(Rom) Heute vor zwei Jahren wurde Jorge Mario Kardinal Bergoglio zum Papst gewählt und nannte sich Franziskus. Zwei Jahre später spricht ein Teil der Katholischen Kirche von einem „wunderbaren Geschenk“, ein anderer Teil hingegen von einer „Strafe“ Gottes. Wenige Stunden nachdem sich Papst Franziskus auf dem Petersplatz dem Volk gezeigt hatte, veröffentlichte der katholische Historiker und Intellektuelle Roberto de Mattei am 14. März 2013 einen ersten kurzen Aufsatz zum beginnenden Pontifikat. Es lohnt diese Zeilen auf Distanz von zwei Jahren nachzulesen. Welche Erwartungen wurden gehegt? Was ist daraus geworden?
Die Bezüge sind von Bedeutung, um die Kirchengeschichte, besonders die deutsche besser zu verstehen, ebenso die derzeitige Situation und ihre Krise. 1522/1523 tagte in Nürnberg der Reichstag. Das ganze Reich war durch die Glaubensspaltung in Unruhe. Papst Hadrian VI., vor Benedikt XVI. der letzte deutsche Papst, und daher mit den Verhältnissen im Reich sehr gut vertraut, ließ durch seinen Gesandten eine Botschaft verlesen.
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Wird Papst Franziskus den Ursachen der Krise entgegentreten? Das Beispiel Hadrians VI.
von Roberto de Mattei*
Die Kirche hat einen neuen Papst: Jorge Mario Bergoglio. Der erste nicht-europäische Papst, der erste lateinamerikanische Papst, der erste namens Franziskus. Die Massenmedien versuchen über seine Vergangenheit als Kardinal, als Erzbischof von Buenos Aires und als einfacher Priester zu erraten, was die Zukunft der Kirche unter seinem Pontifikat sein wird. Der Träger welcher Revolution wird er sein? Hans Küng bezeichnet ihn als die „bestmögliche Wahl“ (La Repubblica, 14.3.2013) Aber erst nach der Ernennung seiner Mitarbeiter und nach seinen ersten programmatischen Reden wird man die Ausrichtung des Pontifikats von Papst Franziskus abschätzen können. Für jeden Papst gilt, was 1458 Kardinal Enea Silvia Piccolomini im Augenblick seiner Erwählung zum Papst mit dem Namen Pius II. sagte: „Vergeßt Enea, hört auf Pius“.
Die Geschichte wiederholt sich nie genau gleich, die Vergangenheit hilft aber, die Gegenwart zu verstehen. Im 16. Jahrhundert durchlebte die katholische Kirche eine nie dagewesen Krise. Der Humanismus mit seinem unmoralischen Hedonismus hatte die römische Kurie und selbst die Päpste angesteckt. Gegen diese Korruption war die protestantische Pseudoreform von Martin Luther entstanden, die von Papst Leo X. aus der Familie der Medici als ein „Zank unter Mönchen“ abgetan wurde. Die Häresie war gerade dabei sich auszubreiten, als nach dem Tod Leos X. 1522 unerwartet ein deutscher Papst, Adrian von Utrecht, gewählt wurde, der sich den Namen Hadrian VI. gab. Die Kürze seines Pontifikats verhinderte es, daß er seine Projekte zu Ende führen konnte. Im besonderen gelte das, wie der bekannte Papsthistoriker Ludwig von Pastor schreibt, für den gigantischen Krieg gegen die Vielzahl von Mißbräuchen, die die römische Kurie wie fast die gesamte Kirche entstellten. Selbst wenn sein Pontifikat länger gedauert hätte, war das Übel in der Kirche zu sehr verwurzelt, bemerkt von Pastor, als daß ein einziges Pontifikat jene große notwendige Veränderung bewirken hätte können. Das ganze Übel, das seit mehreren Generationen begangen wurde, konnte nur durch eine lange kontinuierliche Arbeit überwunden werden.
Ausmaß des Übels erkennen und die Verantwortung, die Kirchenvertreter dafür trugen
Hadrian VI. erkannte das Ausmaß des Übels und die Verantwortung, die Männer der Kirche dafür trugen. Das geht eindeutig aus der Instructio hervor, die der apostolische Nuntius Francesco Chieregati im Namen des Papstes am 3. Januar 1523 auf dem Nürnberger Reichstag verlas. Ludwig von Pastor unterstreicht die außerordentliche Bedeutung dieses Dokuments, nicht nur um die Vorstellungen des Papstes zur Erneuerung der Kirche kennenzulernen, sondern weil es sich um einen Text handelt, wie es ihn in der Kirchengeschichte zuvor noch nie gegeben hatte.
Nachdem er darin zunächst die lutherische Häresie verwirft, behandelt er im letzten und bedeutenderen Teil der Instruktion das Versagen der höchsten kirchlichen Autorität vor den Umstürzlern.
Wir bekennen offen, daß Gott diese Verfolgung seiner Kirche geschehen läßt wegen der Sünden der Menschen und besonders der Priester und Prälaten. Feststeht, daß sich die Hand Gottes nicht zurückgezogen hat, weil Er uns nicht retten kann, sondern weil uns die Sünde von ihm trennt und Er deshalb uns nicht erhört. Die Heilige Schrift lehrt eindeutig, daß die Sünden des Volkes in den Sünden der Geistlichkeit ihren Ursprung haben und deshalb, wie der hl. Chrysostomus darlegt, unser Heiland, als er die kranke Stadt Jerusalem reinigen wollte, zuerst in den Tempel ging, um an erster Stelle die Sünden der Priester zu bestrafen, wie ein guter Arzt, der die Krankheit an der Wurzel heilt. Wir haben nie die päpstliche Würde angestrebt und hätten viel lieber unsere Augen in der Stille des Privatlebens geschlossen: Gerne hätten wir auf die Tiara verzichtet, und nur aus Gottesfurcht, der Rechtmäßigkeit der Wahl und der Gefahr eines Schismas haben uns veranlaßt, das Amt des höchsten Hirten anzunehmen, das wir weder aus Ehrgeiz ausüben wollen, noch um unsere Angehörigen zu bereichern, sondern einzig um der Heiligen Kirche, der Braut Gottes ihre ursprüngliche Schönheit zurückzugeben, um den Unterdrückten zu helfen, um weise und fähige Männer zu fördern, um überhaupt alles zu tun; was einem guten Hirten und wahren Nachfolger Petri geziemt. Jedoch soll sich niemand wundern, wenn wir nicht mit einem Schlag alle Mißbräuche beseitigen, denn die Krankheit ist tief verwurzelt und sehr verzweigt. Man wird daher einen Schritt nach dem anderen setzen und zuerst den schweren, gefährlichsten Übeln durch richtige Arznei begegnen, um nicht durch übereilte Reform alles noch mehr zu verwirren. Denn, wie Aristoteles sagt, jede plötzliche Veränderung ist für ein Gemeinwesen gefährlich.
Ursprung der Kirchenkrise in doktrinellen und moralen Mängeln der Kirchenvertreter
Die Worte Hadrians VI. helfen uns zu verstehen, wie die heutige Krise der Kirche ihren Ursprung in doktrinellen und moralischen Mängeln der Männer der Kirche im halben Jahrhundert seit dem 2. Vatikanischen Konzil haben kann. Die Kirche ist unfehlbar. Aber ihre Glieder, auch die hohen kirchlichen Autoritäten können Fehler machen und müssen bereit sein, ihre Schuld auch öffentlich einzugestehen. Wir wissen, daß Hadrian VI. den Mut hatte, diese kritische Überprüfung der Vergangenheit anzugehen. Wie wird der neue Papst dem Prozeß der doktrinellen und moralischen Selbstzerstörung der Kirche entgegentreten und welche Haltung wird er gegenüber einer modernen Welt einnehmen, die von einem tiefen antichristlichen durchdrungen ist? Nur die Zukunft wird auf diese Fragen Antwort geben, aber sicher ist, daß die Ursachen für die Dunkelheit unserer gegenwärtigen Zeit in unserer jüngsten Vergangenheit liegen.
Die Geschichte sagt uns auch, daß auf Hadrian VI. mit dem Namen Clemens VII. (1523–1534) Giulio de Medici folgte. Unter seinem Pontifikat geschah am 6. Mai 1527 der schreckliche Sacco di Roma durch die lutherischen Landsknechte Kaiser Karls V. Die Zerstörungen und Sakrilege, die damals begangen wurden, und die jene des Jahres 410 übertrafen, lassen sich kaum beschreiben. Mit besonderer Brutalität wurde gegen Kirchenleute vorgegangen: Ordensfrauen vergewaltigt, Priester und Mönche ermordet oder als Sklaven verkauft, Kirchen, Paläste und Häuser zerstört, Reliquien zerstreut und weggeschafft. Auf das Gemetzel folgten in schneller Abfolge Hunger und Pest. Die Bewohner wurden dezimiert.
Das katholische Volk interpretierte das Ereignis als verdiente Strafe für die eigenen Sünden. Erst nach der schrecklichen Plünderung begann sich das Leben grundlegend zu verändern. Das Klima des moralischen und religiösen Relativismus löste sich auf und in der allgemeinen Not machte sich in der Heiligen Stadt ein ernstes, schlichtes und reuevolles Klima breit. Diese neue Atmosphäre machte die große religiöse Wiederbelebung der katholischen Gegenreformation des 16. Jahrhunderts möglich.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Schriftleiter der Monatszeitschrift Radici Cristiane und der Online-Nachrichtenagentur Corrispondenza Romana, von 2003 bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Forschungsrats von Italien, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: Vicario di Cristo. Il primato di Pietro tra normalità ed eccezione (Stellvertreter Christi. Der Primat des Petrus zwischen Normalität und Ausnahme), Verona 2013; in deutscher Übersetzung zuletzt: Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: vatican.va (Screenshot)