde auch erklären, warum die Alliierten in den letzten vier Kriegsmonaten, als der Kriegausgang längst entschieden war, mit ihrer militärisch sinnlosen, aber tötungseffizienten Städtebombardierung fortfuhren.
Für die Einschätzung des deutschen Volkes als Kriegsgegner spricht ebenfalls, dass auch in amerikanischen Besatzungsdokumenten diese Ansicht durchscheint. Die Direktive JCS 1067 vom April 1945 legte die Grundzüge der amerikanischen Besatzungspolitik nach dem Kriege fest. Darin heißt es unter Punkt 4), dass „die Deutschen“ mit ihrer „rücksichtslosen Kriegsführung“ nicht der „Verantwortung für das entgehen, was sie selbst auf sich geladen“ hätten. Das Dokument fährt fort: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung (von den Nazis), sondern als ein besiegter Feindstaat. (…) Die Verbrüderung mit deutschen Beamten und der Bevölkerung muss streng unterbunden werden.“
Städtebombardierung als Akte des Terrors und der mutwilligen Zerstörung

Erst am Ende des Krieges hatte der britische Premierminister Winston Churchill einen lichten moralischen Moment. In seinem Memorandum vom 28. März 1945 bezeichnete er die sinnlosen Angriffe seiner eigenen Luftstreitkräfte als Terrorismus:
„Ich halte es für notwendig, dass wir uns stärker auf militärische Ziele konzentrieren wie etwa Treibstoffwerke und Nachschublinien hinter der Front, statt auf bloße Akte des Terrors und der mutwilligen Zerstörung, wie eindrucksvoll diese auch sein mögen. Die Zerstörung Dresdens wirft ernste Zweifel an der alliierten Bombenkriegsführung auf.“
In dieser Aussage steckte die Einsicht, dass die Städtebombardierungen weniger eine militärische Zieloperation war, sondern Terrorakte und mutwillige Zerstörungshandlungen – also Kriegsverbrechen.
Nach Protesten seiner Militärs zog Churchill das Memorandum wieder zurück. Aber die Anklage blieb im Raum stehen.
War Churchills Krieg und Kriegsführung gerechtfertigt?
Kann ein Krieg gerechtfertigt oder gar christlich genannt werden, dessen Kriegsführung den Sadismus Adolf Hitlers übertreffen wollte?
Thomas von Aquin lehrte, dass ein Krieg unter drei Bedingungen gerechtfertigt ist: ein gerechter Kriegsgrund, die rechtmäßige Hoheitsgewalt der Kriegführenden und die rechte Absicht, „das Gute zu befördern und das Böse zu verhüten“. Zu dem erweiterten Bedingungen des ‚bellum justum’ gehören auch die angemessenen Formen der Kriegsführung.
Dazu stellen sich die konkreten Fragen: Stehen die Mittel der Kriegführung im Verhältnis zu den angestrebten Zielen? Können barbarische Mittel einer Kriegführung die Wertung eines gerechten Krieges umkehren?
Großbritannien verhinderte vor dem Krieg ein Abkommen zur Ächtung von Städtebombardierungen

Der Philosoph Immanuel Kant (+1804) hielt an dem Grundsatz fest, dass beim Streben nach einem moralischen Gut niemals unmoralische Handlungen begangen werden dürfen, selbst wenn diese das eigene Überleben sichern oder den Sieg über einen gefährlichen Feind bedeuten.
Bei den Genfer Verhandlungen über Rüstungs- und Kriegsbeschränkungen in den Jahren 1932 bis 1934 vertrat schon die Mehrheit der Ländervertretungen die Überzeugung, dass Luftbombardements auf Zivilbevölkerung ausdrücklich als Kriegsverbrechen zu ächten wären.
Großbritannien verhinderte damals mit einem Veto ein internationales Abkommen aus dem durchsichtigen Grund, seine Bomber gegen Aufstände in den Kolonien einsetzen zu können.
Die Sieger- und Bomber-Staaten Großbritannien und USA dominierten auch nach dem 2. Weltkrieg die Kriegsschutzverhandelungen, so dass keine explizite Regelung gegen Städtebombardierung zustande kam.
Erst 1977 wurde in einem Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen die Flächenbombardierung von Wohnstädten und Angriffe auf einzelne oder Gruppen von Zivilpersonen als Kriegsverbrechen geächtet.
Dieses Dokument bedeutet eine rückwirkende moralische Verurteilung der gezielten Bombenangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung durch Churchills Bomberflotte.
Churchill schob seine Verantwortung für die befohlenen Kriegsverbrechen ab

Der zu Anfang in seinen Gründen und Zielen ‘gerechte Krieg’ von Seiten Englands gegen Hitlers Angriffskrieg verkehrte sich durch den Masseneinsatz von Bombenterror gegen die deutsche Zivilbevölkerung zu einem ungerechten Krieg.
Damit würde sich das Urteil ergeben: Churchill und die britische Regierung hätten seit 1942 durch ihre verbrecherische Kriegsführung einen Unrechtskrieg geführt.
Die Verantwortung für dieses moralische Versagen als Staatsmann, das er in seinem Memorandum am Kriegsende offensichtlich gespürt hatte, übernahm Churchill nach dem Krieg nicht.
Bei seiner Radio-Siegesansprache am 13. Mai erwähnte Churchill den Beitrag der Bomberflotte zum Sieg mit keinem Wort. Sein Luftwaffenmarschall Artur Harris durfte seinen Abschlußbericht nicht veröffentlichen. Ihm wurde die Beförderung ins Oberhaus versperrt. Die Besatzungen der Bomber bekamen, anders als die übrigen Militärgattungen, keine Kriegs-Erinnerungsmedaillen. Erst 1992 erhielt Bomber-Harris auf Betreiben der queen mother eine Statue in London.
Mit der Ausbootung seines Luftmarschalls bei den Siegesfeiern schob der britische Premier alle Kritik und Verantwortung für den Bombenkrieg auf Artur Harris ab. Diese feige Verantwortungsabschiebung auf einen nachgeordneten Befehlshaber mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass Churchill bei den ersten Nachkriegswahlen abgewählt wurde.
Karlspreis für einen Politiker, der sich selbst einmal ‚Bestie’ nannte

Auch in seinen Memoiren verharmloste Churchill seine Rolle als Befehlsgeber für die Vernichtungsbombardements mit mehr als einer halbe Million Zivilopfern. Stattdessen kramte er die Propagandamuster der Kriegszeit wieder hervor. Wieder stilisierte er sich – diesmal auf hohem literarischen Niveau – zum Anwalt der Zivilisation gegen die Kräfte der Finsternis.
Dafür erhielt Churchill im Jahre 1953 den Literatur-Nobelpreis. Das Auszeichnungs-Komitee vergab den Preis für seine „Meisterschaft der Redekunst“, was nachvollziehbar ist. Allerdings war die weitere moralische Begründung, dass er „als Verteidiger von höchsten menschlichen Werten“ hervorgetreten sei, ein Hohn auf diese Werte angesichts seiner Verantwortung für offensichtliche Kriegsverbrechen.
Empfänglich für Propaganda waren anscheinend auch die Repräsentanten der Stadt Aachen. Sie kürten Churchill zum siebten Empfänger des Karlspreises für Verdienste um Europa. Der am Christi-Himmelfahrtsfest 1956 Geehrte hatte mit den von ihm befohlenen Flächenbombardements einhunderteinundsechzig deutsche Städte zertrümmern lassen. Dabei gingen 600.000 getötete Zivilisten sowie Brand und Zerstörung unersetzlicher Kulturgüter auf sein Konto. War das ein konstruktiver Beitrag für die Werte Europas?
Ein Heldendenkmal für Kriegsverbrecher?

Erst Ende der 70er Jahre reflektierten britische Autoren die moralische Ambivalenz des „moral bombing“. Max Hastings resümierte in seinem Buch „Bomber Command“: „Die Auslöschung deutschen Städte noch im Frühjahr 1945 ist ein bleibender Schandfleck“ für Großbritannien. Einige Jahre später pflichtete ihm der Autor John Grigg in seinem Buch bei: Die Ausradierung deutscher Städte durch Flächenbombardements „war ebenso nutzlos wie bestialisch“. 2006 publizierte A. C. Grayling das Buch: „Die toten Städte“, auf das sich meine Berichte und Wertungen stützen. Sein Urteil: „Das Vorgehen der Alliierten in Deutschland verstößt eindeutig gegen alle humanitäre Grundsätze“ – so im Klappentext des Buches. Bei ihrem Staatsbesuch in Deutschland 2004 sprach die Queen immerhin „vom entsetzlichen Leid des Krieges auf beiden Seiten“.
Umso befremdlicher war im Sommer 2012 die Einweihung eines riesigen Helden-Denkmals für die umgekommenen britischen Bomberpiloten, das jegliche Ambivalenz vermissen lässt: Kein Hinweis auf das Leid der Opfer mildert den dargestellten Heroismus zu einem erbarmungslos asymmetrischen Krieg, keine Andeutung des Bedauerns oder Einladung zum Nachdenken. Der eingemeißelte Satz: „… allein die Bomber liefern uns das Instrument zum Sieg“ ist eine Verfälschung der historischen Wahrheit ins Gegenteil. Das Denkmal scheint ein letztes Aufbäumen der absterbenden Kriegsgeneration zu sein gegen die Wertung eines Krieges, der eben durch die kriegsverbrecherischen Städtebombardierungen zu einem unmoralischen und ungerechten Krieg für Großbritannien wurde.
Weiterführende Literatur: Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 2002; A.C. Grayling: Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? deutsch 2007; Gerechter Krieg (Wikipedia); Denkmal für britische Bomberpiloten in London, Die Welt, 28. 6. 2012
Text: Hubert Hecker
Bild: Wikicommons und angegeben Literatur