Ein Interview (in Auszügen) mit Msgr. Livio Melina, Leiter des Päpstliches Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie, das von der Wochenzeitschrift Tempi veröffentlicht wurde. Das Interview führte Bendetta Frigerio.
Msgr. Melina ist Rektor einer der wichtigsten „Denkfabriken“ des Vatikans. Das 1981 unter Papst Johannes Paul II. gegründete Institut hat seinen Hauptsitz in Rom und elf Zweitniederlassungen weltweit. Die Vorgänger Melinas waren der jetzige Erzbischof von Bologna, Carlo Kardinal Caffarra, einer der mutigsten Bischöfe in einer traditionell tiefroten Stadt, der eine für Oberhirten ungewohnt klare Sprache spricht, und der amtierende Erzbischof von Mailand, Angelo Kardinal Scola, der im Konklave 2013 der zahlenmäßige Gegenspieler von Papst Franziskus war und in den ersten Wahlgänge sogar führte.
Msgr. Melina hat neben seiner Tätigkeit als Institutsleiter, Gastprofessuren für Moraltheologie in Washington D.C. und Melbourne, und ist wissenschaftlicher Leiter der Zeitschrift Anthropotes sowie Consultor mehrerer Einrichtungen der Römischen Kurie darunter des Päpstlichen Familienrats und der Päpstlichen Akademie für Theologie. Er ist zudem Mitarbeiter der theologischen Zeitschriften Révue Théologique des Bernardins und Communio und korrespondierendes Mitglied der Académie d’Education et d’Etudes Sociales von Paris.
Laut dem Erzbischof von Mailand, Kardinal Angelo Scola ist der aktuelle historische Kontext durch eine „penetrante Erotik“ geprägt. Eine Folge der sogenannten „sexuellen Revolution“?
Melina: Die sexuelle Revolution läßt sich als eine Reihe von Brüchen des natürlichen und kulturellen Kontextes definieren, dessen Erfahrung der menschlichen Liebe in der katholischen Tradition erlebt wurde. Sie bedeutete den Bruch des Nexus zwischen Sexualität und Ehe (durch die außereheliche Sexualität); den Bruch des Nexus zwischen Sexualität und Zeugung (durch Verhütung und künstliche Befruchtung); denn Bruch des Nexus zwischen Sexualität und Liebe (durch eine „fließende“ Sexualität). Auf diese Weise wurde die Sexualität zu einer allgegenwärtigen Tretmine, die in die gesamte Aktuelle Existenz eindringt und sich ihr aufzwingt. Don Giussani [1]Gründer der geistlichen Gemeinschaft Comunione e Liberazione, CL erzählte: Um die christliche Mentalität des Volkes in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zerstören, hatten die Kommunisten begonnen, die Pornographie zu verbreiten, indem sie den Mann in seinem schwächsten Punkt erpreßten. In den 60er Jahren war es Marcuse, der auf dasselbe Phänomen der Instrumentalisierung des Eros in der fortgeschrittenen Konsumgesellschaft hinwies, die „einen eindimensionalen Menschen“ will.
Auf dem Christentum lastet ein starkes puritanisches Vorurteil. Das Christentum wird mit der Moral gleichgesetzt, die Moral mit einem System von Verboten, und man denkt, daß diese Verbote vor allem den sexuellen Bereich betreffen, so daß am Ende einer langen Reihe falscher Gleichsetzungen das Christentum mit sexueller Repression gleichgesetzt wird. Papst Benedikt XVI. machte in seiner Enzyklika Deus caritas est darauf aufmerksam, daß auf dem Christentum die Anklage Nietzsches lastet, die schönste und attraktivste Erfahrung des Lebens vergiftet zu haben. Daher rührt in jüngerer Zeit eine Art von Schuldkomplexen der Kleriker, die durch die beklagenswerten Pädophilieskandale in jüngster Zeit noch verstärkt wurden. So wird zu diesem Thema nicht nur von außen die Kirche gedrängt, zu diesen Themen zu schweigen. Auch in der Kirche sind nicht wenige der Meinung, es sei besser, zu schweigen, um die Evangelisierung nicht zu behindern. Auf diese Weise wird das kulturell großartigste, erzieherisch entscheidendste Thema der weltlichen Mentalität überlassen, die auch in das Denken der Gläubigen eindringt. Wenn die Gläubigen über diese Dinge sprechen, bringen sie heute in der Regel keinen theologisch relevanten sensus fidelium zum Ausdruck, sondern wiederholen das Denken der Welt, von dem aber wir alle uns abkehren sollten, um der Wahrheit Christi zu folgen, die allein uns befreit. Jesus führte keine Meinungsumfragen und Erhebungen durch, bevor er die Feindesliebe, die Unauflöslichkeit der Ehe, die Eucharistie oder das Kreuz lehrte. Er wußte ganz genau, wie seine Jünger dachten. Er sagte vielmehr: „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67).
Was steht also heute auf dem Spiel?
Melina: Man sollte über die Worte von Benedikt XVI. in einer seiner letzten Ansprachen nachdenken, jener vom 21. Dezember 2012 mit den Weihnachtswünschen an die Römische Kurie. Er sagte, daß in den Veränderungen und Deformationen, die die Familie unter dem Vorwand angeblicher sogenannter „neuer Rechte“ durch Neudefinition der Ehe, Abschaffung von Vaterschaft und Mutterschaft bedrohen, nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die menschliche Identität selbst. Ohne die grundlegenden Beziehungen, die uns Identität verleihen – Kind, Vater, Mutter, Ehemann, Ehefrau, Bruder und Schwester – ist der Mensch nur ein zerbrechliches, durch die jeweils Mächtigen manipulierbares Individuum. Die Frage ist auch theologisch begründet: Auf dem Spiel steht die ursprüngliche Sprache des Menschen, deren sich Gott in der Offenbarung bediente, um zu uns zu sprechen. Welche Worte werden uns bleiben, um über Gott zu sprechen, ohne den Wortschatz dieser familiären Beziehungen?
Wie viele Antworten auf den vorbereitenden Fragebogen zur Bischofssynode über die Familie zeigen, herrscht unter den Gläubigen zu Moral und Menschenbild große Verwirrung. Eine durch das mediale, technisch immer penetrantere Bombardement verschärfte Verwirrung.
Melina: Die Moral hat heute einen schlechten Ruf in der Gesellschaft und auch in der Kirche selbst. Der gängige Diskurs meint geradezu selbstverständlich „Moralismus“. Nicht ohne Grund: Wenn man die Moral nur als eine Reihe von Verboten denkt, die die Freiheit einschränken oder sogar das Gewissen biegen wollen, dann scheint eine instinktive Abneigung eine berechtigte Reaktion zu sein. Bedeutet Moral aber wirklich das? Andererseits, wenn man nicht imstande ist, zwischen Moralismus und wirklicher moralischer Erfahrung zu unterscheiden, verfällt man der Willkür des Subjektivismus, der Unterordnung unter das, was Statistiken über die vorherrschende Meinung behaupten, oder einen neuen, viel bedrückenderen Legalismus von Regeln („In öffentlichen Parkanlagen Rauchen verboten“, „Grünanlagen Betreten verboten“ „nicht dick werden“, „keine Tierprodukte essen“). Ein Regelwerk, das immer einschränkender werden kann. Am Ursprung dieser negativen Reputation der Moral steht der Bruch zwischen der Person und ihrer Handlungen. Unsere Handlungen, wie Karol Wojtyla in Person und Tat schreibt, sind Ausdruck unserer Person, aber gleichzeitig konstruieren sie auch unser Ich, sie sind gewissermaßen auch unsere Eltern laut der suggestiven Beobachtung des heiligen Gregor von Nyssa: Indem wir handeln, provozieren wir nicht nur eine Veränderung der äußeren Welt, sondern werden auch das, was wir tun, in dem wir vor allem uns selbst mit unseren Entscheidungen verändern. Wer stiehlt, wird zum Dieb und wer lügt, wird zum Lügner. Wir sind kein abstraktes Subjekt, das unabhängig von unserem Handeln existiert: Wir sind ein Ich in Aktion, das aus freien Stücken die ursprüngliche Gabe seines Seins durch seine Handlungen in den Beziehungen mit den anderen und in einem kulturellen Kontext, zu dessen Ausprägung wir beitragen, verwirklicht. Aus diesem Grund haben unsere Handlungen immer eine moralische Dimension.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
-
↑1 | Gründer der geistlichen Gemeinschaft Comunione e Liberazione, CL |
---|
Schade, dass dieser Kleriker nur über die Moral spricht und was da alles schief gelaufen ist…
Der entscheidende Punkt für die Debatte ist und bleibt nicht das rigide Verhängen einer göttlichen Regel, die die Menschen nicht verstehen oder eben – und er gibt damit ein altes Problem ja zu – als bloßen „Moralismus“ oder gar Sexualfeindlichkeit verstehen können (sie können es wirklich nicht besser!).
Wahrscheinlich hat man in der Kirche immer wieder verkannt, dass das Naturrecht die Unauflöslichkeit der Ehe nicht kennt!
Es ist im Christentum ein absolutes Novum und DAS ZEICHEN der Gemeinschaft, deren Gott den Menschen mit sich selbst würdigen will: die Ehe.
Unverlierbar, für immer, an Seiner Seite, als Teilhaber an ihm ganz und gar.
Für diese Tatsache steht die Gottesmutter, die bereits in diesem Rang lebte und webt und in seliger Anschauung UND Teilhabe bei Gott lebt und mit Gott regiert (als „Gekrönte“).
Aber weder wurde dieses Bild als Maxime für das Verhältnis der Geschlechter von vielen erfasst, noch wurde diese Glaubenshoffnung je von vielen ergriffen – auch nicht von Klerikern.
Man kann die Unauflöslichkeit der Eehe jedoch nicht verordnen – das war zwar einmal so, führte aber nur zu heimlicher Mätresenwirtschaft, Hurerei und zu einem beharren darin, die Mutterschaft und das Kind abzuwerten. Es waren auch in früheren Zeiten nur wenige, die sich hier wirklich leiten ließen. Machen wir uns doch nichts vor.
Allerdings wurde trotz allem dieses geistliche Verständnis doch – gerade auch durch die Tatsache gelungenen zölibatären Lebens als das „größere“ Zukunftsbild für die natürliche Ehe – häufiger gelebt und erfasst als heute.
In einer gewissen Weise ist das Sakrament der Ehe als etwas, was lebenslang und real, leiblich, seelisch, geistig durchgehalten werden muss, vor aller Augen sichtbar und ein Ausweis des inneren Zustandes das, was zuletzt den Offenbarungseid der Kirche leisten wird.
Leider hat der Mann da oben im Artikel nicht viel zu sagen, jedenfalls nichts Geistliches. Es bleibt alles eben auf der – moralistischen und bürgerlich-konservativen Ebene ohne jeden belebenden Geist.
Schade.