(Paris) Französische Medien sprachen etwas übertrieben von einer „Jahrhundertflut“. Allerdings läßt sich das Auftreten des Phänomens im Laufe eines Jahrhunderts an einer Hand abzählen. Das kurze Video im Zeitraffer soll eine Gelegenheit sein, auf den einzigartigen Klosterberg Mont Saint Michel vor der Küste der Normandie hinzuweisen.
Die Entstehung der Klosterinsel reicht 1500 Jahre zurück. Im 6. Jahrhundert ließen sich die ersten Einsiedler auf der Gezeiteninsel im Wattenmeer nieder. Im Jahr 708 war dem fränkischen Bischof Autbert von Avranches, der die Einsamkeit der Insel gerne aufsuchte, im Traum der Erzengel Michael erschienen, der ihm auftrug, auf der Insel eine Kirche zu bauen. Doch der Bischof tat die Erscheinung zunächst als Einbildung ab. Erst als der Erzengel ihm ein zweites und drittes Mal erschien und schließlich seinen Finger in den Schädel des Heiligen bohrte, verstand dieser.
Von Monte Sant’Angelo nach Mont Saint Michel
Im Herbst 709 wurde sie geweiht. Autbert nahm Kontakt zu einem damals besonders bekannten Erzengel Michael-Heiligtum im Süden Italiens auf. Der Gargano, der Sporn der italischen Halbinsel, gehörte zu jener Zeit zum langobardischen Herzogtum Benevent. Die Langobarden verehrten besonders den Erzengel Michael, in dem sie einen mächtigen Heerführer und Gotteskrieger erkannten.
Aus Monte Sant’Angelo am Gargano konnte Autbert Reliquien nach Mont Saint Michel bringen und dort ein Kloster gründen. Autbert wird in der Katholischen Kirche als Heiliger verehrt. Sein Gedenktag ist der 10. September. Seine sterblichen Überreste wurden am Mont Saint Michel aufbewahrt und verehrt. Sein durchbohrter Schädel in seiner Bischofsstadt Avranches. Die Reliquien von Mont Saint Michel gingen in der Französischen Revolution verloren. Die Revolutionäre raubten und zerstreuten systematisch Reliquien, um das Gedächtnis der Kirche und die sichtbare Verbindung zwischen materieller und immaterieller Welt zu treffen.
Benediktinische Gottesburg
Die von Autbert eingesetzte Klostergemeinschaft wurde, nachdem 933 das Gebiet von den Normannen erobert wurde, durch Benediktinermönche abgelöst. Sie begannen mit herzoglicher Unterstützung mit dem Bau der heutigen Abtei, die einer Gottesfestung ähnelt. Am Fuß des Berges entstand ein Dorf. Der Eindruck der Gottesburg wird durch die markante Lage, etwa einen Kilometer von der Küste entfernt, bei Flut 92 Meter aus dem Wasser ragend noch verstärkt.
Mehr als 800 Jahre sangen die Benediktiner die heilige Liturgie auf dem Berg des Erzengels, der Ströme von Pilgern anzog. Im Spätmittelalter wurden aus Deutschland große Kinderwallfahrten zum Heiligtum des Erzengels durchgeführt. Die Bedeutung der Erzengel-Michael-Verehrung für die germanischen Völker wurde noch in der Gründung des Ritterordens des Heiligen Michaels durch König Ludwig XI. sichtbar. Sitz dieses Michaelsordens wurde die Abtei Saint Michel, der Ritterorden wurde 1830 aufgehoben, war aber faktisch bereits mit der Französischen Revolution untergegangen.
Zerstörungswut der Revolution
In der Französischen Revolution wurden die Benediktiner vertrieben und Kloster und Berg zu Staatseigentum erklärt. Die Jakobiner fanden eine neue Nutzung für die heiligen Hallen und wandelten den Klosterberg in ein Gefängnis um. Die Umbenennung von Mont Saint Michel in Mont Libre war dem Zynismus der Revolutionäre geschuldet. Der Gesang der Mönche wurde durch das Geschrei der gequälten Gefangenen ersetzt, wie eine Chronik berichtet. Etwa 18.000, hauptsächlich katholische „Regimegegner“, darunter vor allem Kleriker, wurden auf der Insel gefangengehalten.
Im 19. Jahrhundert bemühten sich kulturverständige Persönlichkeiten, darunter der Schriftsteller Victor Hugo, den heiligen Berg der Normandie als Kulturerbe Frankreichs zu erhalten. Insel und Kloster blieben zwar in Staatsbesitz, wurden aber zu einem Nationaldenkmal.
Nationaldenkmal und Rückkehr der Mönche
Erst 1966 wurde die Rückkehr von Benediktinern auf die Insel möglich. Eigentümer ist nach wie vor der Staat. Er überließ den Mönchen jedoch einen kleinen Teil der einstigen Abtei. Wegen des Berufungsmangels konnte sie sich nicht lange halten. 2001 traten die beneditinisch geprägten Fraternités monastiques de Jérusalem ihre Nachfolge an. Die an die Spiritualität von Charles de Foucauld angelehnte Gemeinschaft hat unter anderen Niederlassungen in Straßburg, Brüssel und seit 2009 in Groß St. Martin in Köln. Die 1975 gegründete Gemeinschaft wurde 1996 von Erzbischof Kardinal Lustiger von Paris als Institut diözesanen Rechts anerkannt.
Vom Gargano aus entstand ein Netz von Erzengel-Michael-Heiligtümern, die Teil einer christlichen Topographie Europas sind. Eine Linie, die vom Monte Sant’Angelo über die Sacra di San Michele am Eingang der Alpen an den langobardischen Klausen westlich von Turin bis Mont Saint Michel in der Normandie reicht. Rundherum gruppieren sich weitere Orte, die zum Teil von den genannten abhängen, wie Saint Michael’s Mount am äußersten Westende Cornwalls.
Die cornwallisische Tochter von Mont Saint Michel
Eduard der Bekenner, der vorletzte angelsächsische König Englands vor der normannischen Eroberung, schenkte die damals zu Wessex gehörende Gezeiteninsel den Benediktinern von Mont Saint’Michel, die dort ein Kloster errichteten und die Verehrung des Erzengels Michael förderten. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Inseln an den gegenüberliegenden Ufern des Ärmelkanals ist verblüffend. Eduards Mutter war Normannin.
Unklar ist, ob die Michaelsverehrung erst mit den Mönchen aus der Normandie auf die cornwallisische Insel kam oder bereits von den Mönchen gepflegt wurde, die nachweislich seit dem 8. Jahrhundert dort ein erstes Kloster errichtet hatten. Im 16. Jahrhundert wurden mit der Abspaltung der Kirche von England von Rom die Benediktiner vertrieben, das Kloster aufgehoben und weitgehend abgebrochen. Die Insel wurde zunächst zur Festung umgebaut und befindet sich seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der Barone von Saint Aubyn, heute Saint Levan, die bis 1999 erblichen Sitz im britischen Oberhaus hatten.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
Meines Wissens ist diese Tradition, Heiligtümer auf Bergen dem Heiligen Michael zu weihen, eine durchgehende Praxis gewesen, um zuvor schon bestehende heidnische Bergheiligtümer neu zu besetzen und neu zu deuten und letztendlich abzulösen mit der Christianisierung.
Die Kelten hatten offenbar viele solcher Bergheiligtümer. Und sie alle erhielten eine Überformung durch den Heiligen Michael, den Schutzheiligen der Deutschen, den Drachentöter, der das Land gewissermaßen abschirmte gegen die Geister der Vergangenheit.
In Baden-Württemberg begegnet einem das auf Schritt und Tritt. Oft auch versteckt. Zum Beispiel ist der berühmte „Heiligenberg“ bei Heidelberg in Wahrheit ein „St. Michaelsberg“. Und auch dort oben finden sich heute noch die Rest eines gleichnamigen Klosters (und eines zweiten, eines St. Stefansklosters), das im 11. Jh über einem Merkurheiligtum gebaut worden war.… Oder bei Untergrombach zwischen Karlsruhe und Bruchsal ist eine berühmte Wallfahrtskirche St. Michael oben auf dem „Michaelsberg“. An diese Tradition knüpfen selbst moderne Kirchenbauten an: die St. Michaelskirche am Mummelsee zu Füßen der Hornisgrinde im Schwarzwald. Man könnte endlos fortfahren und würde auf ungezählte St. Michaelsberge, ‑klöster, ‑kirchen auf Anhöhen stoßen.
In aller Regel aber exisiert wenigstens eine heidnische Legende über den Ort.